Hallenser und Weimaraner
Buch | Wustmann (1903): Allerhand Sprachdummheiten. Kleine deutsche Grammatik des Zweifelhaften, des Falschen und des Häßlichen |
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Seitenzahlen | 84 - 86 |
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Unsicherheit |
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In diesem Kapitel behandelte Zweifelsfälle
Behandelter Zweifelfall: | |
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Genannte Bezugsinstanzen: | Sprachgelehrsamkeit, 18. Jahrhundert, 16. Jahrhundert, Fachsprache (Geschichtswissenschaft), Gegenwärtig, 19. Jahrhundert, Alt, Neu, Gesprochene Sprache, Schiller - Friedrich, Schriftsprache, Sachsen, Zeitungssprache, Volk |
Text |
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Daß wir Deutschen bei unsrer großen Gelehrsamkeit und Gewissenhaftigkeit die Bewohner fremder Länder und Städte mit einer wahren Musterkarte von Namenbildungen versehen, ist zwar sehr komisch, aber doch erträglich. Sprechen wir also in Zukunft getrost von Amerikanern, Mexikanern, Neapolitanern, Parmesanern und Venezolanern, Byzantinern, Florentinern und Tarentinern, Chinesen und Japanesen, Piemontesen, Albanesen, Genuesern, Bolognesern und Veronesern, Bethlehemiten und Sybariten (denen sich als neuste Errungenschaft die Sansibariten angereiht haben), Samaritern und Moskowitern, Asiaten und Ravennaten, Candioten und Hydrioten, Franzosen, Portugiesen, Provenzalen, Savoyarden usw. Daß wir aber an deutsche (!) Städtenamen noch immer lateinische Endungen hängen, ist doch ein Zopf, der endlich einmal abgeschnitten werden $Seite 85$ sollte. Die Athenienser und Carthaginienser sind wir aus den Geschichtsbüchern glücklich los,//* Die Kretenser freilich haben 1896 wieder in allen Zeitungen gewütet, obwohl Schiller schon vor hundert Jahren geschrieben hat: Die Kreter hat der Sturm zerstreuet.// aber die Hallenser, die Jenenser und die Badenser, die Hannoveraner und die Weimaraner wollen nicht weichen, auch die Anhaltiner spuken noch gelegentlich, und neuerdings hat man sogar von Casselanern gehört! Und doch ist nicht einzusehen, weshalb man nicht ebenso gut soll Jenaer sagen können wie Gothaer, Geraer und Altonaer,//** Freilich sind Formen wie Jenaer und Geraer auch nicht besonders schön, so wenig wie die in Sachsen in der Schriftsprache beliebten Adjektivbildungen auf aisch: Grimmaisch, Tauchaisch, Bornaisch, Pirnaisch. In diesen Bildungen ist eine deutsche Endung an eine ganz unvolkstümliche, künstlich gemachte lateinische Endung gehängt. Der Volksmund kennt noch heutigestags nur die Städte Grimme, Tauche, Borne, Pirne und so auch nur die Adjektivbildungen Grimmisch, Tauchisch, Bornisch, Pirnisch, und es wäre zu wünschen, daß sich die amtliche Schreibung dem wieder anschlösse. So gut wie sich zu irgend einer Zeit das Falsche amtlich hat einführen lassen, ließe sich doch auch das Richtige amtlich wieder einführen. Man pflegt jetzt eifrig die „Volkskunde,“ sucht überall die Reste volkstümlicher alter Sitten und Gebräuche zu retten und zu erhalten. Gehört dazu nicht vor allem die Sprache des Volks?// ebenso gut Badner wie Münchner, Posner und Dresdner, ebenso gut Haller wie Celler, Stader und Klever, ebenso gut Hannoverer und Weimarer wie Trierer, Speierer und Colmarer. Freilich erstreckt sich die häßliche Sprachmengerei in unsrer Wortbildung nicht bloß auf geographische Namen, sie ist überhaupt in unsrer Sprache weit verbreitet; man denke nur an Bildungen wie buchstabieren, halbieren, hausieren, grundieren, schattieren, glasieren (im 16. Fahrhundert sprach man noch von geglästen Ziegeln und Kacheln), amtieren, Hornist, Lagerist, Probist, Kursist, Wagnerianer, Börsianer, Goethiana, Beethoveniana, Lieferant, Stellage, Futteral, Stiefeletten, Glasur, schauderös, blumistisch, superklug, hypergeistreich, antideutsch usw. Manches davon stammt aus sehr $Seite 86$ früher Zeit und wird wohl nie wieder zu beseitigen sein; vieles aber ließe sich doch leicht vermeiden, und vor allem sollte es nicht vermehrt werden durch solchen Unsinn, wie daß ein Fabrikant zwei Hobler und einen Bohristen sucht; warum nicht lieber gleich auch zwei Hoblisten? Eine eigne Bewandtnis hat es mit der Aussprache luthérisch (vom lateinischen Lutherus gebildet). Das Bestreben, sie ganz zu beseitigen und überall dafür lútherisch zu sagen, scheint auf den ersten Blick sehr berechtigt. Sagt doch auch niemand schillérisch. Man hat aber doch neuerdings darauf aufmerksam gemacht, daß zwischen beiden Betonungen ein Unterschied sei: lútherisch bezeichne etwas Persönliches, man könne also wohl von der lútherischen Bibelübersetzung, dem lútherischen Katechismus, den lútherischen Predigten reden, auch von den Lútherischen, wenn man Luthers Partei aus seiner Zeit meint; luthérisch dagegen bezeichne etwas Unpersönliches, Wissenschaftlich-Theologisches, und es habe daher seine gute sprach- und kultur- geschichtliche Berechtigung, von der evangelisch-luthérischen Landeskirche zu reden. Wie viele freilich imstande sein werden, diese Unterscheidung nachzufühlen? |
Zweifelsfall | |
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Beispiel | |
Bezugsinstanz | Sprachgelehrsamkeit, 16. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, alt, Fachsprache (Geschichtswissenschaft), gegenwärtig, neu, Sachsen, Schiller - Friedrich, 18. Jahrhundert, Schriftsprache, Volk, Zeitungssprache, gesprochene Sprache |
Bewertung |
sehr komisch, aber doch erträglich, ein Zopf, der endlich einmal abgeschnitten werden sollte, nicht besonders schön, ganz unvolkstümlich, künstlich gemacht, häßliche Sprachmengerei, solcher Unsinn, sehr berechtigt |
Intertextueller Bezug |