Das Partizipium. Die stattgefundene Versammlung
Buch | Wustmann (1903): Allerhand Sprachdummheiten. Kleine deutsche Grammatik des Zweifelhaften, des Falschen und des Häßlichen |
---|---|
Seitenzahlen | 162 - 166 |
Nur für eingeloggte User:
Unsicherheit |
---|
In diesem Kapitel behandelte Zweifelsfälle
Behandelter Zweifelfall: | |
---|---|
Genannte Bezugsinstanzen: | 18. Jahrhundert, Leipzig, Sprache des Buchhandels, Gegenwärtig, 19. Jahrhundert, Alt, Behördensprache, Mitteldeutsch, Sprachverlauf, Norddeutsch, Schriftsprache, Süddeutsch, Zeitungssprache, Schulsprache, Sprache der Kunst |
Text |
---|
Partizipia hat unsre Sprache nur zwei: ein aktives in der Gegenwart (ein beißender Hund, d. i. ein Hund, der beißt), und ein passives in der Vergangenheit (ein gebissener Hund, d. i. ein Hund, der gebissen worden ist).//* Außerdem die partizipähnlichen passiven Formen: zu hoffend, zu fürchtend, anzuerkennend, die durch Anhängen eines unorganischen d aus dem Infinitiv mit zu entstanden sind.// Für die Gegenwart fehlt es an einem passiven, für die Vergangenheit an einem aktiven Partizipium; weder ein Hund, der gebissen wird, noch ein Hund, der gebissen hat, kann durch ein Partizip ausgedrückt werden.//** Nur in einzelnen Fällen kann das passive Partizip die Gegenwart bedeuten, z. B. das von mir bewohnte Haus (d. i. das Haus, das von mir beiwohnt wird). Eine Anzeige also, wie die folgende: die von dem verstorbnen Rentier Sch. bewohnte Wohnung ist zu Ostern anderweit zu vermieten — kann einem fast gruselig machen; hier muß es heißen: die bewohnt gewesene.// Nur wirkliche Passiva von transitiven $Seite 163$ Zeitwörtern und im Aktiv solche Intransitiva, die sich zur Bildung der Vergangenheit des Hilfszeitworts sein bedienen (gehen, laufen, sterben), können ein Partizip der Vergangenheit bilden (gegangen, gelaufen, gestorben). Diese Schranke hat aber nicht immer bestanden. In der ältern Zeit ist das Partizipium der Gegenwart auch im passiven Sinne gebraucht worden. Noch im achtzehnten und zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts sagte man ganz unbedenklich: zu einer vorhabenden Reise, zu seinem vorhabenden neuen Bau, sein vor dem Tore besitzendes Haus, das gegen mich tragende Vertrauen, laut der in Händen habenden Urkunde, die Briefe des sich von meiner unterhabenden Kompagnie selbst entleibten (!) Unteroffiziers, er nahm dem Erschlagnen die bei sich tragenden Pretiosen ab, wir konnten uns nur mit Mühe den bedürfenden Bissen Brot verschaffen. Aber diese Erscheinung ist doch nach und nach durch den Unterricht beseitigt worden. Höchst selten kommt es vor, daß man in einer Zeitung noch heute einen Satz liest, wie: er hatte nichts eiligeres zu tun, als ihm eine in der Hand haltende Flasche an den Kopf zu werfen. Verkehrt aber wäre es, die fahrende Habe mit unter diese Ausdrücke zu rechnen, denn hier hat das Partizip wirklich aktiven Sinn, wie bei dem fahrenden Volke: der Fuhrmann führt die Habe, die Habe aber wird geführt, oder sie fährt (vgl. S. 55). Andrerseits hat man nach dem Beispiel der intransitiven Partizipia schon frühzeitig angefangen, auch passive Partizipia von transitiven Zeitwörtern aktivisch zu verwenden. Einzelne Beispiele davon haben sich so in der Sprache eingebürgert, daß sie gar nicht mehr als falsch empfunden werden; man braucht nur an Verbindungen zu denken, wie: ein geschworner Bote, ein abgesagter Feind, ein gedienter Soldat, ein gelernter Kellner, ein studierter Mann, ein erfahrner Arzt, ein verdienter Schulmann. Alle diese Partizipia haben aktive Bedeutung, auch der abgesagte Feind, der natürlich ein Feind ist, der einer Person oder einer Sache ab- $Seite 164$ gesagt, ihr gleichsam die Absage geschickt hat; aber sie werden kaum noch als Partizipia gefühlt, man fühlt und behandelt sie wie Adjektiva. Auch Verneinungen solcher Partizipia sind gebildet worden, wie ungepredigt, ungefrühstückt: er mußte ungepredigt wieder von der Kanzel gehen. Aber auch diese Verirrung ist doch im Laufe der Zeit durch den Unterricht, namentlich durch Vergleichung mit den fremden Sprachen, beseitigt worden, und heute erscheint es uns unerträglich, zu sagen: der vormals zu diesem Hause gehörte Garten, die zwischen den Parteien gewaltete Uneinigkeit, die der Fürstin bisher zugestandnen Rechte (soll heißen: die ihr bisher zugestanden haben), durch Dekoration leicht gelittene Artikel, eine im vorigen Jahrhundert obgeschwebte Rechtssache//* Zur Verzierung von Leipziger Wäschschränken wurde eine Zeit lang mit Vorliebe der Spruch gestickt: Geblüht im Sommerwinde, Gebleicht auf grüner Au, Ruht still es nun im Spinde Zum Stolz der deutschen Frau. Gebleicht ist richtig; aber daß das geblüht den Stolz der deutschen Frau nicht verletzte, war zu verwundern.// und nun vollends in Verbindung mit einem Objekt: die den Fürstensohn befallne Krankheit, das den Lokomotivführer betroffne Unglück, eine inzwischen Gesetzeskraft erlangte Übereinkunft, die im vorigen Jahre eingerichtete und sehr günstige Aufnahme gefundne Auskunftsstelle, trotz ihres hohen, nun schon ein Jahrhundert überschrittnen Alters. Vor allem unerträglich aber erscheinen uns die stattgehabte und die stattgefundne Versammlung. Je häufiger die beiden Zeitwörter statthaben und stattfinden — namentlich das zweite — ohnehin in unsrer Amts- und Zeitungssprache verwandt werden, je lebendiger man sie also als Zeitwörter und zwar als aktive, mit einem Objekt verbundne Zeitwörter (Statt finden, d. h. Platz finden) fühlt, desto widerwärtiger sind für jeden Menschen, der sich noch etwas Sprachgefühl bewahrt hat, diese fortwährenden stattgefundnen Versammlungen, Beratungen, Verhand- $Seite 165$ lungen, Abstimmungen, Wahlen, Prüfungen, Untersuchungen, Audienzen, Feuersbrünste usw.//* In Bibliotheksbekanntmachungen liest man gelegentlich sogar von demnächst stattzufindenden Revisionen, und in Kunstausstellungsprogrammen von einer aus sechs Mitgliedern zu bestehenden Jury!// Sie sind aber doch so kurz und bequem, soll man denn immer Nebensätze bilden? Nein, das soll man nicht; aber man soll ein wenig nachdenken, sich in dem Reichtum unsrer Sprache umsehen und schreiben: die veranstaltete Feier, die abgehaltne Versammlung, die vorgenommne Abstimmung, die angestellte Untersuchung, die bewilligte Audienz, die ausgebrochne Feuersbrunft usw., oder man soll, was in tausend und aber tausend Fällen das gescheiteste ist, das müßige Partizipium ganz weglassen. Die stattgefundne Untersuchung ergab — kann denn auch eine Untersuchung etwas ergeben, die nicht stattgefunden hat? In R. ereignete sich kürzlich bei einer stattgehabten Feuersbrunst das Unglück — kann sich denn auch ein Unglück ereignen bei einer Feuersbrunst, die nicht stattgehabt hat? Über den stattgefundnen Wechsel im Ministerium sind unsre Leser bereits unterrichtet — können die Leser auch unterrichtet sein über einen Wechsel, der nicht stattgefunden hat? Nicht viel besser als die stattgefundnen Versammlungen sind aber auch der bei einem Meister in Arbeit gestandne Geselle und der seit langer Zeit hier bestandne Saatmarkt, das früher bestandne Hindernis und das lange bestandne freundschaftliche Verhältnis. Freilich sagt man in Süddeutschland: er ist gestanden und er ist bestanden//** Und auch in Mittel- und Norddeutschland spricht man von gestandnem Wasser (im Gegensatz zu frischem.//; aber in der Schriftsprache empfindet man das doch als Provinzialismus. Es gibt aber sogar „Schulräte," die nicht bloß von bestandnen Prüfungen, sondern auch von bestandnen Kandidaten reden! Dann darf man sich freilich nicht mehr über die Zeitungschreiber und die Kanzlisten wundern.//*** Vor einiger Zeit hatte ich an mehrere hundert Personen eine Zuschrift abzufassen, auf die ebenso viel hundert teils ablehnende, teils $Fußnote auf nächster Seite fortgeführt$ zustimmende Antworten eingingen. Ich beauftragte einen Schreiber mit der Durchsicht und Ordnung der eingelaufnen Antworten. Als er fertig war, legte er mir zwei Mappen vor, und auf der einen stand: abgelehnte Schreiben, auf der andern: angenommne Schreiben. Ich fragte ihn, was das heißen solle? Nun, das hier, sagte er, sind die Schreiben, die angenommen haben, und das hier die, die abgelehnt haben.// |
Zweifelsfall | |
---|---|
Beispiel |
ungefrühstückt, ungepredigt |
Bezugsinstanz | alt, Behördensprache, Zeitungssprache, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Sprache des Buchhandels, gegenwärtig, Sprachverlauf, Sprache der Kunst, Leipzig, mitteldeutsch, norddeutsch, Schriftsprache, Schulsprache, süddeutsch |
Bewertung |
bequem, das das den Stolz der deutschen Frau nicht verletzte, war zu verwundern, das gescheiteste, Frequenz/höchst selten, gar nicht mehr als falsch empfunden, kann einem fast gruselig machen, kurz, muß es heißen, müßige, nicht, Nicht viel besser, Provinzialismus, richtig, unbedenklich, unerträglich, Verirrung, widerwärtiger |
Intertextueller Bezug |