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D
Das Zeitwort, besonders das zielende, übt auf die Form jedes mit ihm in unmittelbarer Beziehung stehenden Haupt-, Bei- und Fürwortes einen bestimmenden Einfluß. ''Regieren'' nennt man dies Verhältnis gewöhnlich; wir werden es mit guten echtdeutschen Wörtern benennen, obwohl Regieren als Lehnwort, ein wenig schönes, gelten kann, und werden auch in diesem Falle von der ganz deutschen Sprache nicht in Verlegenheit gelassen werden. Die gewöhnlichste Beziehung zwischen zielendem Zeitwort und abhängigem anderm Wort ist kurz bezeichnet die von ''mir'' und ''mich''. Der gebildete, aber selbst der halbgebildete Sprachgebrauch ist in diesem Punkte sehr sicher; grobe Fehler kommen kaum noch vor, und es handelt sich im Leben, also auch in diesem Buche, nur um eine Reihe von Zeitwörtern mit schwankender, daher zweifelhafter Fallfügung. Wie überall so hier werden nicht eigenmächtig Gesetze gegeben, sondern es wird versucht festzustellen, wofür sich zurzeit der Sprachgebrauch der Gebildeten entschieden hat. Den 2. Fall fordern nur noch wenige Zeitwörter; in älterer Zeit war er viel häufiger, und sein Schwinden ist zu beklagen: unzweifelhaft wird diese Fügeform als edler und kraftvoller empfunden als die mit einem Vorwort oder dem 4. Fall. ,''Ich erinnere mich seiner, Er vergißt meiner nicht' '' ist höherer Stil als ,''Ich erinnere mich an ihn, Er vergißt mich nicht' ''. Die hier in Betracht kommenden Zeitwörter sind vornehmlich die des Genießens, Entbehrens, Gedenkens, Beraubens, Freuens, Grämens, Schämens, und es ist für sie alle der Rat zu geben, man möge in jedem Falle zuerst prüfen, ob die Farbe der Darstellung nicht den Zweitfall zulasse oder gar fordre. Freilich die Richtung des Alltagstils wendet sich vom Zweitfall ab: ,''Ich kann dessen entbehren' '' klingt meist zu hoch; $Seite 267$ doch gesellt sich zu manchem andern Zeitwort noch heute ungezwungen der Zweitfall. ,''Ich bedarf dessen nicht, Ich schäme mich seiner, Er zieh ihn der Feigheit, Ich kann mich der Vermutung nicht erwehren, Er hat sich dessen begeben'' (''entledigt'')' sind in diesen Fügungen nicht nur besser als in jeder andern, sondern dulden zum Teil nur diese. Die Entscheidung im Einzelfall ist nicht leicht; sie ist überwiegend eine Frage feinsten Stilgefühls, weil die Entwicklung vom 2. Falle weg zu andern Ausdrucksformen noch nicht abgeschlossen ist, also immer untersucht werden muß, ob zu dieser Stunde bei diesem Zeitwort der 2. Fall noch natürlich oder schon gesucht klingt. Bei ernstem Zweifel wird die Entscheidung leider gegen den Zweitfall lauten müssen, weil es ein geringerer Verstoß gegen den guten Stil ist, wie alle Welt alltäglich zu schreiben, als gesucht.  
Die Schwankungen zwischen 3. und 4. Fall, ''mir'' und ''mich'', müssen für jedes Zeitwort besonders betrachtet werden. ''Angeben''. — Unbedingt nur mit 4. Fall: ,''Das geht dich nichts an, Das geht keinen etwas an.' — ,Das geht dir nichts an' '' ist schlechte Landschaftsprache in Norddeutschland. ''Ankommen''. — In der Bedeutung ,''überkommen, anwandeln' '' überwiegend mit 4. Fall: ,''Mich kam ein Verdruß an; Ihn kam die Furcht an.' '' In neuster Zeit dringt der 3. Fall vor. Dagegen in der Bedeutung ,''dran liegen' '' nur 3. Fall: ''Mir kommt nichts drauf an' ''; fast ebenso in der Bedeutung ,''werden, fallen' '': ,''Es kommt ihm (ihn) leicht (sauer) an.' '' ''Anliegen'' (meist mit ''Haben''). — Nur mit 3. Fall: ''Er lag dem Kaiser an.'' ''Anmuten''. — Mit 4. Fall: ,''Das mutet mich nicht an' ''; aber in der Bedeutung ''zumuten' '' nur 3. Fall: ,''Was muten Sie mir an!' '' ''Bange machen''. — Mit 3. Fall: ,''Das macht mir bange' '', wobei ''bange'' als Hauptwort gedacht wird; doch herrscht daneben die richtige Auffassung von ''bange'' als Beiwort, und dann 4. Fall: ,''Er hat mich bange (ängstlich) gemacht' '' (vgl. S. 272 zu ''machen''). ''Bedeuten''. — Im Sinne ,''zu verstehen geben, befehlen' '' mit 3. Fall: ,''Ich habe ihm bedeutet, er solle gehen' ''; im Sinne ,''unterrichten, unterweisen' '' mit 4. Fall: ,''Er hat ihn über die Frage bedeutet.' '' $Seite 268$ ''Begegnen'' (mit ''Sein''). — Nur mit 3. Fall: ,''Ich bin ihm begegnet.' '' In der Bedeutung ,''entgegentreten, erwidern, entgegnen' '' kommt zuweilen ''Haben'' vor: ,''Er hatte (war) dem Minister damit begegnet, daß er ..' '' ''Bescheren''. — ,''Den Kindern wurde beschert.' '' Dies ist gutes Deutsch; doch hat sich daneben die sehr nachlässige, also unzulässige Fügung eingeschlichen: ,''Die Kinder wurden beschert' '', weil man an ''beschenken'' denkt. ''Betten. — ,Wie du dir'' (oder ''dich'') ''gebettet hast, so schläfst du.' '' Heute überwiegt der 4. Fall, doch ist der 3. nach wie vor gut. Früher fast nur der 3. Fall: ,''Bettete ich mir in die (!) Hölle .. ''(Luther); ''.. ward ihm sanft gebettet unter den Hufen seiner Rosse' '' (Schiller). Über ''Dünken'' (''mich dünkt'') vgl. S. 199. — ,''Ich dünke mich ein Held' '' (oder: ''einen Helden''). ''Ekeln''. — Rückbezüglich mit 4. Fall: ,''Ich ekle mich' ''; sonst Schwankung zwischen 3. und 4. Fall: ,''Mir oder mich ekelt vor..' '' Aber: ,''Dieses Buch ekelt mich (an); Mich ekeln diese Possen.' '' ''Erinnern''. — In Nordwestdeutschland vielfach: ,''Ich erinnere das (ihn, die Sache)' '', statt ,''Ich erinnere mich dessen (an das, an ihn)' ''; im Schriftdeutschen unzulässig. — ,''Ich erinnere mich auf ihn (etwas)' '', statt ,''an ihn' '', ist nur landschaftlich. ''Frieren''. — Fast nur: ''mich friert, es friert mich am Rücken, am ganzen Leibe''. Ebenso gut: ''ich friere am ..'' Doch kommt der 3. Fall gelegentlich vor: ,''Dem Kandidaten fror'' (Raabe). — ''Mir frieren die Hände.' '' ''Gehen. — ,Geh deiner Wege' ''; aber: ,''Ich weiß meine Wege zu gehen. — Er ist dieses Weges gekommen' ''; daneben: ,''.. diesen Weg ..' '', mit seinen Abschattungen: der 2. Fall ist etwas unbestimmter. ''Gelten''. — Je nachdem: ,''Es gilt mir, Es gilt meinem Leben' '', d. h. es ist auf mich, auf mein Leben abgesehen. Dagegen in der Bedeutung ,''kosten, wert sein' '': ,''Und wenn's mein Leben gilt! Es gilt keinen Groschen.' '' ''Getrauen''. — Der Gebrauch schwankt, doch wiegt der 4. Fall beim Alleinstehen vor: ''Ich getraue mich nicht; Getraust du dich, ihn anzugreifen'' (Goethe). Dagegen: ''Ich getraue mir das nicht recht''. Falsch dagegen ist: ''Ich getraue mich das nicht''; wohl aber: ''Ich getraue mich dessen nicht''. $Seite 269$ ''Grauen''. — Der 3. und der 4. Fall schwanken: ''Heinrich, mir graut vor dir'' (Faust); der 4. Fall ist seltner. — Ebenso steht es mit ''Grausen'': ''Dem Vater grauset's'' (Erlkönig). Diese beiden berühmten Beispiele sollten dem 3. Fall die Alleinherrschaft sichern. — Für ''Gruseln'' möge das Grimmsche Märchen mit seinem berühmten: ,''Es gruselt mir' '' vorbildlich sein. ''Heißen''. — Im Sinne von ''Nennen'' natürlich nur 4. Fall: ,''Er hieß ihn einen Narren.' '' Im Sinne von Befehlen richtig gleichfalls nur 4. Fall: ,''Er hieß ihn gehen.' '' Das Einschleichen des 3. Falls ist auf nichts gestützt. Dagegen in Fällen wie: ,''Wer hat dir das geheißen?' '' ist jetzt der 3. Fall üblicher und wird als das Natürlichere gefühlt. ''Helfen''. — In der ältern Sprache, bis ins 19. Jahrhundert, oft 4. Fall: ,''Was hilft mich das?' '' Heute im guten Schriftdeutsch nur ''mir''. ''Kleiden''. — Eine feste Entscheidung ist noch nicht möglich, da der gebildete Sprachgebrauch sich noch nicht fest für ''mich'' oder ''mir'' entschieden hat, und mit Befehlen oder Verbieten in solchen Fragen nichts zu erreichen ist. Das Schwanken rührt her von den mit Kleiden verbundenen zwei Begriffen: ''Es kleidet'', d. h.: ''bekleidet, mich gut'', — und: ''Es steht (sitzt, läßt) mir gut'', ein ähnlicher Fall wie bei ''Kosten''. Die älteste Fügung hatte nur den 4. Fall; seit dem 16. Jahrhundert dringt der 3. vor und ist heute fast ebenso häufig wie der 4. Ich spreche und schreibe: ''es kleidet dir'', nenne aber den abweichenden Sprachgebrauch sehr vieler Gebildeter nicht falsch. Soll denn durchaus befohlen und verboten werden, dann nur von jedem für sich selbst nach sorgsamer Überlegung. Richtig ist natürlich nur: ,''es kleidet dich' '' heißt es beim Sprachbüttel. Wenn sich bei Millionen die Auffassung eines Wortes wandelt, so ist das ein ganz natürlicher Vorgang, und wenn sich demzufolge die Fügung ändert, so ist das erst recht natürlich: in Hunderten von Fällen ist es durch die Jahrhunderte unsrer Sprachgeschichte ebenso zugegangen wie bei ''Kleiden''. Das beste Seitenstück dazu ist ''Kosten''. Im Mittelhochdeutschen und weit darüber hinaus, bis ins 17. Jahrhundert, herrschte ausschließlich der 4. Fall; seit dem 18. Jahrhundert dringt der 3. vor, ausnahmsweise von Adelung, entsprechend dem schon damals stark gewandelten Sprachgefühl und Gebrauch, $Seite 270$ empfohlen. Aus der deutschen Urbedeutung des Wortes ist kein Aufschluß zu gewinnen, denn ''Kosten'' ist Lehnwort aus lateinischem ''constare'' (''mihi constat: es kostet mir''). Goethe und Schiller schwanken zwischen dem 3. und 4. Fall, bei Kleist überwiegt der 3. Ob heute mehr Gebildete ''mir'' oder ''mich kostet'' sagen, wage ich nicht zu entscheiden. Die Sprachmeister widersprechen einander: der feinfühlige und behutsame Theodor Matthias erklärt die Gleichberechtigung des 3. Falles für ,ganz unbezweifelt', Wustmann behauptet das Überwiegen des 4. Falles in der guten Schriftsprache. Ich spreche und schreibe nur ,''Es kostet mir zehn Mark, Es kostete ihm den Thron' ''. Ich will meinen Gebrauch niemand aufzwingen, halte ,''Es kostet mich' '' nicht für ,falsch', kenne aber kein Zeitwort mit 4. Fall, das dem Begriffe von ''Kosten'' so genau entspräche wie zu ''stehen kommen'', was offenbar dem Gebrauch mit dem 3. Fall zugrunde liegt. Mein Sprachgefühl verbietet mir ,''Es kostet mich' '', weil dies meiner Auffassung des Verhältnisses der gekauften Ware zum Käufer widerspricht. Ich fühle nach einem Kaufe nicht: ''Dies hat mich betroffen (mit zehn Mark'' — aber woher käme dann hierfür der 4. Fall, z. B. ''einen Taler''?); sondern: ''dies kommt mir zu stehen, dies war mir wert, dies kommt mir auf .., dies verursacht mir die Kosten''. Diese bei fast allen Sprechenden zugrundeliegende Auffassung, der keine andre gleichwertige gegenübersteht, sichert dem 3. Fall die wachsende Herrschaft. Allenfalls läßt sich, wie in andern Fällen, eine feine Spaltung des Gebrauchs wahrnehmen: in Preisangaben mit Zahlen ist der 4. Fall häufiger als in Fällen wie: ,''Das hat mir schon viel Tränen gekostet, Der Krieg von 1870 kostete den Franzosen Elsaß-Lothringen.' '' Im Reichstag habe ich in beiden Anwendungen weit öfter den 3. als den 4. Fall gehört, was immerhin Beachtung verdient bei der Feststellung des lebendigen Sprachgebrauchs, des obersten Sprachmeisters für uns alle. Daß nun aber der 4. Fall auch auf ''Kommen'' übergegriffen hat, wenngleich nur hier und da in der niedrigen Geschäftsprache (''Das kommt mich 10 Mark''), ist ein starkes Stück; wer sich jedoch einmal daran gewöhnt hat, ''Kosten'' mit dem 4. Fall zu verbinden, ohne recht zu wissen warum, der ist halbwegs entschuldigt, wenn er ein Wort, das ja in gleicher Anwendung steht, ebenso fügt. Ohne ,''es kostet mich' '' würde keinem Menschen ,''es kommt mich' '' einfallen. $Seite 271$ ''Kündigen''. — Bei Personen nur der 3. Fall: ''Ich habe dem Buchhalter gekündigt (aufgesagt!)''; bei Sachen nur 4. Fall: ''Ich habe die Wohnung (den Vertrag) gekündigt'' (vgl. S. 234). In neuerer Zeit dringt auch bei Personen der 4. Fall vor: ''Ich habe den Mann gekündigt'', und die Folge ist, daß gesagt wird: ''Der Mann wurde gekündigt'' (statt: ''Dem Manne wurde gekündigt''). Es steht damit wie mit ''Bescheren (vgl. S. 268). Die Fügung ist bis jetzt dem Schriftdeutschen zum Glück noch fremd. ''Lassen''. — Die Frage, ob ,''Laß ihm' '' oder '',ihn das wissen' '', ist müßig; ''laß ihn allein'' ist deutsch, ''laß ihm'' wurde im 18. Jahrhundert zuweilen durch den Einfluß des Französischen geschrieben, ist aber seitdem verschwunden. Zweifelhaft ist der 1. oder 4. Fall im Aussagewort: ,''Laß mich dein Freund' '' oder ,''deinen Freund sein' ''? Gesprochen wird fast nur ''dein Freund'', geschrieben oft ''deinen Freund'', besonders von solchen, die eine ähnliche Fügung im Lateinischen kennen und an sie denken. Nach der festen Wendung: ,''Er läßt den lieben Gott einen guten Mann sein' '' kann man sich für die gewöhnlichen Fälle nicht richten. Bei Goethe heißt es wohl einmal: ,''Laß das Büchlein deinen Freund sein.' '' Die oft angeführte Stelle in Emilia Galotti (1, 6): ,''Lassen sie den Grafen diesen Gesandten sein' '' beweist gar nichts oder das Gegenteil, denn wir haben Lessings Urteil selbst darüber (Brief vom 1. 3. 1772): ,''Das habe ich ganz gewiß nicht geschrieben, es muß heißen: Lassen Sie den Grafen dieser Gesandte sein.' '' Im Nibelungenliede (1071) steht: ''laz mich der schuldige sin''; bei Wolfram von Eschenbach (Parzival): ''laz mich sin din dienstmann''. Aber bei Uhland heißt es: ,''Laß du mich deinen Gesellen sein.' '' Ich schreibe den 1. Fall, ohne daß ich den 4. für falsch hielte. Man beachte den Unterschied in: ,''Ich lasse mir nichts merken' '', und: ,''Ich lasse ihn nichts merken, Ich lasse dich das nicht merken.' '' Ferner: ,''einem zur Ader lassen' '', nicht so gut: ''einen''. Hierzu vgl. die allgemeinen Ausführungen auf S. 275, und über ,''Laß mich dein Freund sein' '' die auf S. 261. ''Lehren'' wurde seit ältester Zeit, schon seit dem Gotischen, regelmäßig mit doppeltem 4. Fall verbunden: ,''Lehre mich deine Weisheit. — Man hat ihn das gelehrt. — Herr, lehre mich deine Steige'' (Luther). — ''Du willst Wahres mich'' $Seite 272$ ''lehren''? (Schiller). — ''Meister Johann lehrte ihn die schönen Künste' '' (Goethe); aber bei ihm auch: ,''Sie lehrte ihm die kleinen Lieder.' '' Im 18. Jahrhundert war durch Adelungs Willkürregel zugunsten des 3. Falles Unordnung eingetreten, und sie hat seitdem nicht aufgehört. In der gebildeten Welt wird wohl nur der 4. Fall gesprochen und geschrieben, da die Schule streng drauf hält, und so sollte es bleiben. Leider heißt es im § 156 der Ausbildungsvorschriften für die Infanterie: ,''Es ist ihm zu lehren' '', was doch, wenn ,''Es ist ihn zu lehren' '' zu hart klang, leicht anders und besser ausgedrückt werden konnte. In der Leideform steht die Person vielfach im 3. Fall: ,''Mir wurde die Kunst gelehrt' ''; die Sache im 4. Fall: ,''Das werden wir vom Tag gelehrt' '' (Goethe). Zumeist wird heute die Fügung mit Leideform und 4. Fall der Sache vermieden, und es werden andre Ausdrucksformen gewählt, welche die Schwierigkeit oder die Härte umgehen: ,''Wir sind so gelehrt worden' '', oder: ,''Man hat uns das so gelehrt.' '' Auf keinen Fall sollte sich ein Gebildeter verführen lassen, der niedrigen Volksprache nachzusprechen oder gar nachzuschreiben: ,''Er hat mir das gelernt.' '' ''Lohnen''. — Die Fügung in: ,''Ich lohne dir das' '' ist selbstverständlich. Auch da, wo es ganz so wie ''Belohnen'' steht, also der 4. Fall erwartet werden sollte, ist der 3. Fall die Regel: ,''Er hat ihm damit gelohnt, daß er ..' '' Aber in Bürgers Lied vom braven Mann heißt es: ,''Den lohnt kein Gold, den lohnt Gesang.' '' An der festen Wendung ,''Das lohnt nicht der Mühe' ''(oder: '',.. lohnt sich nicht der Mühe' '') ist nichts zu tadeln: ''der Mühe'' ist ein 2. Fall, wie in ,''Das lohnt nicht des Anfangens' ''. Weil aber jener 2. Fall den meisten als ein 3. Fall erscheint, haben sie sich für berechtigt gehalten, statt des 3. Falles den 4. zu setzen: ,''Das lohnt nicht die Mühe' '', was nicht so eigenartig, aber auch nicht unrichtig ist. Der Sprachbüttel beschimpft jeden, der so schreibt, wegen ,Ausweichens aus Unwissenheit', weil eben nicht jeder ein Doktor Allwissend ist. In der einfacheren Wendung ,''Das lohnt mir nicht' '' ist der 3. Fall unerschütterlich. ''Machen''. — ,''Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß' ''; doch lautet das Sprichwort auch vielfach: ''mir nicht heiß'', und ist darum noch nicht falsch. — ,''Ich mache ihm bange' '' erscheint besser als ''.. ihn bange'', weil das Sprachgefühl $Seite 273$ geneigt ist, ''bange'' hauptwörtlich aufzufassen, also gleichzusetzen mit: ''Ich mache dir Angst'' (''.. Angst und Bange''), obwohl sprachgeschichtlich . . ''ihn bange'' triftiger wäre. — ,''Ich mache dich lachen' '' ist nicht etwa französische Fügung, sondern kommt schon im Mittelhochdeutschen selbständig gebildet vor. Allerdings sollte man es nicht ohne Not über die gäng und gäbe Anwendung ausdehnen; es ist keineswegs überall da zu setzen, wo dem Franzosen ''faire'' das geläufigste Wort für ,''veranlassen' '' ist, denn wir haben eine Reihe kräftigerer Wörter dafür, außer dem zuweilen brauchbaren ''lassen''. Bei ''Nachahmen'' sind zwei Bedeutungsfarben deutlich geschieden, also zu unterscheiden: ''nachstreben, nacheifern'' — und: ''nachmachen, nachbilden, abschreiben, nachäffen''. Im ersten Sinne steht es richtig mit 3. Fall, im zweiten richtig mit 4. Fall; doch mangelt es nicht an fehlerhaften Verwechslungen der Fälle wegen nachlässigen Vertauschens der Bedeutungen. ,''Der Sohn ahmt (eifert) dem Vater nach' ''; aber: '',Vergil' ahmte den Homer nach' '', denn er hat ihn nach Inhalt und Form nachgemacht. Ebenso: ,''Gerhart Hauptmanns Elga ahmt nach: eine Novelle Grillparzers, sein Schluck und Jau ein Lustspiel Shakespeares, sein Armer Heinrich den Hartmanns von Aue, sein Michael Kramer eine Novelle Storms, seine Weber eine Geschichte von Otto Ruppius, seine Pippa ein Drama Brownings und die Harzreise Heined, deine Winterballade eine Erzählung der Lagerlöf, sein ,Weißer Heiland' einen Roman von Wallace, sein Kriegsgedicht ein Kellersches Gedicht' ''. Der Mensch kann ''die Natur nachahmen''; ihr ''nachzuahmen'' geht über seine Gaben. Man ''ahmt einem Vorbilde nach'', wenn man es sich zur Anregung dienen läßt; man ''ahmt es nach'', wenn man es genau zu wiederholen sucht. Ein gutes Beispiel gibt Sanders: ,''Die Fürsten ahmen dem Kaiser nach — lassen sich ihn zum Muster dienen; der Hofnarr ahmt (äfft) den Kaiser nach.' Ein Affe kann nur den, nicht dem Menschen nachahmen.'' Tritt ein 4. Fall der Sache hinzu, so muß zur genauen Unterscheidung für das ''nicht urschöpferische Nachahmen'' entweder dieses oder etwa ''Nachmachen, Nachdichten'' stehen: ,''Die Birch-Pfeiffer hat alle ihre Theaterstücke Andern nachgemacht; — Hauptmann hat seine Elga Grillparzern, andre Werke Andern nachgedichtet.' '' Es wäre schade, ließe man diese vom Sprachgeist gebotene feine Scheidung zwischen ''Nachstreben'' und ''Nachmachen'' fallen. $Seite 274$ ''Nützne'' wird in der Redesprache nur mit dem 3. Fall gebraucht, und so in der guten Schriftsprache. ''Nützen'' mit dem 4. Fall — ''Was nützt mich?'' kommt nur in landschaftlicher Volksprache vor. ''Rufen'' in gewöhnlicher Anwendung natürlich nur mit dem 4. Fall: '',Vater, ich rufe dich.''' — Goethes: ,''Wer ruft mir?' '' und ähnliches bei Klopstock und Andern rechtfertigt den 3. Fall nur für die feierliche Darstellung. Wendungen, wie sie zuweilen in der Schrift-, nie in der Redesprache vorkommen: ,''Er rief dem Diener: Bringen Sie..' '', müssen als läßliche Abkürzungen statt ''zurufen'' gelten. — Im Schweizerdeutsch steht ''Rufen'' in der Bedeutung Wünschen mit dem 3. Fall: ,''Man hatte schon lange (nach) einer Verbesserung dieser Straße gerufen' '' (Keller). ''Schaudern'' — wie ''Grauen'': ''Mir schaudert davor''; aber auch: ''Es schaudert mich.'' — Doch nur: ''Die Haut schaudert mir.'' ''Steuern''. — In der eigentlichen Bedeutung nur 4. Fall: ''Ich steure den Kahn''; in der übertragenen (''wehren'') nur 3. Fall: ''Ich steure dem Unfug''. Man liest leider zuweilen schon: ''.. den Unfug'', weil sich für das etwas fremdartige ''Steuern'' der Begriff ''Hindern'' unterschiebt. ''Trauen'' — wie ''Getrauen'': ''Ich traue mich nicht, Ich traue mir das nicht'', oder: ''Ich traue (getraue) mich dessen nicht''. ''Unterstehen'' — wie ''Trauen'' und ''Getrauen'': ''Ich unterstehe mich nicht, das zu tun; Ich unterstehe mir das nicht; Ich unterstehe mich dessen nicht; Untersteh dich das nicht!'' (neben ''.. dir''). ''Vergessen'' wird landschaftlich vielfach mit ''an'', in Österreich fast nur mit ''auf'' gefügt. Bei ''an'' schwebt vor: ''nicht daran denken''; bei auf: ''sich nicht darauf besinnen''. Die im Schriftdeutsch und in guter Umgangsprache allein gebrauchte und zulässige Verbindung ist die mit einfachem 4. Fall: ''Ich habe es vergessen''; also weder ''daran'' noch ''darauf vergessen''. In gehobener Sprache auch der 2. Fall: '',Wie könnt' ich dein vergessen.' '' Bei ''Versichern'' scheint vielfach die Meinung zu herrschen, selbst bei Gebildeten, '',Ich versichere dich' '' sei feiner als ,''Ich versichere dir' ''. Alle, die so sprechen und schreiben, grob einer ,Modedummheit' zu zeihen, ist ungerecht. Der Irrtum geht von der richtigen Fügung aus: ''Ich versichere dich meiner''$Seite 275$''Treue, Ich versichere mich dessen''. Das einfache ''Versichern'' bedeutet nur: ''Ich erkläre, stelle als sicher hin'', und fordert den 3. Fall: ''Ich versichere dir, daß'' .. Beim Hinzutreten eines Inhaltwortes ''des Versicherns'': 4. Fall ''der versicherten Person'', 2. Fall ''des Zugesicherten'' (wie oben: ''Ich versichre dich meiner Treue''), oder: ''Ich versichre dir meine Treue.'' Der bei schlechten Schreibern gelegentlich vorkommende zwiefache 4. Fall ist unmöglich (Spielhagen: '',Ist das die Liebe, die du mich versichert hast?' ''). Das dem entsprechende ,''Das kann ich Sie versichern' '' ist undeutsch, stützt sich auf keinen guten Schriftsteller, wird übrigens kaum geschrieben, nur von unkundigen Menschen gesprochen, die es irrtümlich für vornehmer halten. Gutes und richtiges Deutsch ist vornehm genug.  
Bei abzielenden Zeitwörtern einer lebhaft handelnden Einwirkung auf Menschen und Dinge, die mit wechselnd geltenden Vorwörtern des 3. und 4. Falles auf ihr Satzziel bezogen werden (''Schlagen, Stechen, Treten, Schießen, Schneiden, Treffen, Greifen, Brennen, Bestehen [Dringen], Stützen, Gründen'' usw.) gibt es weniger Schwankungen als Zweifel, deren Lösung im Einzelfalle oft schwierig, deren durchgreifende Hebung durch eine allgemein gültige Regel unmöglich ist. Fast jeder Fall verlangt seine besondre Prüfung auf Inhalt und Sprachgebrauch; selbst für starke Abweichungen vom Üblichen lassen sich annehmbare Auffassungen beibringen. ,''Ich schlage dir'' oder ''dich auf den Kopf? Das Feuer brannte mir oder mich auf die Nägel'' oder ''auf den Nägeln? Ich trat ihn oder ihm auf den Fuß, sie'' oder ''ihr auf die Schleppe? Ich halte mich an dich'' oder ''dir? Die Ordnung gründet sich auf das'' oder ''dem Gesetz?' '' Widersprüche herrschen hierüber zwischen namhaften Sprachgelehrten, und die selbstsichersten Sprachmeisterer werden etwas bescheidner, wenn sie solche Fragen auf ihre Art: nur mit Falsch und Richtig, entscheiden sollen. Die romanischen Sprachen kennen keine Schwierigkeit: hier wie so oft starrer als das Deutsche setzen sie den Getroffenen selbst in den 4. Fall, dessen getroffenen Teil in die Fügung mit ''à'': ''Il le frappa à la tete''. Das zarter unterscheidende, beweglichere Deutsch kann sagen: ,''Er schlug ihm an den Kopf'' oder ''Er schlug ihn am Kopf' '', und oft sind die Bedeutungen der zwei Ausdrucksformen fein abgetönt. $Seite 276$ Aus der Fülle der Wendungsmöglichkeiten leuchtet etwa dieser Leitgedanke des Sprachgefühls hervor; im 4. Fall steht die Person oder die Sache, der Körperteil, worauf die Handlung am unmittelbarsten, absichtlichsten, stärksten abzielt; im 3. Fall, wenn nicht so sehr die ganze getroffene Person oder Sache das Ziel ist, wie ein Körperteil oder Zubehör, deren Träger eben nur die Person oder Sache sind. ,''Er schoß ihn durch die Brust. — Ich aber traf ihn mitten ins Herz. — Wir schlugen den Feind aufs Haupt. — Die Katze hat mich'' (oder: ''mir''?) ''in den Finger gebissen. — Er traf den Nagel auf dem'' (oder'' den''?) ''Kopf. — Ich habe ihn'' (oder: ''ihm''?) ''in den Arm gekniffen. — Ich habe ihn'' (oder: ''ihm''?) ''auf den Fuß getreten. — Er hat sie ja nur auf die Schulter geküßt. — Ich klopfte ihn auf die Schulter.' '' Je stärker der ganze Mensch, der Gegenstand selbst (z. B. ''der Nagel'')gemeint und getroffen wird, desto nötiger wird der 4. Fall. Wer ''jemand auf die Schulter klopft'', schlägt die Schulter und meint den Menschen; wer ''sie zwar nur auf die Schulter geküßt'', hat doch sie selbst gemeint. Wer ''den Feind aufs Haupt schlägt'', hat den Feind selbst treffen wollen und geschlagen, nicht bloß dessen Haupt, das nur redensartlich mitgenannt wird. ''Ich habe ihn in den Arm gekniffen'', denn ich wollte eigentlich nicht den Arm kneifen, sondern bediente mich dieses Körperteils nur, um den ganzen Menschen aufmerksam zu machen. Wer ''einen Menschen mitten ins Herz trifft'', hatte den ganzen Menschen zum Ziel, und wer ''den Nagel auf den'' (oder ''dem'')'' Kopf trifft'', hatte es auf den ganzen Nagel abgesehen, konnte ihm aber nur am Kopf beikommen. Die Katze allerdings kann ''mich'' oder ''mir'' in den Finger beißen: ich werde von dem Schmerz wohl im Nervenmittelpunkt getroffen, spüre ihn aber doch zunächst und zumeist im Finger; doch sind hier Absicht und Gefühl schwankend, mithin schwankt die Fügung. Es gibt aber recht viele Fälle, wo der Sprachgebrauch sich befestigt hat, jedoch die Erklärung unsicher ist. ''Ich sehe dir ins Gesicht'', und doch ist gewiß nicht bloß, nicht hauptsächlich, wenngleich zunächst, das Gesicht, sondern der ganze Mensch gemeint, und trotzdem steht hier der 3. Fall der Person. ,''Er spie ihm ins Gesicht' '' erklärt sich dadurch, daß ''Speien'' allein, nicht ''Bespeien'' und ''Anspeien'', nicht mit dem 4. Fall der bespienen Person stehen kann. $Seite 277$ ''Das Feuer brennt mir'' oder ''mich auf die Nägel'' oder ''auf den Nägeln''? Alle vier Fassungen sind ebenso erlaubt wie möglich; besondere Unterschiede des Sinnes sind kaum herauszuhören. Nach Eckermann hat Goethe gesprochen: ,''Was mir nicht auf die Nägel brannte' '' (14. 3. 1830). — ''Mir frieren die Füße'': die Füße frieren zunächst, zumeist, dann und dadurch erst der ganze Mensch; aber: ''Mich friert's an den Füßen''. — ''Der Rauch beißt mir in die Augen'': der Rauch hat es nicht auf den ganzen Menschen abgesehen, kann ihm auch nicht viel anhaben, wohl aber seinen Augen: ''er beißt die Augen'', also nicht mich, sondern mir. — ''Mich nagt's am Herzen'' (Goethe). Der 3. Fall der Person ist eine jüngere Abspaltung des Gefühls; in ältester Zeit standen alle solche Zeitwörter mit dem 4. Fall. Eine strenge Entscheidung ist heute schon darum unmöglich, weil sich auf diesem Gebiet Sprachgefühl und Gebrauch schon während eines Menschenalters verschieben. Ich selbst spreche heute in manchem Fall anders als vor 30 Jahren, weil ich es in diesem Zeitraum oft anders gehört und gelesen habe als vordem. ''Ich bestehe auf meinem Schein, .. auf meinen Schein'' — was ist richtiger? Jedes ist je nachdem richtiger. ''Ich bestehe auf meinem Schein ist'': ''ich stehe .. ''und besagt: ''Ich verharre auf ihm ''(Ruhe) und warte das Kommende ab; ''ich bestehe auf meinen Schein'': ich fordre, daß mir der Inhalt meines Scheins werde, also im Sinne von: ''ich dringe auf ihn ''(Bewegung). ''Der Anspruch gründet sich auf dem Gesetz'' (Ruhe); ''ich gründe das Haus auf diesen Fels ''(als Bewegung gedacht). ''Ich halte mich an dir'': .. an dir fest; ''ich halte mich an dich'': ich packe dich, hatte dich fest, ich mache dich verantwortlich.  
Alle Sprachmeister zermartern sich, einen angeblich feststehenden Unterschied zwischen erzählender und vollendeter Vergangenheit (Imperfektum und Perfektum) zu begründen und einzuschärfen, überschütten ihre schreibenden Volksgenossen mit heftigster Schelte ob der vorgeblich immer wieder begangenen Verstöße gegen die vermeintlich bombensichre Regel und — haben nicht das Geringste damit erreicht: dieselben $Seite 278$ Von ihnen behaupteten Verstöße werden überall, täglich, stündlich in jedem guten Buch, in jeder Zeitung, von jedem gebildeten Redner, von jedem Sprechenden begangen. Hier klafft zwischen Lehre und Leben — in der üblichen Gelehrtensprache: zwischen Theorie und Praxis — ein gähnender Abgrund, gähnend in des Worts verwegenster Bedeutung, denn auf die Dauer wirkt die ewige Wiederholung eines Tadels, von der sanften oder groben Schelte bis zur rohen Beschimpfung, langweilig, wenn er auf die Betroffenen gar keine Wirkung übt und niemand überzeugt. Merkwürdig nur, daß keiner der Tadler sich je die Frage stellte (oder ''gestellt hat''!), ob nicht die Getadelten, nämlich die Gesamtheit der Sprechenden und Schreibenden, am Ende doch vielleicht ein wenig, ein ganz klein wenig Recht und die Tadler einiges Unrecht haben (''hätten''). Ein paar Pröbchen des Tadels müssen gegeben werden, um der Leserschaft ihre, wie es scheint, unverbesserliche Sündhaftigkeit vor die Augen zu stellen. ,Ganz widerwärtig und ein trauriges Zeichen der zunehmenden Abstumpfung unsers Sprachgefühls ist ein Mißbrauch des Imperfekts, der seit einiger Zeit [in Wahrheit seit zwei Jahrhunderten oder mehr] mit großer Schnelligkeit um sich gegriffen hat' (Wustmann). — ,Diese unwissenden Tintenkleckser haben in den Vierzigerjahren (des 19. Jahrhunderts) aus der deutschen Sprache das Perfekt und Plusquamperfekt ganz verbannt, indem sie, beliebter Kürze halber, solche (!, vgl. S. 144) überall durch das Imperfekt ersetzen, so daß dieses das einzige Präteritum (Vergangenheitsform) der Sprache bleibt, .. oft auf Kosten alles Menschenverstandes, indem barer Unsinn daraus wird. Daher ist, unter allen Sprachverhunzungen diese die niederträchtigste, .. sie ist eine linguistische (sprachliche) Infamie' (Schopenhauer). Und an einer benachbarten Stelle diese Ungeheuerlichkeit: ,Man darf im Deutschen das Imperfekt und Perfekt nur da setzen, wo man sie im Lateinischen setzen würde.' Danach müßte Cäsars ''Veni, vidi, vici'' auf Deutsch lauten: ''Ich bin gekommen, habe gesehen, habe gesiegt''. Schopenhauer muß seinen Satz ganz anders gemeint als geschrieben haben. Schopenhauer ist einer unsrer größten Prosaschreiber, war aber, trotz vielseitiger Sprachenkenntnis, kein Sprachforscher. Wustmann hingegen war oder wollte sein ein Deutschforscher, $Seite 279$ dem es zustände, Gesetze seiner Muttersprache auszustellen und sie einem Millionenvolk aufzuzwingen. Wessen Irrtum schwerer wiegt, sage sich der Leser selbst. Es ist nicht wahr, daß die von Schopenhauer für seine Zeit, von Wustmann für unsre behauptete zunehmende Abstumpfung und Verderbtheit des Sprachgefühls immer nur so jung ist, wie jeder Tadler grade für sein Zeitalter beklagt. Durch das ganze 18. und 19. Jahrhundert bis zum heutigen Tage zieht sich die gescholtene angebliche Verwechslung zwischen Erzähl- und Vollendungsform, und es wäre leicht, jedem Satze mit angeblich allein ,richtigem' Gebrauch bei einem unsrer größten Schriftsteller zehn Sätze mit dem ,falschen' bei einem ebenso großen, ja bei dem zum Vorbild Gewählten selbst entgegenzustellen. Die von einem Sprachmeister dem andern nachgeschriebene Erklärung oder Regel für die Erzählform (''ich kam, ich ging, ich sprach, die Kirche wurde gebaut'') lautet: Sie muß da stehen, wo ein vergangenes Geschehen oder Bestehen in seinem Entstehen und Abrollen ausgedrückt wird; daher ihre, und nur ihre, Eignung für die Erzählung. — Die Vollendungsform (''ich habe getan, ich bin gegangen, die Kirche ist gebaut worden'') bezeichnet ein vergangenes, abgeschlossenes Geschehen, von welchem als einem in der Vergangenheit zu Ende geführten, für die Gegenwart fertigen berichtet wird. Lägen die Dinge wirklich so einfach und für jeden nachdenklichen Schreiber so klar, dann wäre doch erst recht nicht zu begreifen, warum schwerlich bei einem einzigen namhaften Schriftsteller völlige Sicherheit im Unterscheiden der beiden angeblich ganz geschiedenen Zeitformen herrscht. Wustmann verkündet: ,Der Unterschied ist so mit Händen zu greifen, daß man meinen sollte, er könnte gar nicht verwischt werden.' Wie nun aber, wenn er tatsächlich von Klopstock über Lessing, Goethe und Schiller bis zu Kleist dem Erzähler und Hebbel, Storm, Keller und Raabe in Tausenden, in Zehntausenden, in unzähligen Fällen verwischt wurde und worden ist und zweifellos in weiteren Millionen von Fällen verwischt werden wird? Stehen wir dann nicht vor der verblüffenden Tatsache, daß eigentlich nur die Sprachmeisterer, besonders Wustmann, den handgreiflichen Zustand erkannt und beachtet, alle wahrhaften Meister unsrer Sprache in zahllosen Fällen dagegen verstoßen haben? Hieran zu glauben, fällt $Seite 280$ so schwer, daß wir uns nach einer befriedigenderen Lösung des Rätsels umsehen müssen. Die Wahrheit scheint so auszusehen. Jene Erklärungen des Zeitbegriffs der zwei Hauptformen der Vergangenheit passen leidlich auf die einfachsten, die sonnenklaren Fälle; sie passen nicht auf die unzählbaren Zwischenformen der mit dem dehnbaren Zeitbegriff frei spielenden Phantasie des Schreibers, gleichviel ob Erzählers oder nur Tatsachenmelders. Vieles, was nach der schönsten Erklärung vollendete Vergangenheit, abgeschlossenes Ergebnis sein müßte, verschiebt sich für das Sprachempfinden, für das Innenbild des Sprechenden oder Schreibenden zu einem noch sichtbaren Ereignis und steht in der Erzähl- statt in der Vollendungsform. Das Musterbeispiel alles Erzählens ist doch wohl der Anfang aller Märchen: ,''Es war einmal' '', und jeder würde ,''Es ist einmal gewesen' '' als falsch empfinden, — obwohl in Süddeutschland mündlich in der Tat nur so das Geschehene erzählt, nur so das vollendete gemeldet wird. Nun bezeichnen aber die Sprachmeister die, wie sie selbst zugestehen müssen, unzählige Male gestellte Frage: ,''Waren Sie schon einmal in —?' '' als falsch. Die Frage wird nicht bloß unzählige Male so gestellt, sondern sie wird fast niemals anders gestellt, — folglich, und dies ist der Kern der Frage, empfindet der Sprachsinn der Gebildetsten die Erzählform auch für eine vollendete, abgeschlossene Tatsache der Vergangenheit nicht als falsch! Keine Form an sich stellt irgendeine Bedeutung mit zwingender Gewalt dar; alle Formen besagen nur das, was das Sprachgefühl der wechselnden Geschlechter sprechender Menschen aus ihnen heraushört. Die Massenhaftigkeit der Beispiele für die Erzählform in solchen Fragen wie: ''Waren Sie schon einmal in —?'' statt Sind ''Sie schon gewesen?'' und für die Erzähl- statt Vollendungsform in Antworten wie: ''Ja, ich war schon einmal da'' — beweist also nichts andres, als daß das Sprachgefühl für den Sinn der Zeitformen sich geändert haben muß, vorausgesetzt, daß er im neueren Neuhochdeutsch je der gewesen ist, den die Sprachmeister haben erkennen wollen. Dem zweiten, dem dritten, dem vierten Beugesatz des Hauptworts und Fürworts wohnt eine solche zwingende Bedeutungsgewalt bei, sonst wäre die übereinstimmende Sicherheit ihrer Anwendung bei Mittel- und Hochgebildeten unerklärlich. Den zwei wichtigsten und häufigsten $Seite 281$ Zeitformen geht jene Gewalt ab, es herrscht freies Spiel der sprachlichen Phantasie zwischen und neben und außer der festen Ordnung in den selbstverständlichen Fällen, und der Sprecher, der da fragt: ''Waren Sie schon einmal in —?'' leidet unter keiner ,Abstumpfung des Sprachgefühls', der Erteiler einer Antwort in derselben Zeitform begeht keine ,linguistische Infamie'. Es wird für den scharfsinnigsten Sprachmeister unmöglich sein, uns begreiflich zu machen, warum Goethe seinen Werther mit Sätzen schließt, worin trotz völlig gleichem geschichtlichem Inhalt Erzählform und Meldeform nebeneinander stehen: ,''Der Alte folgte der Leiche und die Söhne. Albert vermocht's nicht. Man fürchtete für Lottens Leben. Handwerker trugen ihn. Kein Geistlicher hat ihn begleitet.' '' Man hat mit allerlei spitzfindelnden Tifteleien versucht, die Vollendungsform des letzten Satzes als notwendig hinzustellen, ohne jemand zu überzeugen. Jeder Schriftsteller, der sich aufs Erzählen und auf seine Sprache versteht, weiß, warum Goethe sein unsterbliches Jünglings- und schon Meisterwerk mit meisterlicher Kunst in der Vollendungs-, in der Meldezeitform ausklingen läßt: aus einem bezwingenden Gefühl für die innere Kunstform, die grade an dieser Stelle diesen wie verhallendes Glockengeläut tönenden Schritt der Sprach-und Satzfuge forderte. Ein künstlerischer Grund, keiner der Sprachlehre, gab ihm — man beweist das nicht, man fühlt das — gab ihm diesen einzig richtigen Tonfall in dieser einzig richtigen Zeitform ein. Man schlage irgendwo in Goethes oder Schillers Werken, besonders in ihren Versdramen auf und prüfe die Zeitformen der Vergangenheit: fast auf jeder Seite wird man eine Stelle, oft grade die bedeutsamsten und kunstvollendetsten, finden, wo die beiden Zeitformen gegen die bestimmte Regel verstoßen. ''Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt'', ''Gab mir ein Gott, zu sagen, wie ich leide'' (Tasso). Hier wird zweifellos nicht ein Geschehen, ein Vorgang erzählt, sondern eine in der Vergangenheit abgeschlossen liegende, auf die Gegenwart nachwirkende Tatsache wird ausgesprochen; trotzdem nicht: ''Hat mir ein Gott gegeben'', sondern ''gab''. $Seite 282$ ''Und dieses Tieres Schnelligkeit entriß'' ''Mich Banniers verfolgenden Dragonern''. ''Mein Vetter ritt den Schecken an dem Tag'', ''Und Roß und Reiter sah ich niemals wieder''. (Wallensteins Tod 2, 3.) Ebenso unzweifelhaft müßte im letzten Vers gemäß der strengen Regel stehen: ''Und Roß und Reiter hab ich niemals wiedergesehen''; denn diese Worte enthalten kein einzelnes Geschehnis der Vergangenheit, sind nicht mehr Erzählung eines Ereignisses, sondern ein Überblick aus der Gegenwart auf eine lange Zeitkette, eine abschließende Tatsachenangabe. Der bekannte Einwand in solchen Fällen der Berufung auf gewichtige Dichterstellen — sie könnten für unsre Frage einen Band füllen — lautet: Die Abweichung von der Regel geschah (warum nicht: ''ist geschehen?'') wegen der Verlegenheit um den Versbau. Ich verweise hierzu auf das in der Einleitung auf S. 41 Gesagte und bemerke in diesem Zusammenhange: Kein großer Dichter hat je aus einer Versverlegenheit einen groben Verstoß gegen eins der Grundgesetze seiner Sprache begangen, und nach den Sprachmeistern wäre ja die Vertauschung der. 1. und der 2. Vergangenheitsform einer der schwersten Stöße gegen eine der Tragsäulen des deutschen Satzgefüges. Hätten Goethe und Schiller die Unverbrüchlichkeit des von den Sprachmeistern aufgestellten und durch eine Regel umzirkelten Unterschiedes gefühlt, so hätten sie künstlerische Mittel gefunden, diesen Unterschied ohne Schaden für die Schönheit der sonstigen Ausdrucksform festzuhalten. Und, was ebenso schwer ins Gewicht fällt: hätten die Millionen gebildeter deutscher Leser jenen Unterschied so empfunden, wie die Sprachmeister verlangen oder als selbstverständlich, als handgreiflich voraussetzen, so hätten sie längst Anstoß nehmen müssen an jeder der zahllosen Stellen, wo sie die angeblich streng geschiedene Bedeutung der zwei Vergangenheitsformen verwischt, ja mißachtet fanden. Das ist nicht geschehen; für die beiden Stellen im Tasso und im Wallenstein bin ich vielleicht der erste, der darauf hinweist, daß eine nach der Meinung der Sprachmeister falsche Vergangenheitsform dasteht. Somit stellt sich heraus, daß die Meister der deutschen Sprache und das Volk dieser Sprache mit übereinstimmendem Sprachgefühl auf der einen, die Sprachmeisterer mit ihrer Erklärung, $Seite 283$ ihrer Regel, ihrer Fehler anstreichenden roten Tinte und etlichen Grobheiten auf der andern Seite stehen. Das Ganze nennt man den Zustand des Neuhochdeutschen in der Gegenwart. Wie wirkliche Verstöße gegen Grundgesetze deutscher Sprache aussehen, das mögen zwei andre Dichterstellen zeigen. In Scheffels Trompeter steht: ''Ach Gott, und doch wär's besser'', ''Es würd' ein Andrer sein''. Daß es hier ''wäre'' statt ''sein würde'' heißen muß, weiß jeder, und jeder Sprachgebildete Leser hat sich an dieser Nachlässigkeit gestoßen. Auch die Unangemessenheit der Bestimmtheitsform in Geibels schönen Versen: ''Und sei's als letzter Wunsch gesprochen'', ''Daß noch dereinst dein Aug' es sieht'', ''Wie übers Reich ununterbrochen'' ''Vom Fels zum Meer dein Adler zieht'' ist schon gleich nach dem Bekanntwerden des Gedichtes gerügt, vom Dichter nicht verteidigt worden. Mögen die vielen Schreiber, die bisher unter der ewig geschwungenen Fuchtel der Sprachmeisterei sich bei jeder 1. oder 2. Vergangenheitsform vor einem groben Fehler gefürchtet haben, aus diesen Darlegungen die Sicherheit schöpfen, daß sie sich im allgemeinen auf ihr Sprachgefühl, zumal auf das an unsern großen Meistern geschulte, auch in der Wahl der Zeitformen verlassen dürfen und sich nur vor offenbaren Schnitzern hüten müssen, über die kaum zweierlei Meinung besteht. Heftig getadelt wird die Zeitform in Anzeigen wie: ,''Ich erhielt frische Heringe und stelle sie ..' '' Abgesehen von der größern Kürze (statt: ''Ich habe .. erhalten''), die grade für Zeitungsanzeigen aus mehr als einem Grunde wünschenswert ist, hat sich, diese ursprünglich allerdings bedenkliche, weil zu gewichtig klingende Form für ein sehr großes Gebiet des Sprachlebens so durchgesetzt, daß auch das Sprachgefühl des Lesers sich, wie man das heute nennt, auf sie um- und neu eingestellt hat. So allgemein übliche Abweichungen von einer ehemaligen Regel heißen nicht mehr Sprachfehler. Auf ähnliche Weise sind viele andre Wandlungen unsrer Sprache ent- $Seite 284$ standen, die heute keinem Menschen mehr auffallen. Daß für das Sprachgefühl starke Umsetzungen der Zeiten möglich sind, beweist der ständige Gebrauch der Gegenwart statt der Zukunft: ,''Du gehst jetzt sofort hin und holst mir ..' '', oder: ,''Ich denke, er kommt erst morgen' ''; oder die kaufmännische Briefformel: ,''Anbei empfangen Sie'' (statt: ''werden Sie empfangen'')'; beweist auch die Vertretung der Sei-Form der Gegenwart in sehr vielen Fällen durch die der Vergangenheit (vgl. S. 291) Den besten Beweis aber für die Überspannung der Regel über 1. und 2. Vergangenheit liefern uns die Sprachmeister selbst, die Menschenalter hindurch einander widersprechen, mithin zeigen, daß das Sprachgefühl — und jeder von ihnen hat doch irgendeines — selbst bei Fachmännern nicht mit Sicherheit über 1. oder 2. Vergangenheit entscheidet, sondern daß zur Entscheidung Vernunftgründe, also außerhalb der Sprache liegende, zu Rate gezogen werden müssen. Es bleibt uns hier wie überall nichts andres übrig, als den obersten Sprachmeister anzurufen: den guten Sprachgebrauch der gutschreibenden Schriftsteller und gutsprechenden Redner. Für die süddeutsche Umgangsprache gibt es überhaupt keine Zweifelfrage auf diesem Gebiet der Sprache: man spricht dort die 1. Vergangenheitsform gar nicht, erzählt und meldet in der 2. Form, und selbst süddeutsche Märchen beginnen: ,''Da ist einmal ein König gewesen, der hat eine Tochter gehabt.' '' Daß dies für die Schriftsprache unmöglich ist, folgt aus deren jetzigem beherrschendem Sprachgebrauch. In die landschaftliche Umgangsprache aber haben wir uns nicht tadelnd und bessernd einzumischen. Schillers Briefe zeigen manche Einwirkungen seiner schwäbischen Jugendsprache; dasselbe gilt von den Erzählungen des Alemannen Hebel.  
Anders als mit der Vertauschung der 1. und 2. Vergangenheit steht es mit der häufigen Verwechslung der Gegenwart und der 2. Vergangenheit der Leideform in Fällen wie: ,''Die Kirche ist gebaut' '', und ,''.. ist gebaut worden' '' (vergleiche S. 237). Man scheut sich vor der Weitschweifigkeit ''ist worden'', glaubt, man dürfe ''worden'' beliebig auslassen, und begeht einen Fehler, den jedes mittlere Sprachgefühl sogleich empfindet. ,''Die Kirche ist gebaut' '' ist Gegenwart und heißt: der Bau ist jetzt fertig; ,''Die Kirche ist erbaut worden' '' ist $Seite 285$ 2. Vergangenheit und gibt einen Rückblick auf Bautätigkeit und Bauzeit. ,''Die Pferde sind gesattelt' ''meldet der Reitknecht, um zu sagen: sie stehen jetzt gesattelt da; ,''Die Pferde sind heute schlecht gesattelt worden' '' müßte es richtig heißen, wenn ein Urteil über die Tätigkeit des Sattelns abgegeben wird; mit ,''Die Pferde sind heute schlecht gesattelt' '' wird nur über ihren jetzigen Zustand geurteilt. Wer sich vor dem nachschleppenden ''worden'' scheut, der schreibe statt seiner lieber die 1. Vergangenheit: ,''.. wurden heute schlecht gesattelt.' '' In den meisten, nicht in allen Fällen, wird man in der Umgangsprache zur Not auch mit einfachem ''ist'' und ''sind'' bestehen. Das 2. Mittelwort und die Nennform (Infinitiv) lauten in nicht wenigen Zeitwörtern gleich und verführen dadurch zur unachtsamen Verwechslung: ,''Man hat oder wird mich verraten' ''— dies mag beim schnellen Sprechen unbemerkt durchschlüpfen, beim Lesen wird die Unzulässigkeit wohl alsbald entdeckt und übel vermerkt werden. Es bleibt nichts übrig, als zu wiederholen: ,''.. und wird mich verraten' '', oder eine Wendung wie: ..,''und wird es wieder tun' ''. Unbegründeter Wechsel der Zeitform, besonders der Übergang aus der lebhaft erzählenden Gegenwart in die 1. Vergangenheit oder umgekehrt, wirkt als Stümperei: ,''Um 1 Uhr kommt der Kaiser im Schlosse an, empfängt die Generäle und begab sich dann ..' '' Die dritte Vergangenheitsform, die Vorvergangenheit (Plusquamperfectum), wird von einigen Sprachlehrern für gradezu undeutsch erklärt. Das ist eine Übertreibung und widerspricht der Wirklichkeit. Die Form ist allerdings in der Redesprache nicht sehr beliebt, weil ihre strenge Beachtung für geziert gilt; sie kommt aber selbst in der belebtesten Rede vor und ist in der gepflegteren Schriftsprache unentbehrlich. Nur braucht sie nicht überall da zu stehen, wo das Lateinische sie fordert; in sehr vielen Fällen kann die 2. Vergangenheit die 3. vertreten: ,''Als er das sah, wurde er zornig' '' wäre im Lateinischen falsch, es müßte heißen: ''.. gesehen hatte''; im Deutschen läßt die lebendigere Vergegenwärtigung des Vorgangs durch die Sprache die 2. Vergangenheit zu: der Zorn wird schon während des Sehens als aufsteigend gedacht. Eine scharfe Untersuchung des Zeitverhältnisses der beiden Vorgänge, des Sehens und des Zürnens, $Seite 286$ muß der deutschen Fügung den Vorrang der Genauigkeit vor der gerühmten lateinischen geben.  
Im Lateinischen und Französischen, zwei starrgefügten Sprachen, herrscht ein Gesetz der Zeitenfolge, das für Nebensätze Übereinstimmung der Grundzeiten mit denen des Hauptsatzes vorschreibt. Auf eine Vergangenheitsform des Hauptsatzes muß eine im Nebensatz folgen. Auch hierin zeigt das Deutsche größere Beweglichkeit, gepaart mit einer der Wirklichkeit näher kommenden Sprachphantasie. Im Lateinischen und Französischen muß es heißen: ,''Er sagte ihm, er wäre (war) mit ihm sehr unzufrieden.' '' So kann das Deutsche auch sagen, und das wäre nicht falsch; nahezu Regel aber ist in solchen Fällen die Gegenwart des Nebensatzes geworden: ,''Er sagte ihm, er sei ..' '' Die älteren Sprachmeister, die fast alle vom Lateinischen ausgingen, forderten fürs Deutsche dieselbe Zeitenfolge wie fürs Latein, und Schopenhauer schloß sich ihnen an. Eine beliebige Prosaseite Lessings, Goethes, Schillers hätte ihnen allen zeigen können, daß die vielgerühmte lateinische ,Consecutio temporum' (Zeitenfolge) ein enger Eisenpanzer sei (nicht: ''wäre''!), worunter der Atem des deutschen Satzes stocken müsse. Während das Lateinische blindlings den Inhalt jedes abhängigen Satzes in die Zeit des Hauptsatzes verlegt, begabt das Deutsche seine Nebensätze mit der Zeitform, die ihrer lebendigen Zeitvorstellung entspricht. ,''Bismarck erklärte Benedetti, er sei entschlossen, im äußersten Falle ..' '' Man übersetze den abhängigen (indirekten) Nebensatz mit seiner mittelbaren Beugeform in einen selbständigen (direkten) Satz, so lautet er: ,''Ich bin entschlossen' '', und hieraus wird in der nichtwörtlichen Wiedergabe: ''er sei ..'' Offenbar ist diese Zeitenfolge die natürlichere, die lebensvollere, und es ist nur ein Zeichen gefunden und scharfen Sprachgefühls — nicht, wie der Büttel auch bei dieser Gelegenheit schimpft, der ,Abstumpfung' —, daß das Deutsche mehr und mehr die Sei-Formen der Gegenwart denen der 1. Vergangenheit vorzieht. In dem obigen Beispiel ist zweifellos eine gedachte Gegenwart der Zeitboden, worauf der Nebensatz ruht, nämlich die damalige Gegenwart, in die wir durch die 1. Vergangenheit des erzählenden Hauptsatzes zurückversetzt werden. Diese Zurückversetzungskraft mangelt dem Sprach- $Seite 287$ geist des Lateinischen und Französischen. Nur da, wo eine Sei-Form der Gegenwart nicht von der Bin-Form zu unterscheiden ist, muß im guten Deutsch die Sei-Form der 1. Vergangenheit stehen, und dies wird in der guten Rede- und Umgangsprache auch meist beachtet. Selbst in Fällen, wo schon ein Nebensatz mit Sei-Form der Gegenwart vorausgegangen, folgt in einem zweiten Nebensatz die Sei-Form der 1. Vergangenheit, wenn sonst die Sei-Form mit der Bin-Form zusammenfiele: ,''Er fragte mich, ob ich nicht wisse, wer er sei, und warum ich ihm denn nicht hülfe.' '' In diesen Fällen wird die Sei-Form der 1. Vergangenheit durchaus als eine Gegenwartsform empfunden.  
In zwei Hauptpunkten gilt es hier, Zweifel zu klären, Schwankungen in Festigkeit zu verwandeln: in der Frage nach den Grenzen des Zusammenziehens und in der nach der Beugung der Zusammensetzungen. Wie überall so hier darf uns kein von außen der Sprache aufgezwungenes eigenherrliches Gelehrtengesetz, sondern einzig die zurzeit von den Gebildetsten gesprochene und geschriebene Sprache leiten. Ganz ebenso wie bei den zusammengesetzten Hauptwörtern begegnen wir bei den Zeitwörtern überall der Bekrittelung oder beschimpfenden Verhöhnung vieler Neubildungen, die sich den Krittlern und Schimpfern zum Trotz, meist noch bei deren Lebzeiten, siegreich durchgesetzt haben. Als allgemeines Gesetz fürs Urteil kann gelten: die Duldung selbst der kühnsten Versuche ist vernünftiger als die engherzige Beanstandung. Denn hier wie allenthalben im Sprachleben entscheidet der Erfolg im großen, nicht der Geschmack eines noch so selbstbewußten vereinzelten Eigenbrötlers. Als immer wieder vorzuführendes Beispiel muß gelten die jetzt in die Hunderte gehende Zahl der heute selbstverständlich erscheinenden, unentbehrlichen Verdeutschungen solcher Fremdwörter, die noch vor hundert, vor fünfzig, vor zehn Jahren für ebenso unersetzbat wie unübersetzbar galten. Auch unter den heute von keinem mehr beanstandeten Neubildungen gibt es mehr als ein zusammengesetztes Zeitwort, das beim ersten Auftreten ausgelacht und verdammt wurde. ,''Beanstanden' '' selbst gehört dazu, ,''verantworten' '' gehört dazu; ,''beanspruchen, vervollständigen, beweihräuchern, beschlagnahmen' '' — alle zu ihrer Zeit ebenso verhöhnt und bemakelt wie von den heutigen Sprachmerkern ,''entgegennehmen, klarlegen, richtigstellen, abstürzen' ''. Wie steht es danach mit dem Neuwort ''vermittelpunkten'' statt ,''zentralisieren', ,entmittelpunkten' '' statt ,''dezentralisieren' ''? Wer kein ausgemachter Philister und Hasser jedes neuen Sprachgebildes ist, tut gut, sein Gelächter beim ersten Anhören zu unterdrücken, denn wer zuletzt lacht, lacht am besten, so z. B. heute die Sprachgeschichtschreiber über das Gelächter Derer, die sich einst lustig gemacht über ,''beanstanden, vervollständigen' '' usw. ,''Vermittelpunkten' '' ist genau so gut gebildet wie ''beanstanden'' oder ''beanspruchen''. ,''Punkten' '' ist kein $Seite 211$ neues Wort: ,''der Schmetterlingsflügel ist schwarzgepunktet' '' ist gutes Deutsch. ,''Vermittelpunkten' '' ist fünfsilbig, ,''zentralisieren' '' fünfsilbig; ,''entmittelpunkten' '' ist auch fünfsilbig, ,''dezentralisieren' '' sechssilbig. ''Ver-'' und ''entmittelpunkten'' sind jedem Deutschen verständlich, sind aus guten deutschen Wörtern und Formsilben gut zusammengesetzt, fügen sich in die Betonungswelt des Deutschen. ''Zentralisieren'' und ''dezentralisieren'' sind aus Rackerlatein griechischen Stammes, einer griechischen Ableitungssilbe ''is'', einer altfranzösischen ''ier'', einer deutschen ''en'' zusammengeleimt, — und das nennt man ein Wort, das eine Sprache? Das Einzige, was nach alledem gegen ''ver-'' und ''entmittelpunkten'' einzuwenden bleibt, ist: sie sind neu, man hat sie nie zuvor gehört. Dieser Einwand wird sehr schnell stumpf: man spreche sich solche Neuworte langsam, dann hurtiger hintereinander fünfmal, zehnmal vor, wende sie versuchsweise zunächst im eignen Kreise an, erprobe ihre Brauchbarkeit, ihre Bequemlichkeit und — warte auch dann noch mit seinem schnellen Urteil, bis man das eines Andern, mehrer Andrer gehört hat. Der Einwand aber: das Wort ist nur deutsch, der in Wahrheit sehr vielen Bekrittelungen unausgesprochen zugrunde liegt, ist doch für einen deutschen Menschen mit nicht ganz verderbtem Sprachgefühl ohne Bedeutung. Übrigens würden ''vermitten'' und ''entmitten'' dieselben Dienste tun und noch eher die Welschwörter ausmerzen helfen. Zusammenziehungen von dieser Art: ''das Inaugenscheinnehmen, das untertänige Aufdembauchliegen, das Nachhausekommen, das Ausderrollefallen'' (Nietzsche), ''das Answerkgehen, das Lendengürten, das Vonderhandweisen, das Zuspätkommen, das Aufunseinprasseln, das Böckeschießen'' sind weniger auf ihre sprachliche Ratsamkeit als auf ihre Stilwirkung zu prüfen. Man wird mit Recht der Verallgemeinerung solcher Bildungen keinen Geschmack abgewinnen; in seltnen Fällen und zu besonderer Durchschlagswirkung, namentlich zu spaßhafter, sind sie nicht zu verschmähen. Sie sind ja auch keine Eigentümlichkeit oder gar Unart des Deutschen allein; das Griechische kennt dieselbe Fügung: die Zusammenziehung ganzer Satzglieder in hauptwörtliche Form durch das bequeme, dem Lateinischen mangelnde, Mittel des vorangesetzten sächlichen Geschlechtswortes  
Die Frage nach der Beugung der zusammengesetzten Zeitwörter richtet sich: auf Trennen oder Nichttrennen (''ich übersiedle'' oder ''ich siedle über''?); auf ''..ge.. ''oder nicht ''..ge..'' (''ich bin übersiedelt ''oder ''übergesiedelt''?); auf die Stellung von ''zu'' in der Nennform (''zu durchstreichen'' oder ''durchzustreichen''?). Die zur Lösung der meisten, nicht aller, Zweifel von P. Pietsch knapp und klar zusammengefaßte Regel lautet: ,Hat die erste Silbe des Zeitworts den Hauptton, so tritt (im 2. Mittelwort) ''ge-'' davor; hat ihn eine andre Silbe, so bleibt es weg; bei den trennbar zusammengesetzten Zeitwörtern entscheidet die Betonung des einfachen Zeitwortes'. Beispiele sind: ''liebkosen, geliebkost'' (nicht ''liebkost'' oder ''liebgekost''), ''násführen, genasführt'' (nicht ''nasführt'' oder ''nasgeführt''); ''überánstrengen, überangestrengt''. In den weitaus meisten Fällen trifft das sichre Sprachgefühl selbst des Weniggebildeten das Richtige. Er setzt kein ''ge-'' zu den Mittelwörtern ''beunruhigt, verabfolgt''; schiebt es richtig zwischen erstes und zweites Glied in ''aufgemacht, nachgesehen, durchgekämpft''; setzt das ''zu'' vor das ganze Zeitwort in: ''zu beunruhigen, zu benachrichtigen, zu überwachen''; schiebt es richtig dazwischen in: ''zuzumachen, aufzunehmen, überzuschnappen, durchzuführen''; irrt sich auch nicht in den meisten der Zusammensetzungen mit verschiedenem Ton und Sinn: ,''Ich habe dieses Buch übersetzt, Ich bin übergesetzt (über den Strom), Ich fange an, das Buch zu übersetzen, ich übersetzte es, ich bin über den Strom übergesetzt, fange an, ihn überzusetzen''. Zweifelhaft oder schwankend sind manche Fälle, an denen sich die wüste Polterei austobt und jeden der ,groben Verlotterung des Sprachgefühls' anklagt, dessen Sprachgefühl im mindesten von dem des Polterers abweicht. Fälle dieser Art sind u. a.: ''übersiedeln, durchkosten, unterlaufen, durchbrechen, anerkennen, obliegen, überfahren, überführen''. Heftig getadelt werden von den meisten Sprachmeisterern Sätze wie: ,''Ich bin nach Berlin übergesiedelt' ''— ein Andrer tadelt: ''übersiedelt!'' —, ,''überzusiedeln, siedelte über''. — ''Ich habe alle Freuden durchkostet. — Mir ist dabei ein Fehler unterlaufen. — Die Dämme sind durchgebrochen. — Das Kind wurde übergefahren. — Die Leiche wurde in die Heimat überführt. — Ich anerkenne diese Tatsache. — Mir obliegen so viele Pflichten.' '' Die Tadler stehen $Seite 213$ auf ihrem Schein: Hat das erste Glied den Ton, so ..; wenn nicht, so .. Sie hätten nicht nur vor einer Regel der Sprachlehre, sondern ebenso vor dem gesunden Sprachgefühl Recht, wenn ihre Voraussetzung in allen von ihnen bemängelten Fällen zuträfe; die aber trifft nicht zu! Entscheidend ist in der Tat in fast allen oben aufgeführten Zweifelfragen die Stelle des Tones; aber wo ist die? Der Tadler kennt und anerkennt nur Eine Tonstelle, die unerschütterlich und für jedermann feststehe, und hierin steckt der Fehler seines Tadels, hierin der Grund und zugleich die Lösung der Zweifel. Der Ton ist nicht, oder nicht mehr, in allen Fällen der von den Sprachmeistern allein gehörte und erlaubte, sondern es sind Tonverschiebungen eingetreten und es treten immer neue ein. Es ist einfach nicht wahr, daß ''überfáhren'' die einzige oder einzig richtige Betonung sei; vielmehr hört man noch häufiger, auch von sehr gebildeten Menschen: ,''Laß dich nicht überfahren!' '' Ich selbst betone meist so, seltner ''überfáhren'', habe durch Umfrage bei befreundeten Schriftstellern und Gelehrten, ebenso bei Ungelehrten, deren Sprache doch auch mitzählt, festgestellt, daß meine Betonung keine Ausnahme ist, sondern eher einer Regel folgt. Mithin bin ich berechtigt, ja grade nach der Sprachregel verpflichtet, zu sagen und zu schreiben: ,''Das Kind wurde übergefahren'.'' Man mache dieselbe Probe mit den andern Beispielwörtern, z. B. mit ''übersiedeln'': man wird sich überzeugen, daß die Betonung ihrer Nennform schwankt, daß also die von dem Gebot des Sprachmeisters abweichende Form des 2. Mittelwortes daher rührt. ''Übersiedeln'' kommt bei Menschen auf gleicher Bildungstufe, nicht bloß Österreichs, in zwei Betonungen vor: ''übersiedeln, übersíedeln''. Wer auf die erste Art betont, spricht und schreibt richtig ''übergesiedelt''; wer ''übersíedeln'' spricht, hat ''übersíedelt'' zu schreiben. Also kein Fehler, sondern Bestätigung der Richtigkeit eines durchgehenden Betonungsgesetzes liegt grade in den Schwankungen vor. Man hat Fügungen bei Schiller fehlerhaft finden wollen: ,''Er durchlas den Brief noch einmal, .. den Mahomet zu durchgehen' '', die sich einfach dadurch erklären, daß Schillern eine Betonung der Nennformen ''durchlésen, durchgéhen'' vorschwebte. Diese Betonung ist vielleicht nicht die allgemein $Seite 214$ herrschende, aber ist sie fehlerhaft? Wer darf sich herausnehmen, festzusetzen, daß ausschließlich und für alle Zeit ''überfáhren, übersíedeln'' betont werden darf, wenn doch unzweifelhaft auch die abweichenden Betonungen tatsächlich in den besten Sprachkreisen vorkommen? Es ist gar nicht ausgeschlossen, daß die Tonverschiebungen sich grade bei den zusammengesetzten Zeitwörtern immer weiter ausbreiten, wahrscheinlich mehr in der Richtung auf das erste Glied: soll dann der neuen herrschenden Betonung zuwider in alle Ewigkeit gebeugt werden nach einer verklungenen und verschollenen Betonung? ''Übersíedelt'' und ''übergesiedelt'' sind gleich gut, ''überfáhren'' und ''übergefahren'' desgleichen; und wenn auch daraus nicht folgt, daß es nun beliebig heißen dürfe: '',Ich habe das Buch übersetzt oder übergesetzt' '', — in den Fällen, wo die Betonung der Nennform ins Schwanken gekommen und nicht mehr gewaltsam festzuhalten ist, muß Freiheit in der Beugung herrschen. Es hieß lange ''übersetzen'' für das überschreiten von Flüssen; seit einiger Zeit beginnt die Betonung zu schwanken, im Heere z. B. heißt es vielfach ''zu übersétzen'', und wer nun einmal so betont, verdient keinen groben Rüffel, wenn er entsprechend beugt: ,''Der Strom wurde (von den Truppen) übersetzt' '', statt: ,''Die Truppen wurden über den Strom (über)gesetzt'.'' Es gibt auch bei den mit andern Vordergliedern als den Vorwörtern zusammengesetzten Zeitwörtern die gleichen Schwankungen. ''Frohlocken'' wird auf zwei Arten betont: ''fróhlocken'' ist fast ebenso häufig wie ''frohlócken'', weshalb es kein Wunder ist, daß, zumal bei den Dichtern, die mannigfachsten Beugeformen vorkommen: ,''Ich habe frohgelockt, gefrohlockt' '' neben ,''Mein Herz hat frohlockt' ''. Wer eine dieser Formen für falsch erklärt, der muß auch eine einzige Betonung von ''frohlocken'' verfügen und — für immer durchsetzen. Ich selbst weiß nicht, ob ''fróhlocken'' oder ''frohlócken'' die einzig richtige Aussprache ist. Ich vermute nach meinen Beobachtungen der wirklich gesprochenen Sprache, daß meine mir an Bildung und Sprachgefühl gleichen Volksgenossen in der Betonung untereinander abweichen, daß die Einen sagen: ''Fróhlocke nicht zu früh!'', die Andern: ''Frohlócke ..'' Aber ich ziehe daraus nicht den Schluß der Sprachmeisterei, daß mir die Aufgabe zugewiesen sei — von wem denn? —, die $Seite 215$ mir zufällig im Augenblick besserklingende Aussprache für die richtige, die richtigste zu erklären, sondern daß der Sprachbeobachter und -darsteller die Pflicht hat, Freiheit zu gewähren, wo sie der guten Sprache eher zur Zierde als zum Schaden gereicht. Wie muß ''liebkosen'' richtig betont, demnach richtig gebeugt werden? Ich weiß es nicht; ich höre nur, daß es von den gebildeten deutschen Zeitgenossen auf zwei Arten betont wird: ''líebkosen, liebkósen''; ja, ich entdecke bei der Selbstprüfung, daß ich — schrecklich zu gestehen — keine feste Betonung habe, sondern je nach dem Taktschritt meines gesprochenen Satzes verschieden betone. Ich habe deshalb nichts auszusetzen an dem Nebeneinander von: ,''Sie hat ihr Kind geliebkost, liebkóst' '', ja ich entsetze mich nicht über den Vers Goethes: ,''Und liebgekost und liebgeherzt ..' '' (Der untreue Knabe.) Hieran sehen wir das Streben der deutschen Sprache, dieser nahezu allein unter allen Bildungsprachen, zu Schwankungen des Tones in den zusammengesetzten Zeitwörtern, meist zum Zweck sehr feiner und nützlicher Unterscheidungen des Sinnes. Man denke an: ''úmgehen, umgéhen; übertreten, übertréten; dúrchdringen, durchdríngen; dúrchschauen, durchscháuen; únterbreiten, unterbreíten; wíederholen, wiederhólen; únterschlagen, unterschlágen''. Selbst bei ''úmgürten'' und ''umgürten'' fühlen wir einen Bedeutungsunterschied. Und da will man der Sprache verbieten, mit dem Ton auch da abzuwechseln, wo sich noch kein Sinnesunterschied herausgebildet hat? Das würde ja nur den Versuch dazu im Ansatz unterdrücken heißen. Bei den Zusammensetzungen mit ''miß'' gibt es besonders viele Schwankungen der Beugeformen, nämlich ungefähr so viele wie Schwankungen der Betonung der Nennform. Man betont bald ''míßfallen'', bald ''mißfállen, míßtrauen'' neben ''mißtraúen, míßdeuten'' und ''mißdeúten, míßachten'' und ''mißáchten, míßbrauchen'' neben ''mißbraúchen, míßbilligen'' und ''mißbílligen''. Wir hören und sehen daher nebeneinander: ''míßgefallen'' und ''mißfállen, gemíßtraut'' und ''mißtraút, gemíßdeutet'', auch ''míßgedeutet'', und ''míßdeutet'', zu ''míßbilligen'' (nicht: ''míßzubilligen''), er hat es ''mißbilligt'' oder ''gemißbilligt'', ja sogar: ''mißgebilligt'' usw.). $Seite 216$ — Das von einem der Sprachmeisterer verhängte strenge Verbot, jemals (von einem andern: niemals!) ''ge-'' zwischen ''miß'' und Stamm einzuschieben, gilt nicht; ''mißgedeutet, mißgeachtet'' sind ebenso gute Sprache geworden wie ''mißgestaltet'' und ''mißgestimmt'', nach deren Entsprechung sie gebildet sind. Verbindungen mit ''miß'', deren Ton nicht schwankt, schwanken auch nicht in ihren Beugeformen: ''mißverstehen'' wird nur auf eine Art gebeugt. Die volle Zornesschale wird von fast allen Sprachmeisterern ausgeschüttet über das Nichttrennen zusammengesetzter Zeitwörter wie ''anerkennen, aberkennen, anvertrauen, obliegen, auferlegen, vorenthalten, anbefehlen'' usw., also gegen Satzfügungen wie: ,''Anerkennst du seine Macht?'' (Goethe), ''Er anbefahl dem Alten die Obhut seiner Wohnung'' (Keller), ''Weiter ausbreitete sich der Aufruhr' '' (Rosegger). In solchen Fällen ist allerdings nicht das Schwanken der Betonung, sondern ein andrer Grund maßgebend, der übrigens auch bei der Nichttrennung der Zusammensetzungen mit schwankendem Ton mitspricht. Die nachdenklichen Schreiber wissen aus überreicher eigner Erfahrung und aus der Beobachtung ihrer Kunstgenossen, welche Gefahr für den Satzbau und damit für den Stil in der Trennung lauert. Sätze wie: ,''Aus stärkstem Idealismus, zugleich ein Naturalist und ein Phantast, erkannte er'' (folgen 4 Druckzeilen mit Zwischenschachtelei) ''.. an' '' kommen in fast jeder Zeitung, fast jedem wissenschaftlichen Aufsatz massenhaft vor. Dieses unerträgliche ,Nachklappen' eines wichtigen, oft des entscheidenden Wortes zu verhüten, gibt es noch andre Mittel (vgl. S. 318); aber eines der nicht zu verwerfenden ist die mit Maß, nicht etwa verallgemeinernd geübte Nichttrennung des zusammengesetzten Zeitwortes, besonders in einem längern Satzgefüge, wo sich beim besten Willen nicht immer das Dazwischentreten von allerlei andern Ausdrücken zwischen den Zeitwortstamm und das getrennt nachfolgende Vorwort vermeiden läßt. In den obigen Sätzen Goethes, Kellers, Roseggers ist die Nichttrennung nicht zu bemängeln. Aber soll man nicht schreiben dürfen: ,''Ich anvertraue dir mit gutem Gewissen und ohne einen Zweifel an deiner Fürsorge mein einziges Kind' '' —? Muß man um einer Regel willen schreiben: ,''Ich vertraue dir mit gutem Gewissen und ohne einen'' $Seite 217$ ''Zweifel an deiner Fürsorge mein Kind an' ''? Die Schriftsteller, die in solchen Fällen nicht trennen, kennen die Regel so gut wie die Sprachmeister, weichen aber mit gutem Bedacht und auf eigne Gefahr von ihr ab, um einen wertvollen Gewinn für den Satzbau zu erzielen, den sie mit Recht höher schätzen als den Gehorsam gegen eine Regel, deren Unverbindlichkeit sie aus zahlreichen Beispielen der besten älteren Schreiber kennen. Bei Luther wimmelt es von Fügungen wie: ,''Er heimsucht die Missetat.' '' Nun gar diesen Gebrauch der dichterischen Ausdrucksform zu untersagen, ist ganz unzulässig: ,''Aufsprang der Küster'' (Immermann). — ''Ich anbete in ihr (der Sonne) das Licht und die zeugende Kraft Gottes' '' (Goethe). Daß kühne Abweichungen von einer im allgemeinen nicht umzustürzenden Regel nicht dem Anfänger, auch nicht dem Alltagschreiber zustehen, will ich ausdrücklich hinzufügen; jedoch der sprach- und stilsichere Schriftsteller darf durch eine starre Regel nicht eingezwängt werden. Überaus töricht ist in diesem Falle, wie in manchem schon behandelten, der von einigen Sprachmeistern gemachte Einwand: ,Wenn ''ich anerkenne'' erlaubt sein soll, dann muß es auch ''zu anerkennen'' sein' (vgl. S. 201 zu ,''gefragen' ''). Keineswegs! So verfährt nur der alles über einen Leisten zerrende Sprachmeisterer, dessen erstes Wort Regel, dessen zweites Analogie heißt; nicht aber die große Künstlerin Sprache, die sich hier eine nützliche Freiheit herausnimmt, dort eine wertlose verschmäht. Das Eine tun, das Andre lassen, und jedes an seinem richtigen Platz: das ist einer der unbewußt wirkenden Grundsätze, nach denen alle Sprachen, die deutsche ganz besonders, verfahren. Einige alte Zusammensetzungen trennen niemals, dulden auch keinen Einschub von ''zu'': ''willfahren, radebrechen, ratschlagen, handhaben, beschlagnahmen''. Wie es von ''willfahren'' nicht heißt ''willfuhr'', sondern ''willfahrte, gewillfahrt''; von ''ratschlagen'' nicht ''ratschlug'', sondern ''ratschlagte, geratschlagt'', von ''handhaben'' nicht ''handhatte'', sondern ''handhabte, gehandhabt'', von ''beschlagnahmen'' nicht ''beschlagnahm'', sondern ''beschlagnahmte, beschlagnahmt'', — so darf es von ''radebrechen'' nicht du ''radebrichst, er radebricht, ich radebrach'' heißen, sondern: ''radebrechst, radebrecht, radebrechte, geradebrecht. Radebrechen'' ist keine Zusammensetzung mit dem Zeitwort $Seite 218$ ''brechen'', sondern die Ableitung eines in seiner ursprünglichen Bedeutung nicht völlig aufgeklärten Hauptwortes ''die Radebreche''. Ähnliches gilt für die Grundwörter von ''handhaben, beschlagnahmen, ratschlagen.''  
Zu wiederholen ist hier, daß, wo einmal die Sei-Form notwendig erscheint, sie unverkennbar bezeichnet werden muß (vgl. S. 197). Sei-Formen, besonders der 1. Vergangenheit, die sich nicht von Bin-Formen sofort äußerlich unterscheiden, dürfen nicht gebraucht werden. An die Stelle der verwechselbaren Sei-Form der Gegenwart tritt die der 1. Vergangenheit, und kein Schreiber stoße sich daran, in einem Satze beide Zeiten der Vergangenheit nebeneinander zu gebrauchen: ,''Ihm war's, als läge er im Sarge und der Jüngste Tag sei angebrochen.' '' Allerdings ist hier ''läge'' ohne Not statt ''liege'' gesetzt, ohne darum falsch zu sein. Zu dem Verbot von ''wenn'' mit ''würde'' ist zu ergänzen, daß es sich nicht auf die Fälle bezieht, wo ''würde'' nicht Hilfszeitwort der umschreibenden Beugung, sondern das selbständige Zeitwort ''Werden'' ist: ,''Wenn alle Blätter der Bäume zu weißem Papier würden ..' '' ist richtig; falsch wäre: ,''.. zu weißem Papier werden würden' ''. Richtig ist es auch als Sei-Form von ''würde'' in der Leideform: ,''Wenn du plötzlich in ein finstres Loch geworfen würdest ..' ''  +
Über die Wahl dieser Kunstausdrücke steht das Nötige auf S. 47. Daß die Leser die deutschen Bezeichnungen ebenso gut verstehen und für ihr Urteil verwenden werden wie die nichtssagenden Indikativ und Konjunktiv, gilt mir für ausgemacht. Noch heftiger als über den Unterschied der 1. und 2. Vergangenheit tobt unter den Sprachmeistern der Streit, unter den grobianischen Stockmeistern der Zank, über Unterschied und Unterscheidungswert der Bin- und der Sei-Form. Wer nicht in jedem Falle so scheidet wie der auserlesene Feinmeister, begeht einen ,plumpen Schnitzer'; wer einmal die Bin-Form setzt, wo angeblich die Sei-Form allein zulässig wäre, handelt ,barbarisch', und im allgemeinen herrscht ,Verrohung' — bis auf den einen wunderfeinen Grobian. Die wichtigste, an die Spitze jeder Betrachtung gehörende Frage ist auch hier nicht die: Wie soll geschrieben werden, um keinen ,Fehler' angestrichen zu bekommen?, sondern: Wie wird von der Mehrzahl der Gebildeten gesprochen und geschrieben, ohne das Bewußtsein, ein verrohter Barbar zu sein, und ohne bei den Gebildeten und den wahren Sprachkennern anzustoßen? Schon aus dem Gezeter der Sprachmeister gegen die vermeintlich zunehmende Fehlerhaftigkeit der Bin-Form dürfen wir schließen, daß wir es hier nicht mit der ,zunehmenden Dummheit und Roheit' einzelner Schreiber zu tun haben, sondern mit einem steten und, wie es scheint, unaufhaltsamen Wandel der innern Anschauung und des daraus $Seite 288$ entspringenden Sprachgebrauchs. Der Rückgang der Sei-Form ist keine auf Deutschland beschränkte Spracherscheinung: in England ist diese Form so verkümmert, daß sie kaum mehr in Betracht kommt; in Frankreich wird von den Sprachlehrern geklagt, daß die Zahl der Sprechenden und Schreibenden mit richtigem Gebrauch des Subjonctif immer tiefer sinke, und zur Bestätigung hören wir, daß man dort zu spotten beginnt über die Gesuchtheit der Peinlinge ,qui savent manier leur subjonctif (die ihre Sei-Form, besonders die unsrer 1. Vergangenheit, des Passé défini, zu handhaben wissen). Ähnliche Klagen ertönen in Italien. In Deutschland schwindet, vor unsern hörenden Ohren noch mehr als vor unsern lesenden Augen, die Sei-Form immer mehr; in der niedern und mittlern Umgangsprache hört man sie — und zwar allein die der 1. Vergangenheit, nicht die der 2. und 3., und nicht die der Gegenwart, geschweige die der Zukunft — fast nur noch in bedingten Hauptsätzen (,''Ich wäre ja dumm ..' '') und in Bedingungsätzen mit ''Wenn'': ,''.. wenn ich das täte.' '' In der landläufigen Schriftsprache kommt die Sei-Form der 1. Vergangenheit noch ziemlich oft vor, die der andern Zeitformen selten. In der edlen Schriftsprache ist es damit reicher bestellt, doch geht es auch da durchaus nicht nach den Förderungen der Sprachmeister, was schon darum nicht möglich ist, weil diese einander in vielen Hauptpunkten schroff widersprechen. Der sprachgebildete Leser empfindet noch das irrtümliche Fehlen der Sei-Form und erkennt den in der Tat groben Schnitzer, der in manchen Fällen in einer falschen Bin-Form stecken kann. Dies ist der herrschende Zustand, von dem wir ausgehen müssen. Der Gebildete, ja selbst der nachdenkliche Mittelgebildete fühlt sogleich den Unterscheidungswert der Sei-Form in Sätzen wie: ,''Der zweite Teil des Faust verdient, daß man ihn liest; .. verdient, daß man ihn lese.' '' Die Bin-Form besagt: Man liest ihn, und er ist auch wert, gelesen zu werden. Die Sei-Form: Man liest ihn nicht, oder doch nicht genug, und doch verdiente (Sei-Form) er (''würde er verdienen, lohnen''), gelesen zu werden. — ,''Wer nicht die Welt in seinen Freunden sieht, Verdient nicht, daß die Welt von ihm erfahre'' (Goethe).' — ,''Vom Auswärtigen Amt muß gefordert werden, daß es die Deutschen im Auslande besser schützt als bisher' ''. Es schützt sie also schon besser? Warum dann die Forderung? $Seite 289$ Es scheint sie eben nicht genügend geschützt zu haben, daher die Forderung — eines noch nicht vorhandenen, eines erst zu hoffenden Zustandes —, ,''daß es sie besser schütze' ''. Daß hier unbedingt die Sei-Form stehen muß (oder: ''müsse''), fühlt jeder, der überhaupt sinnvoll spricht. Ebenso wird fast jeder Anstoß nehmen an der Bin-Form in Goethes Satz: ,''Es ist sehr Not, daß man wieder Deutsch schreiben lernt.' '' Wenn das Not ist, und wenn es wieder geschehen soll, so geschieht es in der Wirklichkeit noch nicht, also muß die Sei-Form stehen, die da sagt: ''Es sei!'', nicht: ''Es ist''. Die Hauptregel für den Unterschied der beiden Aussageformen, die ja nur zweien zugrunde liegenden Denkformen entsprechen, ist allbekannt: die Gewißheit, Bestimmtheit, Wirklichkeit wird durch die Bin-Form; die Ungewißheit, Unbestimmtheit, Unwirklichkeit, das Bevorstehen, Werden, die Vermutung, der Zweifel, die Vortäuschung durch die Sei-Form ausgedrückt. Wo diese Denkformen dem Schreiber klar sind, ja wo sie ihm nur leidlich zum Bewußtsein kommen, da wird der Gebildete kaum einen Fehler begehen. Aber die vielen, vielen Zwischenstufen! Und das Denken wie Sprechen der Menschen geht in zahllosen Fällen nicht auf schnurgrader Bahn, sondern auf sehr verschlungenen Pfaden und oft auf schmaler Grenzlinie zwischen zwei Möglichkeiten. Und über allem waltet auch hier die Berge und Zeiten versetzende Phantasie des Sprechenden und der Sprache: sie entrückt uns aus der Gegenwart in die Zukunft, macht diese unsichre Ferne zur bestimmten Gegenwart, setzt uns mitten in sie hinein, so daß wir fühlen: Da bin ich, und fordert von uns den Ausdruck der Bestimmtheit: die Bin-Form. Kein Mensch spricht in lebhafter Rede: ,''Ich wünsche, daß du endlich einmal Vernunft annehmest' '', wie alle Sprachlehrer verlangen, sondern: ,''.. daß du .. annimmst' ''. Niemand sagt: ,''Nimm ein Licht mit, damit du nicht fallest'', sondern jeder, auch der Hochgebildete, spricht: ,''.. damit du nicht fällst' ''. Ebenso wird gesprochen: ,''Wir fürchten, daß er nicht kommt.' '' Und doch sieht jeder Gebildete ein, daß für die Schriftsprache, allerdings nur für die gepflegte, ''annehmest, fallest, komme'' das ,Richtigere' ist oder — wäre. ,''Ich bitte mir aus' '', ruft ein Belästigter empört, ,''daß dieser Mensch nie wieder meine Schwelle betritt.' '' — ''Betrete'' muß es heißen!, so warnt ihn der Sprachmeister; aber das nächste Mal, bei gleicher $Seite 290$ Gelegenheit, wird jener ebenso sprechen. Schreiben wird er wahrscheinlich in wohlgesetzter Rede auf Papier: ''betrete''. Wo immer ein solcher Zustand der Zweisprachigkeit eingetreten ist, da zeugt alle Erfahrung dafür, daß die Sprechsprache den Sieg über die Schreibsprache davontragen wird (nicht: ''werde''!). Der heutigen Sprechsprache grobe Vorwürfe wegen des Rückganges der Sei-Form zu machen, wagen selbst die gestrengsten Herren von der Sprachmeisterei nicht mehr, sondern sie beschränken sich auf die Forderung, in der Schriftsprache die Unterschiede der Aussageformen überall da zu bewahren, wo das ruhig überlegende, feingebildete Sprachgefühl die Unterschiede der Denkformen deutlich empfindet und deren Ausdrucksformen zu würdigen sich Zeit läßt. Auf diesem Standpunkt stehe auch ich, auf ihn wünsche ich die Leser zu stellen. ,Freuen wir uns', sage ich hier, wie ich es in meiner Deutschen Stilkunst gesagt habe, ,dieses geringen Restes alten Formenreichtums; folgen wir dem Rufe der sprachedeln Isolde Kurz: „Tretet zusammen und rettet den Konjunktiv!" — hüten wir ihn jedenfalls sorgsam. Dulden wir nicht, daß er durch gröbliche Schlamperei verwüstet werde; erlauben wir aber den Regelschmieden nicht, den wirklich bedachtsamen Schreibern unnötige Fesseln anzulegen.' Wir möchten Goethes Verse: ''Eines schickt sich nicht für Alle, Sehe'' ''jeder, wie er's treibe, Sehe jeder'', ''wo er bleibe, Und wer steht, daß er nicht'' ''falle'' beileibe nicht in die Bestimmtheitsform gesetzt sehen. Aber wir haben schwerlich etwas auszusetzen an der Form des Satzes: ,''Ich kann nicht finden, daß Wagners Musik läutert' '', mag sie auch einem unfehlbaren Sprachpapst, der einzig ,''läutere' '' fordert, ,doppelt beleidigend' klingen. Die einzige Frage, die sich der Schreiber unnachsichtig stellen und beantworten muß, ist die: Wird die Farbe meines Gedankens in diesem Falle durch die Bin-Form so genau wiedergegeben, daß ein unbefangener Leser, der nicht grade ein sprachgelehrter Fädchenzähler ist, sie genau so auf sich wirken fühlt, wie ich es beabsichtige? In dem letzten Beispiel wird der bescheidnen Fehlbarkeit, der Zulässigkeit einer abweichenden Ansicht Genüge getan durch ,''Ich'' $Seite 291$ ''kann nicht finden' '' mit dem Inhalt des Nichtgefundenen in der Bin-Form; die Sei-Form läutere würde keine notwendige Denkfarbe hinzufügen, und — wieder muß es gesagt werden — die Künstlerin Deutsche Sprache zieht nur bei einem zwingenden Kunstbedürfnis dem einfachsten Ausdrucksmittel ein andres vor. Die Sei-Form aber erscheint den Schreibenden, auch den gebildetsten, als die weniger einfache Form, weil sie in der Redesprache verhältnismäßig selten ist, und weil alles Seltne für das Sprachgefühl leicht das Gepräge des Schwierigen, ja des Gesuchten annimmt. In solchen Fällen, wo das Gefühl und das Bedürfnis die Sei-Form fordern, wird sie von den Gebildeten in der Schriftsprache richtig angewandt; wo die Sprachmeister sie entgegen dem schriftlichen Sprachgebrauch verlangen, da begeht der Schreiber keinen Fehler, wenn er dem guten Sprachgebrauch mehr gehorcht als den Sprachmeistern. Jeder leidliche Schreiber weiß, wie sich unterscheiden und wie er demnach zu unterscheiden hat: ,''Sie wollte ihm nicht schreiben, daß sie krank war' '', denn sie war es wirklich und wollte ihn nicht beunruhigen — und: ,''Sie wollte ihm nicht schreiben, daß sie krank wäre' '' (oder ''sei''), denn sie wollte ihm keine Unwahrheit schreiben. Übrigens würde selbst die zweite Form die Auffassung erlauben, daß eine wirkliche Krankheit bestand. Die endgültig richtige Absicht solcher Sätze ergibt sich nur aus dem Zusammenhang. Heißt es von einem Beamten: ,''Er bittet um Urlaub, weil er krank ist' '', so wird man ihm den Urlaub zumeist wohl gewähren, denn da handelt es sich schon um das Urteil: Er ist wirklich krank. Dagegen würde in dem Falle, wo es hieße: ,''Er bittet um Urlaub, weil er krank sei' '', erst ein ärztliches Zeugnis bestätigen müssen, daß die Angabe des Bittenden auf Wahrheit beruhe (oder: ''beruht''!). ''Daß sich das größte Werk vollende'', ''Genügt ein Geist für tausend Hände''. Zweifellos nur in der Sei-Form: ''vollende''. ,''Ich wartete, bis er kam; Ich wartete, bis er käme' '' — zwei ganz verschiedene Arten des Wartens mit ganz verschiedenem Ergebnis: im ersten Falle mit der Bin-Form kam er endlich, und ich konnte aufhören zu warten; im zweiten mit der Sei-Form bleibt ungewiß, wie lange ich gewartet hatte, und ob nicht ganz vergeblich. In solchen Sätzen wird $Seite 292$ der Mittelgebildete beide Aussageweisen sogar in der Rede meist unterscheiden, im Geschriebenen immer. ,''Der Herausgeber ist zu der Ansicht gekommen, daß sich diese Rede Ciceros nicht für die Schule eignet.' '' Fühlt ein Leser die Notwendigkeit, hier ''eigne'' zu setzen? Würde die Farbe des Satzes, der Bestimmtheitsgrad der Ansicht, würde irgendetwas durch ''eigne'' geändert werden? Ich denke, nein; aber der selbsicherste aller Sprachmeister, der ,Sichere Mann', wie Mörike solche Menschen in seinem köstlichsten Scherzgedicht gleichen Titels benennt, fordert bei Strafe des Prangers mit der Schandtafel ,Wegen Sprachroheit': ''eigne''! Wie würde der Satz in wörtlicher Wiedergabe jener Ansicht lauten? ,''Ich bin der Ansicht, diese Rede Ciceros eignet sich nicht für die Schule' '', und da diese Ansicht keine haltlose Vermutung, sondern eine wohlbegründete bestimmte Überzeugung ist, so steht ihr Inhalt in der Bestimmtheitsform. So soll sie auf Hörer und Leser wirken; so wirkt sie auf jeden, der sich nicht mit einem Drahtverhau von sprachlebensfremden Voreingenommenheiten, Regeln genannt, gegen jedes Eindringen der Sprachwirklichkeit verrammelt hat. Selbst die strengsten Sprachmeisterer müssen zugeben, daß in Wunsch- und Absichtsätzen mit Gegenwartsform, wo also die Erfüllung noch ganz in der blauen Unwirklichkeit schwebt, die Bin-Form des abhängigen Satzes gerechtfertigt ist. ,''Wir bitten um Ruhe, damit man hören kann!' '' Es wäre ein starkes Stück, hier ''könne'' zu fordern, denn kein Mensch spricht so, und ich rate keinem, so zu sprechen, obwohl es bei genauer Untersuchung nicht falsch genannt werden könnte. Nun vergleiche man aber den Satz vom Auswärtigen Amt auf S. 288: dort Sei-Form, hier Bin-Form — läßt sich irgendeine feste Regel aufstellen, wonach dort die eine, hier die andre Form stehen muß (oder ''müsse''!)? So kommt es denn für eine Unmenge von Sätzen, darunter Wunsch- und Absichtsätzen, letzten Endes einzig auf das Gefühl des Schreibers an, welche der beiden Zeitformen seinem Gedankengange den unzweideutigsten Ausdruck verleiht (oder ''verleihe''). Ich habe freie Wahl, diesen Satz: ,''In Goethes Briefen an Frau von Stein findet sich kein Wort, das unbedingt ..' '' entweder mit ''beweist'' oder mit ''bewiese'' zu schließen; denn beide Formen drücken gleich genau meinen Gedanken aus. Da ich mich aber beim Schreiben nur für eine Form ent- $Seite 293$ scheiden muß und nicht, wie Buridans entschlußloser Esel zwischen zwei gleichen Heubündeln verhungerte, zwischen zwei gleichwertigen Wortformen mit Schreiben aufhören will, so lasse ich mich zur Wahl von ''bewiese'' nur durch den mir besser klingenden Tonfall des Satzausganges bestimmen. Der Sprachmeisterer verlangt unbedingt ''bewiese'' und redet sich ein, dabei Abschattungen des Gedankens zu empfinden, die außer ihm kein Mensch ahnt. Selbst der oft gerügte angebliche Fehler in einem schönen von Brahms vertonten Gedicht von Allmers: ,''Mir ist, als ob ich längst gestorben bin' '' ist, obwohl hart an der äußersten Grenze des noch Erträglichen, doch nicht so fehlerhaft, wie einige Merker schelten: die starke Umsetzungskraft des Dichters, dazu ein nicht zu verachtendes Stilgefühl für die allzu große Richtigkeit von ''sei'' hat den trefflichen Allmers, der sicherlich gewußt hat, daß die Alltagsprachlehre hier die Sei-Form fordert, dennoch gezwungen, ''bin'' zu schreiben, und das unbefangne Gefühl des Lesers oder des Hörers des gesungenen Liedes wird kaum ernsten Anstoß daran nehmen. Der Büttel mit dem kranksinnigen Krittlerohr schmält: ,Das bringt man doch beim Singen kaum über die Lippen.' — Aber man vergleiche: ,''Er schüttelte sich, als wenn ihn ein Grauen überkam' '' (Frenssen)! Hierin wird das innere Ohr jedes Lesers eine Härte fühlen, die nur durch ''überkäme'' gelindert werden könnte. Nimmt irgendein Leser Anstoß an diesen Versen in Schillers Jungfrau: ''Wer sie ist'', ''Will sie allein dem König offenbaren'' —? Wird hierdurch die Absicht der Rede irgendwie getrübt? Oder würde es etwas andres besagen, wenn es hieße: ''Wer sie sei?'' Ich glaube, daß kaum ein Leser einen nennenswerten Inhaltsunterschied zwischen beiden Fassungen empfindet. — Ich habe mir eine unschuldige Täuschung erlaubt: Schiller hat zufällig ''sei'' geschrieben! Wer aber nach dieser Berichtigung auf einmal wunderwelche geheimnisvolle Zwischentöne aus dem ''sei'' heraushört, der lebt in einer Gehörswelt, die uns verschlossen ist. Ich wage die Vermutung, daß Schiller eher einem Satze der Sprachlehre zuliebe, wohl gar unter dem alle Welt damals beherrschenden Einfluß Adelungs, als aus innerstem Dichtersprachgefühl heraus ''sei'' geschrieben hat. $Seite 294$ Für mich hat dieses ein ,Schulschmäcklein', wie Mörike dergleichen nannte, gleich dem von den Sprachmeistern geforderten ''sei'' in dem Gedichte von Allmers. Und wie denkt der Leser über diesen Vers in Hermann und Dorothea, der wirklich so dasteht: ''Sieht man am Hause doch gleich so deutlich, wes Sinnes'' ''der Herr sei'' —? Stünde hier ''ist'', so zweifle ich nicht, die Gestrengen von der Sprachmeisterei würden diesen Vers längst als Musterbeispiel für die zwingende Notwendigkeit der Bin-Form nach einem Zeitwort des deutlichen Sehens, also der Gewißheit, benutzt haben. Aber Goethe hat nun einmal ''sei'' geschrieben und uns allen damit einen starken Beweis mehr für die unleugbare Tatsache geliefert, uns alle ,deutlich sehen' lassen, daß im Neuhochdeutschen kein völlig sichres Notwendigkeitsgefühl für den Unterschied der beiden Aussageweisen in allen Fällen besteht (oder: ''bestehe''?). Und ist es nicht beachtenswert, daß Goethes berühmte Verse: ''Volk und Knecht und Überwinder'', ''Sie gestehn zu jeder Zeit'', ''Höchstes Glück der Erdenkinder'' ''Sei nur die Persönlichkeit'' fast von jedem aus dem Gedächtnis Anführenden gewandelt werden in: ''.. Ist nur die Persönlichkeit'' —? Sind alle, die so sprechen und sich etwas Rechtes dabei denken, verrohte Sprachbarbaren? Das Ergebnis dieser Betrachtungen ist gleich dem über die Vergangenheitsformen tröstlich: die deutschen Sprecher und Schreiber beherrschen ihre Muttersprache nicht so elend, wie die einzig und allein in Alldeutschland richtig schreibenden vier oder fünf Sprachmeister glauben machen wollen. Sie lassen sich vom deutschen Sprachgeiste führen, der sie durch die Abschattungen des Gedankens richtig lenkt auch ohne den Leitfaden der Sei-Form in jedem von einem scheltenden Pritschmeister genannten Falle. Die Sei-Form ist doch nicht ein köstlicher Selbstzweck, der Schreiber ist nicht um ihrer willen da, sondern sie um seines unzweideutigen Ausdrucks willen; wenn er diesen ungetrübt mit der Bin-Form zu gestalten vermag, so tut er kein Unrecht. Eine Sprach- $Seite 295$ form, die keiner spricht, die uns entgegen der natürlichen Sprachentwicklung von eigensinnigen Tiftlern gewaltsam auch da aufgedrängt wird, wo für die auszudrückende Gedankenwelt kein Bedürfnis besteht, ist lebensunfähig, und selbst die Schule, die mit Recht jede brauchbare feine Unterscheidung zu hüten bestimmt ist, soll versinkende Redeweisen nicht zu retten versuchen.  
Die Sprache hat das Bestreben, aus ihrem eignen Rohstoffvorrat immer neue Ausdrucksmittel zu schaffen, wie das Bedürfnis der Sprechenden sie fordert. Kommt sogleich die Sprachgartenpolizei mit der Heckenschere, sagt Nein und schneidet weg, was über die grade Linie hinaussprießen will. Die deutsche Sprache wie alle andern schafft sich aus Beiwörtern unbegrenzt neue Hauptwörter, und dies muß der Sprachmeister wohl oder übel zulassen. Aber die Sprache findet es auch bequem und nützlich, aus Zeitwörtern neue Hauptwörter zu bilden, um bestimmte Begriffsfarben wiederzugeben, und sie hat dies immer getan. Wir verdanken diesem Umbildungsvermögen so unentbehrliche Hauptwörter wie ''das Vermögen, das Belieben, das Essen und Trinken, das Leben'' und ''Sterben''. Nun ergreift dieses Streben (!) einem Bedürfnis gemäß gewisse Zeitwörter des Innenlebens, nicht erst heute, sondern schon früh (Luther: ''das Sinnen, das Trachten, das Wollen''), aber in neuerer Zeit stärker und umfassender als zuvor, und da fühlt sich der Sprachmeister verpflichtet, einzuschreiten (''zum Einschreiten!''). Gewiß, da wo alte Hauptwörter den ganzen Begriffsinhalt ausdrücken, bedarf es keines zeitwörtlichen Doppelgängers, obwohl in jedem einzelnen Falle zu untersuchen ist, ob nicht durch das hauptwörtliche Zeitwort eine besondere Begriffsfärbung, die des Tuns, statt des Zustandes, bewirkt wird. ''Der Genuß'' und ''das Essen'' (''des Brotes, des Obstes'') sind nicht genau dasselbe, ''die Begierde'' und ''das Begehren'', ''die Luft'' und ''das Verlangen, der Aufgang'' und ''das Aufgehen'' (''der Sonne, des Mondes''), ''die Erscheinung'' und ''das Erscheinen, der Tod'' und ''das Sterben, der Zerfall'' und ''das Auseinanderfallen'', — welcher Schriftsteller wird sich je durch einen Schriftgelehrten überzeugen lassen, daß hier überall Gleichheit vorliegt? Ebenso steht es mit den als ,richtige Modenarrheit' geschmähten zeitwörtlichen Hauptwörtern ''das Können, das Wollen, das Wissen'' usw. Sie wahllos statt ''Kunst, Wille, Kenntnis'' zu setzen, ist ver- $Seite 219 $kehrt; sie zu verbieten, ist anmaßliche Unwissenheit. ,''Er hat zwar ein bedeutendes Können, aber sein Wollen ist schwach' '' — das soll man nicht schreiben dürfen? Schrieb doch Luther vor vierhundert Jahren treu nach dem Griechischen: ,''Wollen habe ich wohl, aber Vollbringen das Gute finde ich nicht' '' (Römer 7, 18). Und Goethe hat ,''Statt heißem Wünschen, wildem Wollen, statt lästigem Fordern, strengem Sollen' '' gewiß nicht aus ,richtiger Modenarrheit' geschrieben, sondern weil ihm dies, wie uns allen, als richtiges Deutsch erschien. ''Haben'' mit ''zu'' wird noch in anderm als dem früher erwähnten Sinne (S. 190) gebraucht: ,''Sie haben zu schweigen' '', wogegen nichts zu sagen ist; aber nicht: ,''In jeder Klasse hat ein Schwamm sich zu befinden.' '' Dieses ''Haben'' mit ''zu'' hat Befehlskraft, und toten Dingen befiehlt man nicht. In Goethes Götz steht: ,''Prozessieren tu ich mein Tag nit mehr' '' — ist das erlaubt? Je nachdem. Einem Dichter ist das noch heute am rechten Ort erlaubt; in der gemütlichen Umgangsprache kommt es fortwährend vor: ,''Lesen tu ich heute nicht mehr' '', und selbst in der Schriftsprache wird man die gelegentliche Anwendung je nach der Stilart zu besonderer Wirkung nicht bemängeln. ,''Ich habe ihn reden hören, Er hat das tun wollen, Sie hat nicht schweigen wollen, Er hat nicht kommen können, Ich habe es kommen sehen, Wir haben das tun dürfen, Er hat das leiden müssen, Ich habe ihm lesen helfen, Du hast das nicht zu lernen brauchen, Er hat ihn gehen heißen, Der Graf hat mich sitzen sehen, Ich hab es öfters rühmen hören, ich habe dich jetzt kennen lernen'' (diese drei bei Goethe), ''Ich habe in England mich an viel gewöhnen müssen' '' (Schiller) — ist denn das alles richtig, wenngleich es bei Goethe und Schiller vorkommt? Muß es nicht richtiger oder alleinrichtig heißen: ''gehört, gewollt, gekonnt, gesehen'' usw.? Die Nennform ist in allen obigen Fällen untadlig; sie ist nämlich nur der Form nach ein Nennwort, ursprünglich eine stark gebeugte Nebenform des 2. Mittelwortes auf ''en'' statt auf ''t'' und ist zulässig bei den Hilfszeitwörtern ''dürfen, mögen, müssen, können, wollen, sollen'' und bei Zeitwörtern wie ''lassen, brauchen, machen, lernen, hören, sehen, fühlen, heißen''. Die Mittelwortformen auf ''t'' sind zwar in allen solchen Fällen zulässig, klingen aber in vielen steifer als die auf ''en'': ,''Sie hat es nicht finden wollen' '' ist $Seite 220$ geschmeidiger und entspricht der wirklichen Redesprache besser als ''.. finden gewollt''. Allerdings kommen daneben die Formen auf ''t'' oder mit ''ge-'' auch bei den Besten vor: ,''Hast du nie einen Stern sich schneuzen gesehen?'' (Egmont), ''Sie hatte in ihrem Leben genugsam einsehen gelernt' ''(Wilhelm Meister), wo mindestens ebensogut ''sehen'' und ''lernen'' hätte stehen können (nicht: ''stehen gekonnt''!). Man wird nicht sprechen noch schreiben: ,''Ich habe dir die Arbeit machen geholfen' '', sondern: ''.. machen helfen''. Man hüte sich vor dem Mißbrauch der Leideform, wo eben nicht gelitten, sondern getan wird, und gebe der Tatform ihr Vorrecht. Sätze mit Zeitwörtern in Tatform wirken bei sonst gleichem Gefühlsinhalt lebendiger als die in Leideform: diesen Grundsatz des Stils wende man auch auf die einfacheren Fälle an, wo man nicht die höchste Stilwirkung beabsichtigt. ,''Man beabsichtigt' '' ist einfacher und klarer als ,''beabsichtigt wird' '' (''wie ich zuerst geschrieben hatte'', nicht: ''wie zuerst von mir geschrieben worden war''!). Also nicht: ,''Es wird gebeten' '', sondern ,''Wir bitten' ''; nicht: ,''Ich wurde warten gelassen' ''. sondern ,''Er oder Man hat mich warten lassen' '' (vgl. S. 219). In der Befehlsform sind Irrungen eingerissen, die noch nicht Sprachgebrauch geworden, also zu meiden sind. Es heißt nicht ''helfe, befehle, empfehle, gebe, messe, esse, trete, vergesse'', auch nicht in den abgekürzten Formen: ''helf', geb', mess', vergess' es nicht''! Schärfe und Kürze liegt im Wesen der deutschen Befehlsform, und es ist ein, merkwürdig weitverbreiteter, Irrtum, daß die Formen mit ''..e'' (''komme!, setze dich!'') die feineren, die gekürzten (''komm!, setz dich!'') die weniger feinen sind. Im Gegenteil, die Formen mit ''..e'' sind unecht, also unfein, und es muß richtig, also fein lauten: ''hilf!, befiehl!, empfiehl!, gib!, miß!, iß!, tritt!, vergiß!, geh!, komm!, bleib!, tu!, sieh!'' (neben dem redensartlichen ''siehe!, siehe da!''), aber nicht: ''seh!'' Das Häkchen in der Befehlsform ist nicht nur überflüssig, sondern falsch, denn es ist kein ''e'' ausgefallen. Wo die Befehlsform auf ''e'' echt ist, wie in ''trage!, bitte!, bete!, schwöre!, sage!, reite!'', da bleibt das ''e'', darf aber in der lebhaften und in der dichterischen Sprache wegfallen, wo die Form des Zeitworts es nicht, wie z. B. in ''wandle!'', verbietet. Nur landschaftlich, und da aus Französelei entstanden, ist ,''Es hat' '' statt ,''Es gibt' ''; — unbedingt zu verwerfen. $Seite 221$ Das Zeitwort in der Mehrzahl nach ,''Eure Majestät, Eure Exzellenz' '': ,''der Herr Minister — haben geruht, befohlen' '' usw. ist Brauch, aber nicht nur durchaus sprachwidrig, also unschön, sondern auch weniger wahrhaft vornehm als die Einzahl: ,''Eure Majestät hat befohlen' '' sieht von der Person des einzelnen Fürsten ab, denkt nur an die das Fürstentum umfließende Erhabenheit und spricht von dieser in der Einzahl wie von einer höheren Macht. In allen andern Fürstenländern herrscht nur der Gebrauch der ehrfurchtsvolleren Einzahl, und diese war auch in Deutschland in älteren Zeiten fester Sprachgebrauch. Geändert kann die schlechtere Fügung nur durch die deutschen Fürsten selber werden. — Von Sachverständigen im Heer wird behauptet, diese Mehrzahl der Ehrerbietung (,''Der Herr Hauptmann haben befohlen' '') sei notwendig, denn sie diene zur Stärkung der Mannszucht. Ich enthalte mich eines Urteils. Man unterscheide ''brauchen'' und ''gebrauchen'', denn die gute Sprache unterscheidet sie streng: ''brauchen'' ist nötig haben, gezwungen sein, müssen; ''gebrauchen'' ist benutzen, sich bedienen, anwenden. ,''Was brauchst du zu dieser Arbeit? Ich brauche dazu einen Hammer und eine Zange. Ich kann diese schlechte Zange dazu nicht gebrauchen. — Die Zeit braucht Männer'' (sie bedarf ihrer, aber sie hat sie noch nicht). — ''Das Volk weiß seine großen Kräfte nicht zu gebrauchen. Wir brauchen das Geld dringend und würden, wenn wir es bekämen, es gut gebrauchen.' ''— ''Brauchen'' wird mit der Nennform eines andern Zeitwortes in gutem Deutsch nur mit ''zu'' verbunden: ,''Ich brauche das nicht zu tun; Brauche ich dich das erst zu fragen?' '' Die Weglassung des ''zu'' ist landschaftliche Unart oder schriftstellerische Nachlässigkeit. Steht schon ein abhängiges ''brauchen'' mit ''zu'', so muß zur Vermeidung des zweimaligen zu anders gefügt werden. Also nicht: ,''Er nahm einen Wagen, um nicht zu gehen zu brauchen' '', sondern: ''.. ,um nicht gehen zu müssen' ''. Aber nicht etwa zur Vermeidung eines Schönheitfehlers einen groben Sprachfehler begehen und das eine ''zu'' auslassen! Also nicht: Es glaube keiner, das ''zu'' nicht setzen ''zu brauchen''; sondern: .. nicht setzen ''zu dürfen''. ''Eignen'' in der Bedeutung ,''zu eigen sein, gehören' '' ist etwas ungewöhnlich, aber nicht falsch: ,''Dieses Feld eignet mir' '' und ähnliches kommt bei guten Schriftstellern vor; des- $Seite 222$ gleichen die Fügung: ,''Ich eigne das Feld' '' (''habe es zu eigen, besitze es''). ''Erstaunen'' als zielendes Zeitwort ist getadelt worden; man dürfe nur sagen: ''Ich bin erstaunt'', nicht: ''Das erstaunt mich''. Man darf ohne Furcht vor gerechtem Tadel beides sagen. ''Nutzen'' und ''nützen'' sind nicht dasselbe; ''nutzen'' = ''benutzen, ausnutzen, gebrauchen'' (''Er weiß seine Seit zu nutzen''); ''nützen'' = ''nützlich sein'': ,''Wer seine Zeit zu nutzen weiß, der weiß seiner Zeit zu nützen.' '' Eine arge Verwirrung ist zwischen Gebrauch und Mißbrauch von ''Bedingen'' eingerissen; man verwechselt es zumeist mit ''verursachen, herbeiführen'', und schreibt z. B.: ,''Das schlechte Wetter dieses Sommers bedingte'' (hatte zur Folge) ''eine mittelmäßige Ernte''. — ''Den Sieg bedingen'' (führen herbei) ''Führung und Tapferkeit.' '' Dies ist zwar vielfacher Sprachgebrauch, aber falscher und schlechter, aus der Feder von Schreibern, die ''bedingen'' für ein Allerweltswort zur Bezeichnung irgendwelcher wechselseitig ursächlicher Beziehungen halten, ungefähr so wie ,''funxchonieren' ''. Das ist es nicht, sondern es bedeutet in gutem Deutsch nur: ''zur Bedingung haben, zur Voraussetzung haben'' oder ''machen, an die und die Bedingung knüpfen, erfordern''; nicht aber: ''als Ursache haben'', auch nicht: ''zur Folge haben''. Man darf also sagen: ,''Der Sieg bedingt'' (fordert, macht zur Bedingung) ''Führung und Tapferkeit' ''; nicht aber das Vernünftige Verhältnis umkehrend: ,''Den Sieg bedingen Führung und Tapferkeit' '', denn dies ergäbe den Unsinn: ''Führung und Tapferkeit haben den Sieg zur Voraussetzung''. Zur Folge haben sie ihn, sie sind dessen notwendige Vorbedingungen, nicht umgekehrt. Der Mißbrauch von ''Bedingen'' ist aber schon so tief eingewurzelt, daß ich keinen bessern Rat weiß, als für ein Jahrzehnt das sonst vortreffliche Wort ganz zu meiden, bis dessen einzig richtiger Sinn wiederhergestellt ist. Man verfeme bis dahin das Wort als gefährliches Schwamm- und Wucherwort. Daß ''Erblicken'' und ''Sehen'' nicht dasselbe sind, fühlt jeder, — also spreche man nicht von jedem ruhigen ''Sehen'' wie von einem plötzlichen ''Erblicken'' oder ''Gewahrwerden''. ,''Ich erblicke in Bismarck den größten deutschen Staatsmann' ''? Nein, den bekomme ich nicht plötzlich zu erblicken, sondern ich kenne ihn längst und sehe in ihm usw. ''Erblicken'' statt $Seite 223$ ''Sehen'' ist im letzten Menschenalter erstaunlich vorgedrungen; ich sehe (!) darin keine Bereicherung, ärgre mich, so oft ich es erblicke (!), und rate, sich davon fernzuhalten. ''Sich entblöden'' muß, wenn man es durchaus gebrauchen will, mit ''nicht'' verbunden werden (''Er entblödete sich nicht, zu behaupten'') und ist dann eine etwas abschwächende Bezeichnung für: ''sich erdreisten, sich erfrechen'' (''sich nicht schämen''). ''Entbrechen'' = ''enthalten'' wird gleichfalls nur mit der Verneinung gebraucht: ,''Er konnte sich nicht entbrechen, zu bemerken ..' '' Wer etwas ''besitzt'', der hat es; aber nicht alles, was man hat, ist ein ''Besitz'', darf also auch nicht unterschiedlos durch ''Besitzen'' bezeichnet werden. Man vergesse nie den sprachlichen und gedanklichen Zusammenhang von ''Besitz'' und ''besitzen''. Man ''besitzt'' keine Schulden, denn sie sind zweifellos kein ''Besitz'', sondern man ''hat'' sie; Preußen ''besitzt'' ein großes Netz von Staatsbahnen, aber es ''hat'' Staatsschulden. Man ''besitzt'' ein Haus und einen Garten, ''besitzt'' Silber und Gold, Vieh und Gerät. Ob es zulässig sei, vom ''Besitzen'' eines Kindes zu sprechen, muß bezweifelt werden; man ''hat'' ein Kind. Ebenso widerspricht es der Bedeutung von ''Besitz'', daß man sagt: ''Ich besitze zwei Ohren, eine Nase''; ja selbst mit Eigenschaften, zumal mit schlechten, ''besitzt'' man nicht Ohren und Nase, sondern ''hat'' sie: ''Der Hund hat eine schlechte Nase''; er ''besitzt'' sie nicht, sie ist kein ''Besitz'' eines Hundes. Die Anwendung vom ''Besitzen'' grade bei den edelsten Dingen hat einen Unterton des Protzentums: man ''besitzt'' nicht Vaterlandsliebe, sondern ''hat'' sie. Freilich ist nicht zu leugnen, daß das Gefühl für die Unvornehmheit des ursprünglich nur aus Breitspurigkeit und Vornehmtuerei so sehr gemißbrauchten Wortes ''besitzen'' sich durch die lange Gewöhnung abgestumpft hat, und daß es heute selbst von den Gebildeten nur als gleichbedeutend mit ''haben'' empfunden wird. Es ist hoffnungslos, hiergegen anzukämpfen; allenfalls könnte man versuchen, den Gebrauch von ''Besitzen'' in Fällen wie diesen lächerlich zu machen: ,''Er besitzt eine Frechheit .., Die Sprache der Gelehrten besitzt einen Hauptfehler .., Sie besaß ein schweres Lungenleiden.' '' Allzu streng darf man nicht gegen ''Besitzen'' eifern, denn wo sind die Grenzen für den wertvollen, den angenehmen, den gleichgültigen, den wertlosen ''Besitz''?  
Es führt den deutschen Namen von seiner Doppelnatur: es steht in der Mitte zwischen Beiwort und Zeitwort, und die meisten Zweifel rühren her von dieser Mittelstellung. Die Sprachmeisterer verbieten der Zeitwortform den Zutritt zu vielen Anwendungen des Beiworts. Diese Abneigung hat ihren Hauptgrund in der Furcht, das Deutsche könne durch eine zu weit getriebene Mittelwörterei seinem Wesen entfremdet, dem Lateinischen und Griechischen, auch dem Französischen zu sehr angeähnlicht werden. Dieser Grund ist löblich, die Vorsicht vor Ausartungen berechtigt, dagegen die engherzige Bekämpfung eine Fessel für den Lebens- und Entwicklungstrieb des Deutschen. Es war einst reicher an Mittelwörtern, oder doch an deren Anwendungsmöglichkeiten; im Neuhochdeutschen aber herrscht eine Armut an diesem ausgezeichneten Ausdrucksmittel des knappen Satzbaus, die schon lange die kummervolle Aufmerksamkeit unsrer Schriftsteller erregt hat. Jean Paul eiferte über das Deutsche mit seiner ,erbärmlichen Partizipiendürftigkeit' und nannte es im Vergleich mit dem Römischen eine Hausarme, mit dem Griechischen eine Straßenbettlerin. Man sollte meinen, bei solchem verkümmerten Vorrat und Gebrauch des Mittelwortes müßten die Pfleger und Wächter der Sprache alles tun oder doch alles zulassen, was uns, ohne dem Geist unsrer Sprache zuwiderzulaufen, nach und nach zu einem reichern Gebrauch des Mittelwortes verhelfen könnte. Das Gegenteil geschieht: fast jede deutsche Sprachlehre, fast jedes Fortbildungsbuch der deutschen Sprache bemängelt Mittelwortwendungen, die dem gebildeten Gebrauch längst vertraut, ja unentbehrlich geworden sind. Da wird ,''bei einbrechender Nacht' '' für falsch erklärt und statt dessen ,''bei Einbruch der Nacht' '' gefordert; auch dürfe man nicht sagen: ,''das nächstens erscheinende Buch' '', weil die Formen auf ''end'' (1. Mittelwort) nur in der gegenwärtigsten Gegenwart zulässig seien; es müsse ohne Rücksicht auf die notwendige Kürze heißen: ,''Das Buch, das nächstens erscheinen wird' ''. Nun gar Tatform-Bedeutung mit Leideform-Mittelwort: ,''ein gedienter Soldat, ein studierter Mann' '' erregt heftiges Kopfschütteln solcher Sprachmeister, denen ihre Regel: Das 2. Mittelwort gilt nur für $Seite 225$ Leidewortsinn, höher steht als die sich frei regenden Kräfte einer Sprache, die ihre Dürftigkeit auf diesem Gebiet ablegen möchte. Wie für jede andre große Zweifelgruppe gilt für diese der Grundsatz: Wo sich der gebildete Rede- und Schriftgebrauch eine Freiheit und damit eine Bereicherung schon fest zu eigen gemacht, da soll sich die Regel fügen, sich mit einer biegsamen Ausnahme dem neuen Sprachstande anpassen und eher zu weit- als zu engherzig sein. Zahlreiche nicht mehr zu beanstandende Mittelwortfügungen, die zuerst für ganz falsch gegolten, müssen heute für ganz richtig gelten, weil alle Welt sie spricht und schreibt. Wo nur immer ein weitverbreiteter Sprachgebrauch sich mit einem annehmbaren Grunde der Auffassung der Sprechenden stützen läßt, da mag man lieber den sich auf die ,Logik' und die ,Analogie' berufenden Zweifel fallen lassen und ihn an den Sprachrichter der Zukunft verweisen, meist schon an den der allernächsten, der gar nicht begreifen wird, warum überhaupt gezweifelt wurde. Der Kampf gegen die beiden Mittelwörter richtet sich fast mit gleicher Schärfe gegen das erste wie das zweite, hat es aber beim ersten insofern leichter, als alle Welt einig ist, daß im Deutschen die meisten lateinischen und griechischen Anwendungen des 1. Mittelwortes unmöglich sind. Sie werden aber auch fast niemals gewagt. Wer schreibt denn: ,''Dies gesagt habend, ging er weg; Die Franzosen schlagend und einen ruhmreichen Frieden herbeiführend, konnte Moltke ..' '' Indessen solche schlechte Fälle des 1. Mittelwortes widersprechen nicht seiner Anwendung da, wo es zur Straffung des Satzes dient, ohne in Widerspruch mit Bau und Geist des Deutschen zu geraten. Was ist z. B. gegen die gehäuften Mittelwörter in diesem Satze Goethes zu sagen: ,''Der Dichter, der immer in sich lebend, strebend und urteilend, bald die unschuldigen Gefühle der Jugend ..' ''? Nicht nur nichts, sondern manches wäre für sie zu sagen. Oder gegen diese Sätze von Neueren: ,''Die stark verregnete Karte in der Linken, hier und dort einen Kameraden grüßend, mir von Patrouillen Auskunft geben lassend, trabte ich meinem Ziele zu'' (Liliencron). —'' Er weiß die einzelnen Kunstwerke hinreißend zu beschreiben, gern sittliche Motive herauskehrend' '' (Erich Schmidt). Der Leser wird bei Prüfung dieser Sätze selbst leicht ent- $Seite 226$ decken, welche Umständlichkeiten im Satzbau durch das knappe Mittelwort vermieden werden. Ich darf wohl auch einmal einen längst gedruckten Satz von mir als Beispiel hersetzen (aus ,Sprich Deutsch!', S. 178: ,.. ''ohne die Puristen, die nach deutscher Art ihre Sache um ihrer selbst willen betrieben und, nicht Spott noch Hohn achtend, sich vor der stärksten aller Mächte, der Dummheit, nicht fürchtend, Schritt vor Schritt ihren dornenvollen Weg dahinzogen.' '' Hätte ich besser getan, statt der sich glatt einfügenden Beisatzform zwei Nebensätze einzuschachteln, etwa mit ohne ''zu''? Ich wählte bewußt das Mittelwort, da ich mich vor den Sprachmeistern nicht über Gebühr fürchte. — Also keine allgemeine Verbieterei gegen das 1. Mittelwort da, wo es nicht als Beiwort, sondern als Beisatzwort erscheint; nur die überall nötige Warnung vor Mißbrauch und die Mahnung zur Vorsicht unter der Feder der Ungeübten. Verpflichtet ist ja niemand, sich in eine Sprachgefahr zu begeben, der er sich nicht gewachsen fühlt. Das 1. Mittelwort heißt auch das der Gegenwart, doch folgt heraus nicht, daß es ausschließlich und im engsten Sinne gegenwärtig gebraucht werden darf. Die Sprache versetzt sich mit ihrer, d. h. des Sprechenden, Phantasie in jede Zeit, Vergangenheit oder Zukunft, und gestaltet sie zur Sprachgegenwart. Wie es erlaubt ist, zu schreiben: ,''Ein im 18. Jahrhundert sterbender Deutscher konnte noch so gut wie nichts von Goethes Faust wissen' '', ist es auch erlaubt, von der ,''morgen stattfindenden Aufführung' '' zu sprechen. Unerlaubt jedoch ist die Vermengung von Vergangenheit und Gegenwart in Sätzen, die jede Gleichzeitigkeit, das Hauptmerkmal und -Erfordernis des 1. Mittelwortes, ausschließen. ,''Er verließ das Elternhaus, bald mit einer Nachricht zurückkehrend, durch die er allgemeine Freude erweckte.' '' Dieser Satz ist von ganz andrer Innenfügung als die oben angeführten, denen er nur im äußerlichen Bau ähnlich sieht. Alle Vernunft des Lesers sträubt sich gegen die Gleichzeitigkeit des Geschehens, die unabweislich durch das 1. Mittelwort bezeichnet wird, das ebensowohl Mittelwort der Gleichzeitigkeit heißen dürfte. Nicht ganz so schlimm steht es mit dem berühmten Beispielsatze Goethes: ,''Den 26. Oktober von Zürich abreisend, langten wir den 6. November in Nürnberg an.' '' Dies ist nachlässiger Tagebuchstil, kein musterhafter, aber zur Not erträglich. Wird die Gleichzeitigkeit — sie ist das Entschei- $Seite 227$ dende — ausdrücklich aufgehoben, so wird dadurch das 1. Mittelwort aller Gefährlichkeit entkleidet, und es darf fehlerlos geschrieben werden: ,''Wir freuen uns schon heute auf die morgen'' (nächstens, bald) ''stattfindende Vorstellung' '': hier haben wir eine der für die voraus- oder rückschauende Phantasie mit jedem Zeitbegriff verträglichen Gegenwarten. Die Bedenklichkeit des 1. Mittelwortes in einem Satze wie: ,''Die lebende Ankunft der Fische wird zugesagt' '' leuchtet ein; es ist aber nicht unmöglich, daß dergleichen sich zur festen Fachredewendung ausbildet, die wir alsdann wollend oder nichtwollend (!) hinnehmen müßten mit der Entschuldigung, daß eine andre bessre und ebenso kurze Ausdrucksform schwer zu finden ist. Hingegen ein 1. Mittelwort wie in ,''Diese Zigarren werden staunend billig verkauft' '' braucht niemand zu dulden, denn um der Ersparnis einer Silbe willen — ''staunend'' statt ''erstaunlich'' — darf man keinen groben Sprachschnitzer begehen. In manchen stehenden Wendungen nehmen nur noch die rückständigsten Sprachmeister an einem 1. Mittelwort Anstoß. Beanstandet werden kaum noch: ,''bei nachtschlafender Zeit, die sitzende Lebensweise, die schwindelnde Höhe, ein ausnehmendes Vergnügen, der meistbietende Verkauf, die fahrende Habe, die stillschweigende (selbstredende) Bedingung, der Brief wird umgehend beantwortet, die betreffende Stelle, die fallende Sucht' ''. Wer verliert heute noch ein Wort über solche ehemalige ,Ungeheuerlichkeiten'? Im 18. Jahrhundert ging die geduldete Freiheit noch viel weiter; da durfte Goethe wie alle Welt schreiben: ,''zu einer vorhabenden Reise' '', oder Herder: ,''die innehabende Stelle' '', andre: ,''das mit sich führende Gepäck, die unterhabenden Beamten' ''. In solchen Fällen hat sich heute eine größere Strenge durchgesetzt. Man hat eine Verbotstafel aufrichten wollen gegen das 1. Mittelwort der Hilfszeitwörter. Schon angesichts der mittelwörtlichen Hauptwörter ,''ein Werdender, alles Seiende' '' ist solch ein allgemeines Verbot unhaltbar. Man darf aber auch gegen ein gelegentliches echtes 1. Mittelwort von Hilfszeitwörtern nichts einwenden; ,''die mit solchem Eifer berühmt werden wollenden Künstler' '' ist eine fehlerlose Wendung. Das 1. Mittelwort bekommt die Bedeutung der Leideform durch Vorgesetztes ''zu'', aber nur bei abzielenden Zeitwörtern, die den 4. Fall des Zielwortes fordern: ,''die zu verrichtende Arbeit'', $Seite 228$ ''der zu strafende Verbrecher, die zu duldende Behandlung' ''; aber nicht: ,''die einzutretende Behandlung' ''. Die leidende Bedeutung dieser Form wird so deutlich gefühlt, daß sich keine Ausnahme, auch nicht in stehenden Fügungen, durchgesetzt hat. Im Kanzleideutsch kommen zwei vor: ,''die zu erscheinenden Wähler, die anzutretenden Mannschaften'''; aber man ist darüber einig, daß dies schlechtes Deutsch ist. Also auch nicht: ,''das im nächsten Jahr zu erscheinende Werk'' (wohl aber: ''das .. herauszugebende''), ''die heute einzutreffenden Reisenden' '' (wohl aber: ''die .. zu erwartenden'').  
Das Geltungsbereich des 2. Mittelwortes ist überwiegend die Vergangenheit oder doch die Vollendung, die abgeschlossene Handlung, wie z. B. in diesen zwei letzten Worten. Streng läßt sich jedoch die Grenzlinie zwischen Vergangenheit und Gegenwart auch hier nicht ziehen: ,''die von mir gebrauchte Feder' '' kann ebenso wohl heute, jetzt eben, wie gestern gebraucht worden sein und noch gebraucht werden. ,''Die in Deutschland beobachteten Gesetze' '' sind sowohl die beobachtet gewesenen wie die noch jetzt beobachtet werdenden Gesetze. Ebenso richtig ist ,''die von dem Lehrer innegehabte Wohnung' '' für Gegenwart wie Vergangenheit. Hier findet ein erlaubtes Zusammenfallen zweier Auffassungen bei derselben Form statt. Anders steht es mit der häufigen Vermischung der Zeitbegriffe beim 2. Mittelwort, die an eine ähnliche beim 1. erinnert (vgl. S. 226, aber auch S. 309): ,''Er fand kaum die Zeit, die in der Deutschen Rundschau abgedruckte Novelle zu vollenden.' '' — Das hatte er ja nicht nötig, er brauchte sie ja nur aus der Deutschen Rundschau abzuschreiben. Ach so, sie wurde jetzt nur in Eile vollendet und später in der Rundschau abgedruckt — also eine heutige Vorwegnahme morgiger Handlung, einzig aus dem Satzstopftriebe vieler deutscher Schreiber. ,''Scharnhorst vertauschte im Jahre 1801 auf Anraten des bei Auerstädt'' (1806!) ''gebliebenen Herzogs von Braunschweig den hannöverschen Dienst mit dem preußischen.'' — ''Der von Hagen ermordete Siegfried hatte Gunthers Schwester Krimhilde geheiratet.'' — ''Er arbeitete Jahre lang, von 1840 bis 1847, an seiner 1853 erschienenen Grammatik.'' — In einem Kriegsbericht des deutschen Flottenamts (der ,Admiralität') hieß es: ,''Zwei aus dem Mittelmeer zurück-'' $Seite 229$ ''gekehrte U-Boote haben zusammen 30000 Tonnen versenkt.' '' Gemeint war: ''sie hatten versenkt und sind dann zurückgekehrt.'' Will man die Zeiten nicht umkehren, so muß es heißen: ''.. sind nach Versenkung .. zurückgekehrt''. Kein Franzose, kein Engländer würde trotz gleicher Mittelwortfügung hierin einen Fehler begehen; warum begeht ihn ein Deutscher? Verführt wird er dazu durch die Vorderstellung des deutschen Beiwortes; im Französischen, wo das 2. Mittelwort dem Hauptwort stets als Beisatz folgt, ist dieser Fehler viel seltner und wird weniger übel empfunden. Rückbezügliche Zeitwörter haben kein 2. Mittelwort: Von dieser Regel gibt es im guten Deutsch keine Ausnahme, wohl aber manche im schlechten, gleichviel von wem es herrühre. ,''Ein sich verbreitetes Gerücht, die sich bestätigte Nachricht, das sich ereignete Unglück, der sich eingewurzelte Übelstand, ein sich eingefundener (eingeschlichener) Gast, der sich herausgestellte Fehler' ''— alles für ein gebildetes Sprachgefühl unmöglich. Dies ist um so bemerkenswerter, als es sich hierbei doch vielfach um abzielende Zeitwörter handelt, deren zweite Mittelwörter sämtlich sonst beiwörtlich stehen dürfen. ,''Das verbreitete Gerücht' '' ist richtig, ,''das sich verbreitete Gerücht' '' unerlaubt. Warum denn? Liegt hier nicht eine reine Willkür der Sprache — die wir übrigens auch hinnehmen müßten —, oder gar eine bloße Sprachmeisterregel vor? Keineswegs; vielmehr verbietet der Sprachgeist hier aus einem richtig gefühlten, von jedem leicht nachzufühlenden Grunde: das ''sich'' hebt den Begriff der Leideform auf, stellt den der Tatform, und zwar in der Gegenwart her, es ist also stets ''haben'' zu ergänzen, mithin die Anwendung der Leideform, also der Vergangenheit, für die beiwörtliche Stellung ausgeschlossen: ,''das sich verbreitete Gerücht' '' wäre ''das sich verbreitet habende Gerücht'', und aus ,''verbreitet habend' '' wird nicht ,''verbreitet' ''. Das Verbot bedeutet keine überflüssige Beengung der Sprache, denn in den meisten obigen Beispielen ist grade das ''sich'' ganz überflüssig: ,''das verbreitete Gerücht'' sagt dasselbe wie ,''das sich verbreitete ..' '', ,''die bestätigte Nachricht' '' dasselbe wie ,''die sich bestätigte' '', mag man immerhin in andern erlaubten Fassungen das ''sich'' setzen: ,''Die Nachricht hat sich bestätigt' '', und hierin eine andre Farbe zu sehen glauben als in ,''die Nachricht wurde bestätigt' ''. Unter den obigen Beispielen sind aber ein paar, die auch $Seite 230$ ohne ''sich'' unstatthaft wären: ,''das ereignete Unglück, der eingefundene Gast' ''. Aber auch etwa ,''der eingeschlichene Gast, der eingewurzelte Übelstand' ''? Und wollte man diese aus einem bald zu prüfenden Grunde zulassen, wie steht es mit ''dem mich betroffenen Unglück, mit dem zugenommenen Vermögen, der abgenommenen Kälte, den standgehaltenen Truppen, dem gefehlten Gelde'' (dagegen: ''der verfehlten Gelegenheit''!)? Hier wird der Leser mit einigem Sprachgefühl stocken und sagen: das geht nicht. Er hat Recht und kann sich auf die Regel berufen: Nur von abzielenden Zeitwörtern mit 4. Zielfall (''essen, lesen, töten'') darf das 2. Mittelwort als Beiwort gebraucht werden. ,''Der getötete Soldat' '' ist richtig, ,''der gelebte Soldat' '' ist falsch. Aber ist auch ,''der gestorbene'' (''verstorbene'') ''Soldat' '' fehlerhaft? Die Sprache hat hier wie so oft den schwer zurückzuhaltenden Trieb, eine an sich und in der Mehrzahl der Fälle richtige und nützliche Regel zu durchbrechen zugunsten von Ausnahmen, die einem dringenden Bedürfnis Befriedigung verschaffen, und für die wissenschaftliche Sprachbetrachtung darf es auch hier nur den Leitsatz geben: gewähren lassen überall da, wo der sich durchsetzende (nicht: ''sich durchgesetzte''!) Sprachgebrauch beweist, daß die Ausnahme nicht leichtfertig gemacht, sondern aus einem starken und nicht unberechtigten Bedürfnis entsprungen ist. Die Mehrzahl dieser Ausnahmen betrifft das beiwörtliche 2. Mittelwort von ziellosen Zeitwörtern mit ''sein''. ,''Der eingeschlichene Gast ist eingeschlichen, der Soldat ist verstorben, der Übelstand ist eingewurzelt' '', und das Sprachgefühl hat aus dem ''ist'' die Auffassung eines ''ist worden'' geschöpft, — mit Unrecht, aber nicht unerklärlich. Wir werden also nicht mehr solche Fügungen beanstanden, die nach der strengen Formregel unzulässig wären: ,''das verschwundene Mädchen, das verirrte Kind, der berittene Schutzmann, der befahrene Seemann, der gefallene Engel, der gestorbene Vater'' (aber kaum: ''der einen schweren Tod gestorbene Vater''), ''die gestern eingetretene Kälte, der entlaufene Hund, der entflogene (in den Wald geflogene) Vogel, die angewachsenen (aufgelaufenen) Schulden, der in den Fluß gefallene Knabe, der gestern im Gasthof abgestiegene und heute abgereiste Graf, der verspätet eingetroffene Zug' ''. Darf man z. B. schreiben: ''die der Sprachgefahr gewachsenen ..''? Ich habe so geschrieben, und ich kenne die Regel, der es angeblich zuwiderläuft. Aber $Seite 231$ man beachte: ,''Der von seiner Dienerschaft gefolgte König' '', und Schillers Verse: ,''Vom Jammer gefolget, Schreitet das Unglück' '' gelten, oder dürfen als erlaubt gelten; hingegen: ,''Der diesem Winter gefolgte Frühling' '' wird sicherlich von jedem Leser als unzulässig empfunden werden. Warum, obwohl doch in beiden Fäden zu ,''folgen' sein'' gehört? Weil in den beiden ersten Beispielen ein starkes Bedürfnis zum zweiten Mittelwort besteht, im letzten gar keins, denn die richtige Fügung ,''Der diesem Winter folgende Frühling' '' sagt dasselbe, sagt es aber richtig. So ist auch ,''der mir begegnete Freund' '' falsch, weil unnötig: ''der mir begegnende'' ist zugleich ''der begegnete''. Allerdings neigt die nachsichtige Sprache leicht dazu, das in einem Falle aus zureichendem Grunde erlaubte Wort auch in einem unbegründeten Falle zuzulassen: dem Sprachgedächtnis klingt der erlaubte Fall nach, also wirkt der gleiche Klang verführerisch und läßt die falsche Form mit durchschlüpfen. Die Sprachmeister, die sich für ihre Regeln immer auf die allmächtige ,Analogie' berufen, sollten sie wenigstens zuweilen auch für die Ausnahmen gelten lassen, denn sie ist in der Tat nach beiden Richtungen, zum Guten wie zum Unguten, wirksam, und Sache der Spracherziehung ist es, ihr nach Kräften die Richtung zum Guten zu geben, soweit dadurch nicht ein berechtigter Trieb zur Selbsthilfe getötet wird. Es heißt richtig: ,''die bestandene Prüfung' '' (''man hat die Prüfung bestanden, sie ist bestanden worden''); weil das abzielende ''bestehen'' richtig so gebraucht wird, wagt man auch zu schreiben: ,''die bestandenen Kadetten' '', und von da aus weiter: ,''die früher bestandene Freundschaft' ''. Falsch? Ist auch ,''gestandenes Wasser' '' falsch? Man sieht, wie die Grenzen zwischen erlaubt, mehr oder weniger erlaubt, unerlaubt hart neben- und durcheinander fließen. Es haben sich denn auch mehr und mehr zweite Mittelwörter in den Kreis der beiwörtlich gebrauchten eingedrängt, und es scheint damit so zu stehen: kein einmal eingedrängtes und eingedrungenes ist aus diesem Kreise hinauszubringen, auch nicht hinauszuhöhnen. Man hat zulassen müssen: ''den gedienten Soldaten, den gelernten Gärtner, den studierten Mann, den geschwornen wie den abgesagten Feind, den verdienten Staatsmann, den erfahrenen Arzt'' und ''den befahrenen Seemann, den gesetzten Mann'' und ''den in gesetztem Alter, den weitgereisten, den'' $Seite 232$ ''hergelaufenen, entflohenen, den durchgebrannten, den ehrvergessenen Menschen'', und so wird man sich noch an manches gewöhnen. Auch an ''die stattgehabte'', ja selbst an ''die stattgefundene Sitzung'', an jene leichter als an diese. Natürlich ist ,''die gestrige Sitzung' '' besser als ,''die gestern stattgehabte Sitzung' ''. ,''Die stattgehabte Sitzung war sehr besucht, die stattgefundene Beerdigung war sehr feierlich' '' — der Leser streiche ''stattgehabt, stattgefundene'' und prüfe selbst, wie überflüssig sie in solchen Sätzen sind. Aber mit staunenswerter Sicherheit wahrt die Sprache, will sagen das Sprachgefühl der Sprechenden, die scharfe Grenze inmitten der scheinbaren (nicht ''der anscheinenden''!, vgl. S. 168) Verwirrung, die doch nur anmutvolle Freiheit ist: ich habe kein Beispiel finden können für diesen Gebrauch des 2. Mittelwortes, gleichviel, ob von einem Zeitwort mit ''haben'' oder ''sein'', wo nicht festzustellen wäre, daß keine Regel, sondern einzig das auf keine andre ebenso kurze und gute Art zu befriedigende Bedürfnis dazu berechtigt, ja zwingt. Es zwingt stärker zur ''stattgehabten'' als zur ''stattgefundenen Sitzung'', weil ''innegehabte Wohnung'' als harmlos, als gleichsinnig und gleichklingend mit der nicht zu bemängelnden ''innegehaltenen Wohnung'' gilt und von ihr aus nur ein kurzer Schritt zur ''stattgehabten Sitzung'' ist; hingegen stutzt das Sprachgefühl vor der ''stattgefundenen Sitzung'', weil ihm das Ausdrucksbedürfnis durch ''stattgehabte'' oder durch die ganz unbedenkliche ''gestrige'' usw. gedeckt erscheint. Ja selbst mögliche Doppeldeutigkeiten schrecken das haarscharf zwischen Gefahren hinschreitende Sprachgefühl nicht: es wagt ''ungefrühstückt'' — Bismarck z. B. hat es gewagt, wie Schiller es gewagt hatte —, ''ungetrunken'' (so schon im Nibelungenliede, für ,''ohne getrunken zu haben' ''), ''ungewaschen'' und ''ungebetet'' (Brentano), ''ungebeichtet'' (A. W. Schlegel), ,''daß ihr wartet und ungegessen seid' '' (Luther, Apostel 27, 33); denn sie rechnet mit dem sofort richtig deutenden Verständnis des Hörers und Lesers, welche beide von manchen Sprachmeistern für dümmer gehalten werden, als die Polizei erlaubt. Wenn das feine Sprachgefühl Anstoß nimmt an einem ''durch den Strom gerittenen Offizier'', dann nur darum, weil dabei die ferne Möglichkeit eines höchst lächerlichen Bildes auftaucht, was bei einem ''durch den Strom geschwommenen Offizier'' nicht geschieht, weshalb dieser ruhig gewagt, jener doch lieber ver- $Seite 233$ mieden wird. Abgelehnt aber vom richtig leitenden Sprachgefühl wird mit Recht ,''das gebrannte Licht' '' (eins, das gebrannt hat), obwohl ,''das verbrannte Licht' '' alltäglich und selbstverständlich ist; abgelehnt ,''das gefehlte Geld' '' trotz dem ,''verfehlten Augenblick' '' und trotz ,''weit gefehlt' ''. Unmöglich ist ,''der lange gewirkte'' (hat!) ''Vorsteher, der im Walde gelegene'' (hat!) ''Leichnam' '' — trotz dem ,''im Walde gelegenen'' (ist!) ''und belegenen Häuschen' '' —, ,''den die Morgenstunde verschlafenen'' (hat!) ''Diener' '', obgleich nichts gegen den ,''immer verschlafenen'' (ist!) ''Diener' '' zu sagen ist. Das Sprachgefühl weiß, warum es ein ,''lange gelebtes ''(hat!) ''Geschlecht' '' zurückweist, aber nichts hat gegen ,''ein Augenblick, gelebt'' (ist!) ''im Paradiese' '', selbst nichts gegen eine ,''lange bestandene Herrschaft' ''. Immerhin ist es im allgemeinen duldsamer gegen beiwörtliche Mittelwörter von Zeitwörtern mit ''sein'' als denen mit ''haben'', und Fügungen wie ,''die soeben erschienene Zeitung, der untergegangene Mond, eine aufgekommene Mode' '' sind ihm ganz geläufig, wogegen ihm ,''der allgemein gefallene Zeitungsaufsatz, der zugenommene Mond, die sogleich eingeschlagene Mode' '' Greuel sind. Entgegen einer Regel, daß nur die zielenden Zeitwörter mit dem 4. Zielfall Beiwörter in der Leideform bilden, daß man also nicht sagen dürfe: ,''die gehuldigte Fürstin'' (man huldigt ihr, nicht sie), ''die gediente Herrschaft' '' (man dient ihr, nicht sie), haben sich einige Mittelwörter die beiwörtliche Anwendung erzwungen — mit der Zeit, nämlich durch ihr häufiges Vorkommen und das daraus entspringende, oder ihm zugrunde liegende, Bedürfnis. Das ,''geschmeichelte Bild' '' ist trotz seiner doppelten Anstößigkeit — nicht dem Bilde, sondern dem Dargestellten wird geschmeichelt, und dem Dargestellten, nicht den schmeichelt man — eine stehende Fügung geworden, weil man sie oft brauchte und gebrauchte (vgl. S. 221). Ebenso hat sich die ,''unwidersprochene Behauptung' '' durchgesetzt, weil namentlich in Volksvertretungen und öffentlichen Versammlungen immerfort das Bedürfnis auftrat, etwas zu sagen wie: ,''Diese Behauptung darf nicht unwidersprochen ins Land gehen, hinausgehen' ''. Dagegen sind Wendungen wie ,''der von Richter widersprochene Bismarck' '' nicht stehende Formel geworden, also unzulässig geblieben. Der ,''gekündigte Buchhalter' '' wird vom feinern Sprachgefühl abgelehnt, denn nicht er, sondern ihm ist gekündigt worden. ,''In ungekündigter Stellung' '', wie es in vielen Anzeigen heißt, ist $Seite 234$ nicht zu beanstanden, denn man kündigt die Stellung, die Stellung wird einem gekündigt, also ist das 2. Mittelwort als Beiwort zulässig.  
Die wichtigste Zweifelfrage beim Hilfszeitwort selbst, also unabhängig von der Wahl zwischen ''Haben'' und ''Sein'' je nach dem regierenden Zeitwort, ist die nach dem Recht zu seiner Auslassung, besonders in Nebensätzen. Die Sprachgelehrten erklären sich überwiegend grundsätzlich dagegen, oder lassen sie nur in seltnen Fällen zu. Sanders verfügt einfach: ,Falsch ist es, die Hilfszeitwörter aus Nachlässigkeit auszulassen.' Hierdurch werden wir nicht belehrt, denn Nachlässigkeit ist dem Schreiber überhaupt verboten; auch müßte in jedem Fall erst festgestellt werden, ob eine nachlässige oder erlaubte Weglassung vorliegt. Ein andrer schätzenswerter Unterweiser, Heintze, bestimmt: ,''Haben'' und ''Sein'' dürfen in Nebensätzen, wenn sie als Hilfszeitwörter dienen, ausgelassen werden'. Dem tritt der Obersprachbüttel entgegen und gebietet schimpfend, die Unterdrückung des Hilfszeitwortes ,in schlichter Prosa ist gradezu unerträglich; wer das bestreitet, hat eben kein Sprachgefühl', — hat nämlich ein andres als der Sprachbüttel, also hat er keins. Ihm zufolge rührt ,die grauenvolle Verwilderung und Verrohung in dem Gebrauche der Modi (!) zum guten Teil von der abscheulichen Unsitte, die Hilfszeitwörter wegzulassen, her'. Selbst ein sonst fein abwägender Kenner, Theodor Matthias, nennt die Weglassung ,eine schlimme Krankheit des papierenen Stils', muß aber in demselben Satze zugeben, daß diese angebliche Krankheit schon im 15. Jahrhundert und bei den Klassikern umging. Nicht bloß bei diesen, sondern sie ist z. B. bei Freytag fast die Regel, sie fehlt aber wohl kaum bei irgendeinem namhaften Schriftsteller des 18. und 19. Jahrhunderts; sie findet sich fast auf jeder Seite eines heutigen Buches, in jeder Spalte einer unsrer Zeitungen. Bei Lessing überwiegen die Nebensätze mit ausgelassenem ''Sein'' oder ''Haben'' so offensichtlich, daß man diese Fügung als Lessing-Sätze bezeichnet hat. Eine so allgemein verbreitete Schreibweise eine Krankheit zu nennen oder sie sonstwie zu beschimpfen, geht nicht an. Die ruhige Betrachtung solcher sich durch die Jahrhunderte $Seite 235$ gleichmäßig hinziehender, bei allen guten Schriftstellern häufig oder gar ständig wiederkehrender Ausdrucksform zwingt zu dem Urteil: Hier liegt ein fester Sprachgebrauch vor, dem gegenüber die Nörgelei, erst recht die Schimpferei zu unterbleiben hat. Daß in der Dichtung und der gehobenen Sprache das Auslassen von jeher bis auf den heutigen Tag die Regel, das Setzen die Ausnahme ist, muß von den Sprachmeisterern angesichts der Überfülle der Beispiele zugegeben werden. Bei Luther: '',Da er solches gesagt, wurde er aufgehoben' ''. — Bei Lessing sogar in einer Überschrift: '',Wie die Alten den Tod gebildet' ''. — Bei Goethe: '',Soll ich vielleicht in tausend Büchern lesen, Daß überall die Menschen sich gequält, Daß hie und da ein Glücklicher gewesen?' '' (Faust). — Sehr kühn bei Schiller: ,''Ach, daß ihr damals mir Gehör geschenkt!' '', wo ,''hättet''' zu ergänzen ist und von jedem Leser ohne weiteres richtig ergänzt wird. Oder bei Schiller noch kühner und doch ebenso leicht ergänzbar: '',Bis ich die Schwester dem Gatten gefreit' '' (''haben werde''). — Bei Mörike: '',Was doch heut Nacht ein Sturm gewesen!' '' Der entschiedenste Verteidiger der Weglassung der Hilfszeitwörter war Jean Paul; er nannte sie mit einiger Übertreibung ,abscheuliche Rattenschwänze der Sprache, und man hat jedem zu danken, der in eine Schere greift und damit wegschneidet'. Auch Hebbel war ein Freund des Weglassens: ,Längst habe ich mich davon überzeugt, daß die deutsche Sprache manche Zeiten ihrer Hilfsverba ganz und gar und manche in unendlich vielen Fällen in den Ruhestand versetzen wird .. Der Numerus (Taktschritt) des Stils verlangt gar oft das Kappen dieser abscheulichen Schlepptaue'. Unter den Verteidigern der Hilfszeitwörter ist Schopenhauer der bedeutendste: ,Was in aller Welt haben die Auxiliarverba (!) verbrochen, daß sie ausgelassen oder übersprungen werden? Der Leser muß sie notwendigerweise aus eigenen Mitteln hinzufügen'. Dieser Einwand führt uns zu der richtigen Entscheidung: Ein weggelassenes Wort, das der Leser ohne besondres Nachdenken richtig ergänzt, war überflüssig, wurde also mit Fug weggelassen. Man prüfe jeden fraglichen Satz einfach darauf, ob durch das Fehlen des Hilfszeitwortes der Sinn des Satzes verdunkelt, durch das Hinzufügen heller gemacht wird, und lasse überall da, wo der Sinn nicht im mindesten geändert wird, das Hilfszeitwort unbe- $Seite 236$ denklich weg. Man vergesse doch nicht, daß unsre Hilfszeitwörter selber nur ein Notbehelf sind für die untergegangenen echten Beugeformen des Zeitwortes, und daß die deutsche Sprache mit ihren vielen Hilfszeitwörtern zurücksteht hinter solchen Sprachen, die über einen größeren Reichtum an Zeitwortbeugungen verfügen. In den Hauptsätzen kann das Deutsche nur in seltnen Fällen das Hilfszeitwort entbehren; es wäre aber in der Tat eine zu schwere Last, wenn sie auch in den Nebensätzen allesamt gesetzt werden müßten. Der Einwand Wustmanns und mancher, die ihm das ungeprüft nachgeschrieben haben, daß das Hilfszeitwort ,in der unbefangenen Umgangsprache niemals weggelassen wird', trifft nach meinen vielfachen Beobachtungen sowohl der Umgangs- wie der Vortragsprache nicht zu. Aber die Umgangsprache hat überhaupt einen von der Schriftsprache sehr verschiedenen Satzbau, und hier haben wir es nur mit der Schriftsprache zu tun. In der Umgangsprache wirkt selbst ein Zusammenstoßen der Hilfszeitwörter in Haupt- und Nebensatz: '',Mein Vetter, der erst heute angekommen ist, ist schon heute wieder abgereist' '' nicht so unangenehm aufs Ohr, wie beim Lesen aufs Auge, und die Schriftsprache ist nun einmal eine, die zunächst nur durchs Auge aufgenommen wird. Wiederholungen, die in der Umgangs- und selbst in der Vortragsprache kaum beachtet, ja unter Umständen als eine Verstärkung des Eindrucks empfunden werden, wirken beim Lesen sinnlich, dann gedanklich unangenehm. Aber auch der Einwand, daß durch das Weglassen des Hilfszeitwortes die Unterscheidung zwischen bestimmter und unbestimmter Aussageweise — den ,Modi' Wustmanns — verloren gehe, hält nicht Stich: der Leser braucht gar nicht erst ausdrücklich zu untersuchen, ob ''ist'' oder ''sei'', ''hatte'' oder ''hätte'', ''war'' oder ''wäre'' zu ergänzen (sei); er wird das ganze Satzgefüge auch ohne Hilfszeitwörter richtig auffassen, wenn der Schreiber es klar gedacht und richtig gebaut hat. Man prüfe: '',Fragt man sich nun, was Schiller sich bei dem ersten Plane zum Fiesko gedacht ..' '' Gleichviel ob man ergänzt: ''hat'' oder ''hatte'' oder ''habe'' oder selbst ''haben mag'', ''haben mochte'', das sachliche Verständnis des Lesers leidet unter dem Fehlen des Hilfszeitwortes nicht im geringsten. Oder man prüfe eins der von Wustmann bemakelten Beispiele: '',Daß viele Glieder der ersten Christengemeinde arm gewesen (sind), ist'' $Seite 237$ ''zweifellos; daß es alle gewesen (seien), ist sehr zu bezweifeln' '', setze die von ihm geforderten ''sind'' und ''seien'' ein und vergleiche! Nur die Rechthaberei wird bestreiten, daß für einen vernünftigen Leser nicht der geringste Unterschied zwischen den gedanklichen Niederschlägen der beiden Satzgebilde besteht. Die weitere Folgerung hieraus auch für den Wert der genauen Unterscheidung zwischen bestimmter und unbestimmter Zeitwortform (Bin-Form und Sei-Form) wird am rechten Orte gezogen werden (vgl. S. 289). Ja sogar die von maßvollen Gegnern der Hilfszeitwörter erhobene Forderung, sie überall da zu setzen, wo sie als selbständige Zeitwörter erscheinen, verdient keine allgemeine Geltung. '',Unsicher ist sein Geburtsjahr; was aber ganz sicher (ist), das ist die Tatsache, daß er in Köln geboren (ist).' '' Unsre besten Schriftsteller schreiben so, kein unbefangner Leser nimmt daran Anstoß, keiner vermißt etwas: mithin sollte sich der Sprachlehrer endlich der wirklichen Sprache, die unser aller Herrin (ist?), fügen. Die einzige Ausnahme, die mit vollem Recht, weil sie selbstverständlich (ist?), zu machen ist, betrifft die Fälle, in denen durch die gleiche Form des Mittelwortes der Vergangenheit und der dritten Person der Gegenwart Mißverständnisse erzeugt werden können. '',Die Freunde, die er besucht, sind abgereist.'' — ''Die Nachricht, die mich betrübt, wurde mir von einem Freunde überbracht.'' — ''Er ist auch dann strafbar, wenn er sich nur an der Tat beteiligt.'' — ''Mein Bruder, der mich besucht, heißt Franz.'' — ''Sobald die Rose erblüht, entfaltet sie ihren vollen Duft.'' — ''Der Schurke, der mich verleumdet, steht dort.' '' Zum mindesten leiden diese Sätze, worin das Hilfszeitwort fehlt, an Unklarheit, ja einige an Sinnwidrigkeit.  
Zu warnen ist vor einem häufigen Fehler beim Gebrauch oder vielmehr Nichtgebrauch von ''worden''. '',Der Knabe ist verwöhnt' '' — was kann das einzig bedeuten? Daß er jetzt als ein früher verwöhnter Knabe erscheint. Ein herrschender Zustand wird durch bloßes ''ist'' bezeichnet, nicht die frühere Handlung, woraus der Zustand entstanden ist. Will man die Handlung, das Werden, ausdrücken, so darf dessen richtige Vergangenheitsform nicht fehlen: '',Der Knabe'' $Seite 238$ ''ist'' (seinerzeit) ''verwöhnt worden, kein Wunder, daß er'' (jetzt) ''verwöhnt ist. — Der Dieb ist gestern verhaftet worden' '' (Handlung); spricht man heute von seinem Verbleib, so muß es heißen: '',Der Dieb ist verhaftet' '' (er ist ein Verhafteter). — '',Das Haus ist aufgebaut' '' kann der Baumeister an dem Tage sagen, wo der Bau vollendet worden (!) ist; wer später über die Ausführung des Baues berichtet, muß sagen: '',Der Bau ist im Jahre 1912 vollendet worden'' (oder ''wurde vollendet'')'. Es darf nicht heißen: '',Die Straße ist 1912 gepflastert' '', sondern '',.. wurde gepflastert' '' oder '',.. ist gepflastert worden' ''; aber nicht etwa, wie man zuweilen hört, kaum liest: '',.. ist gepflastert geworden' ''. — '',Das Buch ist 1917 gedruckt' '' ist falsch; es muß heißen: '',.. ist gedruckt worden' ''. '',Das Buch ist gedruckt' '' schreibt der Verleger an den Verfasser, um ihm zu melden, daß der Druck des Buches fertig (geworden) ist. Dies ist keine Schulmeisterei, sondern eine zum klaren Verständnis des Sinnes dringend nötige Fügung; die Weglassung von ''worden'' kann zu groben Mißverständnissen führen: '',Die Zeitung ist in A. verbreitet' '' bedeutet: sie hat dort viele Abnehmer; dagegen '',.. ist verbreitet worden' '' besagt, man hat versucht, sie dort zu verbreiten, doch wird über den Erfolg nichts ausgesagt. Eine französelnde Fügung mit ''wollen'', die den Sinn dieses Wortes völlig verrückt, sollte in guter Schriftsprache, zumal in der Behördensprache, nicht länger geduldet werden. '',Die Bewerber um den Nachtwächterposten wollen sich beim Gemeindevorsteher melden.' '' Warum in aller Welt nicht ''mögen'', das doch ebenso höflich ist wie ''wollen''? Wohl gar in der vor einem Schlachthause hängenden Aufforderung an die Fleischer: '',Schweine wollen nur Montags und Donnerstags geschlachtet werden.' '' Will man auf den Gebrauch von ''wollen'' zu solchen höflichen Aufforderungen nicht ganz verzichten, dann bediene man sich nur der erkennbaren Sei-Formen, die keinen Zweifel am Sinne lassen: '',Man wolle bedenken, man wolle nicht vergessen.' '' Nur so bedienen sich die Franzosen vernünftigerweise ihres ''vouloir''. Verschwinden sollte das feige ''dürfte'' in Sätzen wie: '',Das dürfte wahr sein.' '' Es ist aber schon so tief aus der Kanzleisprache in die allgemeine Sprech- und Schreibweise, freilich zumeist der Papiermenschen, eingedrungen, daß keine Hoffnung bestehen ,dürfte', es loszuwerden. Wer einmal ein Weilchen $Seite 239$ über ''dürfte'' als Form für ''die Vermutung'' nachgedacht hat, dem wird (,dürfte') wohl der Geschmack an dem Wort vergangen sein.  
Von zwei verschiednen Seiten her ist eine Pluralbildung auf ''s'' in unsre Sprache eingedrungen. Wenn wir von ''Genies, Pendants, Etuis, Portemonnaies, Korsetts, Beefsteaks'' und ''Meetings'' reden, so ist das ''s'' natürlich das französische und englische Plural-''s'', das diesen Wörtern zukommt. Aber man redet auch von ''Jungens'' und ''Mädels, Herrens'' und ''Fräuleins, Kerls'' und ''Schlingels, Hochs'' und ''Krachs, Bestecks, Fracks, Schmucks, Parks'' und ''Blocks'' (''Baublocks''), ''Echos'' und ''Villas'' (statt ''Villen''), ''Polkas, Galopps, Tingeltangels'' und ''Trupps'' (''Studententrupps''), ''Uhus'' und ''Känguruhs, Wenns'' und ''Abers, U's'' und ''T's'', ''Holbeins'' und ''Lenbachs'' (''zwei neue Lenbachs, ein paar echte Holbeins''), ''den'' $Seite 23$ ''Quitzows, den Fuggers'' und ''den Schlegels, Vergißmeinnichts'' und ''Stelldicheins'', und einzelne Universitätslehrer kündigen gar schon am schwarzen Brett ''Kollegs'' an! Alle diese Formen sind unfein. In Süddeutschland bezeichnet man sie als pluralis Borussicus. Ihr Plural-''s'' stammt aus der niederdeutschen Mundart//* Vielleicht ist es dort über die Niederlande aus dem Französischen eingedrungen; dann würde es schließlich auch auf die romanische Quelle zurückgehen.//; nur dieser gehören ursprünglich ''die Jungens'' an. Aus Verlegenheit ist dieses ''s'' dann auch im Hochdeutschen an Fremdwörter, an unechte Substantiva und schließlich auch an echte deutsche Substantiva gehängt worden. Beschämend für uns Deutsche, die wir uns so gern etwas auf unsre Kenntnisse zu gute tun, sind Formen wie ''Solis, Mottis, Kollis'' und ''Portis'', denn da ist das falsche deutsche Plural-''s'' an die richtige italienische Pluralendung gehängt. Die Einzahl heißt ja ''Solo, Motto, Kollo'' und ''Porto''. Freilich wird auch schon in der Einzahl ''das Kolli'' gesagt, und nicht bloß von Markthelfern und Laufburschen!  +
Aus dem vorigen ergibt sich von selbst, warum man auch nicht sagen darf: ''das sich gebildete Blatt''. Alle reflexiven Zeitwörter brauchen in der Vergangenheit das Hilfszeitwort ''haben'', können also kein Partizip der Vergangenheit bilden. Falsch sind daher alle Verbindungen wie: ''der sich ereignete Jagdunfall, die sich bewahrte Geistesbildung, der von hier sich entfernte Korrektor, die sich davon gemachten Zuschauer, der kürzlich hier sich niedergelassene Münchner Bildhauer, die sich zahlreich eingefundnen Konzertbesucher, die am 9. August sich'' (!) ''angefangne Woche, das schon längst sich fühlbar gemachte Bedürfnis, das sich irrtümlich eingeschlichne Wort, das ehemals so weit sich ausgebreitete Lehrsystem, ein sich aus den Kinderschuhen glücklich herausentwickelter Jüngling, ein in der Mauerritze sich eingenisteter Brombeerstrauch''. Ein Partizip wäre hier nur dann möglich, wenn man sagen wollte: ''der sich eingenistet habende Brombeerstrauch'', eine Verbindung, die natürlich aus dem Regen in die Traufe führen würde. Es bleibt auch in solchen Fällen nichts übrig, als einen Relativsatz zu bilden: ''ein Brombeerstrauch, der sich in der Mauerritze eingenistet hatte.''  +
Ein häßlicher Fehler ist es, statt des relativen ''das'' zu schreiben ''was'', wenn sich das Relativ auf einen bestimmten einzelnen Gegenstand bezieht, z.B. ''das Haus, was — das Buch, was — das Ziel, was''. Nur die niedrige Umgangssprache drückt sich so aus; in der guten Schriftsprache wie in der feinern Umgangssprache ist ''was'' als Relativ auf ganz bestimmte Fälle beschränkt: es darf nur hinter substantivierten Fürwörtern, Zahlwörtern und Eigenschaftswörtern gebraucht werden, z. B. ''das, was — dasselbe, was — etwas, was — alles, was — vieles, was — das wenige, was — das einzige, was — das erste, was — das letzte, was — das meiste, was — das Gute, was — das Beste, was''. Doch ist auch hier, namentlich bei den substantivierten Adjektiven, wohl zu unterscheiden zwischen solchen Fällen, wo es sich um ein Allgemeines handelt, und solchen, wo etwas Besondres, Bestimmtes, Einzelnes vorschwebt. Fälle der zweiten Art sind z. B.: ''etwas Ungeschicktes, das mich in Verlegenheit brachte — das Bittre, das zwischen uns getreten ist — das Besondre, das dem Allgemeinen untergeordnet ist — das Schiefe und Hinkende, das jeder Vergleich hat — das Moralische, das einem doch nicht gleichgiltig sein kann — das Erlernbare, das sich jederzeit in Büchern wieder auffinden läßt — wenn an das Gute, das ich zu tun vermeine, gar zu nah was Schlimmes grenzt'' (Lessing). Hinter dem Superlativ von substantivierten Eigenschaftswörtern ist in den meisten Fällen ''was'' das richtige, aber doch nur deshalb, weil gewöhnlich ein partitiver Genitiv zu ergänzen ist (''von dem, von allem''), der das ''was'' verlangen würde. $Seite 116$ Wenn ich sage: ''das Erhabenste, was Beethoven geschaffen hat'' — so meine ich nicht das Erhabenste überhaupt, sondern eben das Erhabenste ''von dem'' oder ''von allem'', was Beethoven geschaffen hat. Der Superlativ für sich allein bezeichnet hier noch gar nichts, der Relativsatz ist die notwendige Ergänzung dazu. Wenn ich dagegen sage: ''das Erhabenste, das wir Gott nennen, so ist gar nichts zu ergänzen'', der Relativsatz kann auch fehlen, es ist das Erhabenste schlechthin gemeint. Beispiele der ersten Art sind: ''das Höchste, was wir erreichen können — das Schlimmste, was einem Staate widerfahren kann — das Ärgste, was Menschen aneinander antun können — das Beste, was du wissen kannst, darfst du den Buben doch nicht sagen'' (Faust) — ''er preist das Höchste, das Beste, was das Herz sich wünscht, was der Sinn begehrt'' (Schiller). Hier wird denn auch meist richtig ''was'' gesetzt. Nach dem Positiv gebrauchen aber auch gute Schriftsteller blindlings bald ''das'', bald ''was''. Sieht man sich die Beispiele näher an, so sieht man, daß sie viel öfter das Falsche als das Richtige getroffen haben. Endlich ist ''was'' für ''das'' auch da notwendig, wo sich das Relativ auf den Inhalt eines ganzen Satzes bezieht, z. B. ''der Mensch, das Tier mit zwei Händen, das auch lachen kann, was der Affe immer noch nicht fertig bringt''. In einem Satze wie: ''es ist kein freundliches Bild, was der Verfasser vor uns aufrollt'' — wird nicht deutlich, ob sich ''was'' etwa auf Bild beziehen soll; man kann den Relativsatz auch als Subjektsatz auffassen: ''was der Verfasser vor uns aufrollt, ist kein freundliches Bild''. In diesem Falle wäre natürlich ''was'' richtig, im andern müßte es ''das'' heißen.  
Ausreichend ist die § 386, 6 gegebene Regel von der Reihenfolge Zeit-, Orts- und Artbestimmung nie und nirgends. Sonst müßte auch folgender Satz richtig sein, dem jeder sofort das Holprige anhört: ''Dadurch wurde es dem Könige möglich, im Anfange des Jahres 1908 nach Königsberg mit seiner Familie und dem ihn umgebenden kleinen Hofhalte abzugehn''. Die Grammatik, nach der die Ortsangabe hier am engsten zum Verb gehört, und der Gedanke, für den das Wichtigste die durch die Räumung Preußens gebotene Möglichkeit ist, nach Königsberg abzugehn, verlangen in gleicher Weise: ''Dadurch wurde es dem Könige möglich, im Anfange ... 1808 mit seiner Familie ... nach Königsberg abzugehn''. Immer gibt also den Ausschlag das psychologische Grundgesetz (S. 391, Anm. 1), dessen Kraft wir noch an einigen Beispielen erproben wollen, natürlich so, daß wir auch den oben erörterten Anforderungen, die Grammatik und Stilistik stellen, gerecht werden. In der Deutschen Ztg. stand: ''Zur Andrassy-Krise'' — so zur Angabe des Themas treffend an der Spitze — ''liegt wenig des tatsächlichen Materials heute vor'' statt: ''heute wenig tatsächliches Material vor''; denn vom Heute reden die Zeitungen des Tages natürlich, das Wichtige, Neue ist, daß an dem Tage, wo man das liest, nichts vorliegt, also das Subjekt. Wer fühlte auch nicht den Unterschied, ob eine Zeitung, wie geschehen ist, meldet: ''Für die Enthüllung des Steindenkmals auf dem Dönhofplatze ist der 26. Oktober vorläufig festgesetzt'' oder:'' ... ist vorläufig der 26. Oktober festgesetzt''? Denn in der ersten Fassung, ist die Meldung, daß der 26. Oktober bestimmt ist, das Bekannte und das Neue die Zusatzmeldung, daß dies nur vorläufig gelte; das hat aber nicht gesagt werden sollen, sondern es sollte nur mit etwaigem Vorbehalte die erste Meldung von dem festgesetzten Tage gebracht werden: das aber hätte die zweite Form besagt.  +
Aus der Freiheit und Beweglichkeit unsrer noch lebensfrisch wachsenden und webenden Sprache beruht es auch, daß sich viele Zeitwörter mit scheinbar widersprechenden Subjekten verbinden lassen, nämlich auch mit Begriffen, die sie ein andermal als Objekt bei sich haben, und daß sie dabei, wie auch sonst, jetzt noch häufiger als früher aus transitiven zu intransitiven werden: ''Mein Bäuchlein patscht nun wieder so prall'' (H. Voß). ''Ich rieche und die Blume riecht. Er erbt den Hof und Diebische Art erbt ins Geschlecht. Ich sehe oder schaue aus nach jemand und Straße, wie wunderlich schaust du mir aus. Der Kaufmann mißt den Stoff'', und ''Der Rest mißt noch so und soviel''. Dieser Beweglichkeit verdanken wir Verse, wie: ''Da gießt unendlicher Regen herab. Das Hurrah jauchzt'' (Arndt), und mit der doppelten Verwendung hart nebeneinander: ''Hoch rollten die Wogen entlang ihr Gleis und rollten gewaltige Felsen Eis'' (Bürger) u.v.a. Warum sollten wir da diese Freiheit der gewöhnlichen und der Schriftsprache ganz absprechen? Mag man also ruhig mit Goethe schreiben: ''Wie lange spielt das Stück?'' und mit Jensen: ''Die Römerstraßen verfielen und überwucherten unbenutzt'', oder mit G. Keller: ''Die Uhr viertelt'', mit ihm u. Goethe zugleich: ''Die einsame Beschäftigung verleidete mir'', und mit v. Hörmann: ''Die Ecken der Wälle ... giebeln nach der Lawinenseite. Das Lied singt schon durch seine Träume'' (DAZ. 27). Auch gegen Fügungen wie die folgenden ist nichts einzuwenden: ''Die Legung'' (besser: ''der Bau'') ''jenes Kanals durch die Sümpfe und Waldungen zählt zu den Wundertaten dieses Krieges'' (Eltze), wie schon Goethe von einem Menschen redet, der nicht mitzählte. Aus Börsenberichten ist das noch etwas widerstrebende intransitive ''rechnen'' (''Dazu rechnet auch die europäische Zollpolitik'') schon in Wildenbruchs Bühnensprache gedrungen (''Wenn er einen mit Pestbeulen heimbringt, rechnet es ihm gleich einem Bären; ein Aussätziger gilt einem Sechzehnender gleich''), und die sinnlich persönliche Auffassung gefällt uns gerade an solchen: ''Die deutschen Papiere setzten erst höher ein, sanken aber; andere Aktien notierten wieder so und so''; dazu das allgemeiner verbreitete ''datieren'' (''die Krankheit datiert von jenem Sturz''), wenn dieses als Fremdwort auch meist besser durch ''sich herschreiben, entstammen, herrühren'' ersetzt würde. So rechtfertigt sich auch ''sehen'' = ''anzusehen sein'', wie z. B. beim Übersetzer der Frithiofsage (v. Leinburg) steht: ''Freias Locken sehn wie Kornfeldgold im Windeswehn'', und wie es in der Wendung ''Das sieht dir ähnlich'' längst eingebürgert ist. In dem Ausdrucke: ''Brahms’ neue Symphonie reiht in die klassischen'', ist das falsche Bild ''reihen in'' statt ''anreihen an'' das anstößigere. Aus dem jüngsten Schrifttum seien verzeichnet: ''Masten und Rahen takeln'' (''bewegen sich ausgetakelt'') ''in die diesige Nacht'' (H. Leip); ''Elend bloß aus Elend gießt'', und: ''die Heimatlosen, die auf den Sänden anspülen'' J. Haringer); ''Auf dem Rasen schattete die mächtige Blutbuche'' (Ad. Gerhard), und: ''Eine schlanke Katze schattete aufgescheucht an uns vorbei'' (Jug. 25); ''Ein leichter Westwind frischte auf'' (E. v. Keyserling), und: ''Sie geringschätzten von hohen Stöckeln auf den Geraden nieder'' (J. Ponten). Langbehn schrieb: ''Mommsen wie Voltaire fehlt die Seele; dieser Mangel reflektiert selbstverständlich auf den Menschen''; und schon längst sind, wenn auch unter französischem Einfluß, üblich geworden: ''Kein Zug des Gesichtes änderte. Jetzt wendete er zum Rubenssaale. Das Wetter bessert''.