Gebeugte und mit Geschlechtswort versehene Aussagewörter (sein Aussehen war ein gutes)

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Buch Matthias (1929): Sprachleben und Sprachschäden. Ein Führer durch die Schwankungen und Schwierigkeiten des deutschen Sprachgebrauchs.
Seitenzahlen 210 - 213

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Unsicherheit
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Ein Mittel, das ein feinsinniger Beobachter der heutigen Sprache wie der der Klassiker empfahl, Mittelwörter der obigen Art mit dem Artikel zu versehen und so Sätze nach dem Muster zu bauen: Die Schrift ist eine den Helden beleidigende, dieses Urteil ist ein beide Teile befriedigendes, ist geradezu eine Schlimmbesserung, die ärgerlich deutlich auf eine zweite Unform der Satzaussage hinweist, die aus jenem Zuge zum Begrifflichen und Nominalen hin neuerdings erschreckend überhand nimmt: es ist das deklinierte Prädikatsnomen: Der Herr ist ein gütiger. Die Aussichten sind schlechte. Der Lauf der Moldau wird hier ein rauschender und tosender (Stifter). Die Partei der linken Sozialre- $Seite 211$ volutionäre ist in beiden Fällen die schuldige an den Bluttaten. Die Lebensmittelfrage war eine ernste (Hindenburg). Auch für diese Gestalt der Satzaussage liegt natürlich in der Sprache wieder eine Stelle vor, wo sie — nach der Entwicklung der Sprache müssen wir einfügen: noch — berechtigt ist und von der aus sie sich so unberechtigt auszudehnen sucht.

Das Aussagewort muß nämlich gebeugt, dazu auch oft mit dem Geschlechtsworte versehen werden erstens, wenn es überhaupt nur dadurch in der gewünschten Eigenart und Satzfügung verwendet werden kann. Das ist aber so bei denjenigen fast nur attributiv verwendbaren Eigenschaftswörtern auf -lich, die mehr die Umstände, unter denen eine Tätigkeit geschieht, nach Zeit und Art als etwas Zuständliches bezeichnen, wie täglich, stündlich, mündlich, schriftlich (die Lieferungszeit war eine wöchentliche); dann ganz bekanntermaßen bei den Ordnungszahlen und endlich bei Substantivierungen, deren Eigentümlichkeit ja gerade die Voraussetzung des Geschlechtswortes ist: Die Schlichtheit ist das Wohltuendste an seiner Kunst; unter den gegebenen Verhältnissen war diese Entscheidung das richtige. Zweitens hat die gebeugte Form des Aussagewortes die Aufgabe, auch durch die Übereinstimmung in der Form den Subjektsbegriff als mit dem Prädikatsbegriffe zusammengehörig zu bezeichnen, sei es nach Art, Klasse oder auch im Gegensatz zu einem andern Dinge, von dem diese Aussage nicht gemacht werden kann. Vgl: Was der Obergärtner zuerst begriff, war: sie sind von einem gemeinsamen Wahn bewegt und dieser mußte, im Zusammenhang mit dem Osterfest entstanden, ein religiöser sein (G. Hauptmann, E. Quint). Soll dagegen einer Person oder Sache eine Eigenschaft schlechthin zugesprochen werden, ohne Rücksicht auf einen Gegenstand oder die begriffliche Einordnung in Art und Klasse, so ist der heutigen Sprache durchaus die ungebeugte Form oder, wie man es ebensogut und einfacher ausdrücken konnte, die adverbiale Aussage angemessen. Beispiele werden den Unterschied am besten erläutern: Der Mathematiklehrer erklärt, auf verschiedene Figuren an der Tafel hinweisend: Diese Linie ist eine grade, die dort eine krumme; wenn es aber nur auf das Urteil ankommt, ob eine Linie wirklich gerade gezogen sei, oder auf das Vorhandensein nur einer beabsichtigten Eigenschaft, so sagt der Zeichenlehrer: Diese Linie ist noch lange nicht grade, sie ist ganz krumm. Ric. Huch warnt richtig: Kind, diese Weise zu leben ist nicht die rechte für dich, und die Hökerfrau, die nach den verschiedenen von ihr feilgebotenen Arten z. B. von Pflaumen gefragt wird, erklärt: Das hier sind böhmische, die dort türkische; aber die Frage, ob ihre Pflaumen auch reif seien, wird sie spitz abweisen: Meine Pflaumen sind alle reif! Wer sagt: Ein neues Buch ist nicht immer ein gutes, oder mit Superlativ: Der grade Weg ist nicht immer der kürzeste, dem kommt es darauf an zu verneinen, daß im gegebenen Falle die Begriffe neu und gut, grad und kürzest zusammenfallen, sich decken, während es der Händler mit seiner Ankündigung: Meine neuesten Kücheneinrichtungen sind wirklich praktisch, nur darauf abgesehen hat, diese eine Eigenschaft anzupreisen.

Freilich berühren sich beide Auffassungen oft sehr nahe, beim Superlativ zumal. Oder wer wollte von den beiden Übersetzungen des bekannten Satzes im Cäsar die eine unbedingt falsch nennen: Von diesen allen sind die Belger die tapfersten oder am tapfersten? A. Stifter beschreibt im $Seite 212$ „Nachsommer“ von Mathilde ihrem Sohne aufgehobene Bücher: Die Bücher sind nicht neue und schön eingebundene, aber auch anfechtbar: Der Schade konnte ein beträchtlicher sein. So ist es denn erklärlich, wenn die gebeugte Form außer im Superlativ//1 Hier ist entsprechend der ganzen Entwicklung des Prädikatsnomens seit dem Mhd. die adverbiale Form (am größten) im Vordringen; und ein Satz wie der Hildebrands: Die Antwort darauf ist freilich auch die schwerste zu geben ist mehr nur noch eine Erinnerung an die heute fast überwundene Herrschaft der substantivischen Superlativform im Prädikat.// auch dahin übergreift, wohin sie deutlich erkennbar nicht gehört, zumal ihr auch noch das Übersetzen aus fremden Sprachen, der englischen, französischen und den altklassischen besonders, zu Hilfe kommt und die leidigen und immer wieder mitschuldigen Kanzleien ihr das Mäntelchen der Vornehmheit umgehängt haben. Indes auf der andern Seite steht die Entwicklung unserer Sprache bis in die letzten Jahrzehnte; und außer für die oben abgegrenzten Fälle hat diese Entwicklung von den der Sprache ehemals möglichen vier Formen (dekliniertes Adjektiv ohne Artikel, — mit bestimmtem, — mit unbestimmtem Artikel, undekliniertes Adjektiv) für die Angabe der bloßen Zuständlichkeit nur die flexionslose Form übrigbehalten.

Doch halt! Auch die Liebhaber der steifleinenen definierten Prädikate haben etwas Geschichtliches für sich anzuführen; sie finden sie nämlich begründet in dem — sie meinen vielleicht, berechtigten — Übergewicht der Haupt- über die Zeitwörter und der Verwendung in die Aussage gehöriger Begriffe zu Subjekten (vgl. § 262). Und gewiß, während man ehedem, wenn man die geringe Ausnutzung der Wagenplätze besprach, sagte: die Wagenplätze werden verhältnismäßig wenig ausgenützt, so sagt man heute lieber: die Ausnützung der Wagenplätze ist eine geringe; u. ä. z. B. die Verbreitung des Buches ist eine schnelle und erhebliche. Gewiß ist auch, daß in diesem Satze niemand sagen wird: sie ist schnell, wie überhaupt gerade nach den Verbalsubstantiven, besonders denen auf -ung, wenn sie einmal Subjekt sind, oft die deklinierte Form als notwendig empfunden wird. Ganz natürlich, weil es die Tätigkeitsbezeichnungen nicht vertragen, mit der die bloße Zuständlichkeit bezeichnenden ungebeugten Form verbunden zu werden. Nur ist der „man", der sich heute lieber so ausdrückt, noch lange kein guter Stilist; und dieser allerneuste Satzbau wird dadurch nicht stilvoll, daß die dazu benötigte Beugung des Aussagewortes nur die Folge der verkehrten Erhebung von Verbum und Prädikat zu Substantiv und Subjekt ist. Es muß also vielmehr heißen: Das Buch hat sich schnell und bedeutend verbreitet, und nicht, wie in der Tägl. R.: In Indien ist die Briefbeförderung eine erstaunlich schnelle, sondern: — werden die Briefe erstaunlich schnell befördert.

So bleibt es denn dabei: Weg mit solchen Fügungen: Der Anblick war ein überraschender (statt überraschend), die Feier war eine erhebende, das Wetter war ein herrliches, die Wahl war die glücklichste//2 Natürlich ist diese Form dann am Platze, wenn ein Relativsatz folgt: die glücklichste, die getroffen werden konnte; nach § 143, 2.//; oder: Jedenfalls ist der Name Hornisgrinde in seiner zweiten Hälfte ein äußerst zutreffender (bei Jensen); Die Versammlung war eine glänzende, wenn auch nicht sehr zahlreiche (G. Keller); Ginevra, dieser Name ist außer- $Seite 213$ halb Italiens ein seltener (F. v. Saar); und selbst in einem Soldatenbriefe von 1870: Das Verlangen nach Paris hineinzukommen ist ein enormes, die Ausgabe ist gleich am ersten Tage eine sehr große, und gar: die Gegend ist eine reizende, aber auch zuweilen eine traurige! Und so wenig als man sich durch diesen französelnden westdeutschen Briefschreiber zu einer Anerkennung der neusten Modeform für die Aussage bestimmen lassen darf, können auch Gelehrte dahin wirken, welche die Form liebgewonnen haben: Die Vorarbeiten sind noch ungenügende. Bei der Betrachtung des Entwicklungsprozesses (!) der Sprache ist die Parallele mit der Entwicklung der organischen Natur innerhalb gewisser Grenzen eine berechtigte und lehrreiche. Die folgende Ausführung eines Mitgliedes war die entscheidende. Der Erfolg des Buches war ein durchschlagender. Doppelt verkehrt ist diese Ausdrucksweise in den Sätzen: Die Scheu vor diesem Mißverhältnis ist in den verschiedenen Sprachen und Perioden eine sehr verschiedene; und: Jeder tiefe Eindruck würde bei ihm ein lebenslänglicher sein; denn überhaupt wird mit verschieden nie eine positive Art bestimmt, und das unbestimmte Geschlechtswort, das im Grunde immer der Ausdruck für die Einheit bleibt, stimmt schlecht zu den behaupteten mannigfaltigen Arten der Scheu.

Es ist selbstverständlich, daß das soeben über die Form des Aussagewortes neben dem Hilfszeitworte sein Gesagte nicht minder für die andern Zeitwörter gilt, die wie werden, bleiben, dünken, heißen, scheinen oder Passive wie genannt, gescholten werden u. ä. dazu dienen, eine adjektivische Aussage mit dem Subjekt zu verbinden. Also auch nicht musterhaft schreibt ein Gelehrter: Der Gedanke, daß der geistige Charakter eines Volkes in seiner Sprache sich spiegelt, ist uns heute ein längst geläufiger geworden.


Zweifelsfall

Adjektiv: prädikativer oder attributiver Gebrauch

Beispiel
Bezugsinstanz 19. Jahrhundert, Stifter - Adalbert, alt, Sprachverlauf, Saar - Ferdinand von, Hauptmann - Gerhart, Keller - Gottfried, Gelehrte, Sprache der Werbung, Geschäftssprache, gegenwärtig, Hildebrand - Rudolf, Hindenburg - Paul von, Jensen - Wilhelm, Behördensprache, Schreiber schlechten Stils, Schulsprache, Huch - Ricarda, Schriftsprache, Zeitungssprache, Literatursprache
Bewertung

am Platze, anfechtbar, angemessen, Doppelt verkehrt, Es muß also vielmehr heißen, Frequenz/fast überwundene Herrschaft, Frequenz/niemand sagen wird, Frequenz/sagt man heute lieber, Mäntelchen der Vornehmheit, neuesten Modeform, nicht, nicht musterhaft, nicht stilvoll, noch - berechtigt, Schlimmbesserung, sich so unberechtigt auszudehnen sucht, steifleinenen, Unform, verkehrten, Weg mit solchen Fügungen, wohin sie deutlich erkennbar nicht gehört

Intertextueller Bezug