Frägt und frug
Buch | Wustmann (1903): Allerhand Sprachdummheiten. Kleine deutsche Grammatik des Zweifelhaften, des Falschen und des Häßlichen |
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Seitenzahlen | 53 - 55 |
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Unsicherheit |
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In diesem Kapitel behandelte Zweifelsfälle
Text |
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Eine Schande ist es — nicht für die Sprache, die kann ja nichts dafür, wohl aber für die Schule, die das recht gut hätte verhüten können und doch nicht verhütet hat —, mit welcher Schnelligkeit in ganz kurzer Zeit die falschen Formen frägt und frug um sich gegriffen haben, auch in Kreisen, die für gebildet gelten wollen und den Anspruch erheben, ein anständiges Deutsch zu sprechen. Der Fehler wird deshalb besonders widerwärtig, weil sichs dabei um ein Zeitwort handelt, das hundertmal des Tags gebraucht wird. Das immer falsch hören zu müssen, ist doch gar zu greulich. Die Zeitwörter mit ag im Stamme teilen sich in zwei Gruppen; die eine Gruppe gehört dem starken Verbum, die andre dem schwachen an. Die erste Gruppe bilden die beiden Verba: ich trage, du trägst — ich trug — ich habe getragen, ich schlage, du schlägst— ich schlug— ich habe geschlagen; sie haben dieselbe Ablautsreihe wie fahre, fuhr, gefahren — grabe, grub, gegraben — wachse, wuchs, gewachsen u. a. Zur zweiten Gruppe gehören: ich sage, du sagst — ich sagte — ich habe gesagt, ich jage, du jagst — ich jagte — ich habe gejagt; ebenso klagen, nagen, plagen, ragen, wagen, zagen. Fragen hat nun seit Jahrhunderten unbezweifelt zur zweiten Gruppe gehört: ich frage, du fragst — ich fragte — ich habe gefragt. Unsre Klassiker kennen keine andre Form. Zwei der besten deutschen Prosaiker, Gellert und Lessing, wissen von fragt und frug gar nichts. Nur ganz vereinzelt findet sich in Versen, also unter dem beengenden Einflusse des Rhythmus, frug; so bei Goethe in den Venetianischen Epigrammen: niemals frug ein Kaiser nach mir, es hat sich kein König um mich bekümmert — bei Schiller im Wallenstein: ja wohl, der Schwed frug nach der Jahrszeit nichts. Auch Bürger hat es (Lenore: sie frug den Zug wohl auf und ab, und frug nach allen Namen), und da haben wir denn auch die Quelle: es stammt aus dem Niederdeutschen. Bürger war 1747 in Molmerswende bei Halberstadt geboren; wahrscheinlich $Seite54$ sagte man dort schon zu seiner Zeit allgemein frug. //* Das Niederdeutsche hat auch jug gebildet von jagen. Doch wird ein Unterschied gemacht. Bismarcks Vater brauchte jagte von der Jagd, jug von schneller Bewegung, z. B. schnellem Fahren. In Hannover sagt der gemeine Mann: ehe der Polizist die Nummer merken konnte, jug der Bengel um die Ecke.// Aber noch in den fünfziger und sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts hörte man die Dialektform in der gebildeten Umgangssprache so gut wie gar nicht. Auf einmal tauchte sie auf. Und nun ging es ganz wie mit einer neuen Kleidermode, sie verbreitete sich anfangs langsam, dann schneller und immer schneller,//** Viel zu ihrer Verbreitung haben wohl Scheffel und Freytag beigetragen, die sie beide sehr lieben. (Vgl. das Vorwort.)// und heute schwatzen nicht bloß die Ladendiener und die Ladenmädchen in der Unterhaltung unaufhörlich: ich frug ihn, er frug mich, wir frugen sie, sondern auch der Student, der Gymnasiallehrer, der Professor, alle schwatzens mit, alle Zeitungen, alle Novellen und Romane schreibens, das richtige bekommt man kaum noch zu hören oder zu lesen. Es fehlte nur, daß auch noch gesagt und geschrieben würde: ich habe gefragen, er hat mich gefragen usw.//*** Die Grenzboten veröffentlichten 1882 ein hübsches Sonett aus Süddeutschland, das sich über das Vordringen der falschen Formen lustig machte. Es begann mit der Strophe: Ich frug mich manchmal in den letzten Tagen: Woher stammt wohl die edle Form: er frug? Wer war der Kühne, der zuerst sie wug? So frug ich mich, so hab ich mich gefragen. Eine Anzahl von Zeitungen brachte dann elende Gegensonette, aus denen nichts weiter hervorging, als daß die Verfasser keine Ahnung von den Anfangsgründen der deutschen Grammatik hatten, und daß ihnen die falschen Formen schon so in Fleisch und Blut übergegangen waren, daß sie für das Richtige alles Gefühl verloren hatten. Wenn freilich Kindern, die im Elternhause noch richtig fragt und fragte gelernt haben, in der Schule das dumme frug in die Arbeiten hinein „korrigiert" wird, dann ist nichts zu hoffen.// Wie lange wird die alberne Mode dauern? wird sie nicht endlich dem Fluche der Lächerlichkeit verfallen? Alle guten Schriftsteller und alle anständigen Zeitschriften und Zeitungen brauchten nur die falschen Formen beharrlich zu meiden, so würden wir sie bald eben so schnell wieder lossein, wie sie sich eingedrängt haben. $Seite55$ Merkwürdig ist es, daß in diesem Falle die Sprache einmal aus der schwachen in die starke Konjugation abgeirrt ist. Gewöhnlich schlägt sie den umgekehrten Weg ein. Wie kleine Kinder, die erst reden lernen, anfangs starke Verba gern nach der schwachen Konjugation bilden: ich schreibte, er rufte mich, der Käfer fliegte, der Mann, der da reinkamte, so haben es auch immer die großen Kinder gemacht, die nicht ordentlich hatten reden lernen. Aber einzelne Zeitwörter sind schon in alter Zeit auch den umgekehrten Weg gegangen; so ist das ursprüngliche geweist und gepreist schon längst durch gewiesen und gepriesen verdrängt worden, und in Mitteldeutschland kann man im Volksmunde hören: es wurde mit der großen Glocke gelauten, ich habe den ganzen Winter kalt gebaden.//* Als eine Merkwürdigkeit mag erwähnt sei, daß die Leipziger Buchbinder sagen: das Buch wird bloß geheftet, dagegen die Leipziger Schneider: der Ärmel ist erst gehoften.// |
Zweifelsfall | |
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Beispiel | |
Bezugsinstanz | 19. Jahrhundert, alt, Sprachverlauf, Bismarck - Karl von, Bürger - Gottfried August, Mundart, Familie, Freytag - Gustav, Gebildete, Umgangssprache, Gellert - Christian Fürchtegott, Goethe - Johann Wolfgang, Schulsprache, Kindersprache, Literatursprache, Geschäftssprache, Geschäftssprache, Lessing - Gotthold Ephraim, mitteldeutsch, Molmerswende, niederdeutsch, Literatursprache, Wissenschaftssprache, Literatursprache, Scheffel - Joseph Victor von, Schiller - Friedrich, Literatursprache, Schulsprache, Literatursprache, Studentensprache, süddeutsch, Volk, Zeitungssprache, Zeitungssprache |
Bewertung |
besonders widerwärtig, gar zu greulich, albern |
Intertextueller Bezug |