Relativsätze. Welcher, welche, welches

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Buch Wustmann (1903): Allerhand Sprachdummheiten. Kleine deutsche Grammatik des Zweifelhaften, des Falschen und des Häßlichen
Seitenzahlen 110 - 115

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Unsicherheit
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Unter den Nebensätzen ist keine Art, in der so viel und so mannigfaltige Fehler gemacht würden, wie in den Relativsätzen. Freilich sind sie auch die am häufigsten verwendete Art.

Ein Hauptübel unsrer ganzen Relativsatzbildung liegt zunächst nicht im Satzbau, sondern in der Verwendung des langweiligen Relativpronomens welcher, welche, welches. Das Relativpronomen welcher gehört, wie so vieles andre, ausschließlich der Papiersprache an, und da sein Umfang und seine Schwere in gar keinem Verhältnis zu seiner Aufgabe und Leistung stehen, so trägt es ganz besonders zu der breiten, schleppenden Ausdrucksweise unsrer Schriftsprache bei. In der ältern Sprache war welcher (swelher) durchaus nicht allgemeines Relativpronomen, sondern nur indefinites Relativ, es bedeutete: wer nur irgend (quisquis), jeder, der, noch $Seite 111$ bei Luther: welchen der Herr lieb hat, den züchtiget er. Erst seit dem fünfzehnten Jahrhundert ist es allmählich zum gemeinen Relativum herabgesunken. Aber nur in der Schreibsprache, die sich so gern breit und wichtig ausdrückt, zuerst in Übersetzungen aus dem Lateinischen; der lebendigen Sprache ist es immer fremd geblieben und ist es bis auf den heutigen Tag fremd. Niemand spricht welcher, es wird immer nur geschrieben! Man beobachte sich selbst, man beobachte andre, stundenlang, tagelang, man wird das vollständig bestätigt finden. Es ist ganz undenkbar, daß sich in freier, lebendiger Rede, wie sie der Augenblick schafft, das Relativum welcher einteilte; jedermann sagt immer und überall: der, die, das. Es ist undenkbar, daß jemand bei Tische sagte: die Sorte, welche wir vorhin getrunken haben, oder: wir gehen wieder in die Sommerfrische, in welcher wir voriges Jahr gewesen sind.//* Nur in Süddeutschland und Österreich wird welcher auch gesprochen, aber immer nur von Leuten, die sich „gebildet" ausdrücken möchten. In deren falschem, halbgebildetem Hochdeutsch — da grassiert es. In Wien und München, dort sagen es nicht bloß die Professoren in Gesellschaft, sonbern auch schon die Droschkenkutscher, wenn sie zusammengekommen sind, um zu einem neuen Tarif „Stellung zu nehmen." Ja sogar der norddeutsche Professor spricht, wenn er nach Wien berufen worden ist, nach einigen Jahren „bloß mehr" welcher. In Mittel-und Norddeutschland aber spricht es niemand.// In stenographischen Berichten über öffentliche Versammlungen und Verhandlungen findet man allerdings oft Relativsätze mit welcher, aber darauf ist gar nichts zu geben, diese Berichte werden redigiert, und wer weiß, wie viele der dabei erst nachträglich in welcher verwandelt werden, weil mans nun einmal so für schriftgemäß hält! Und dann: Leute, die viel öffentlich reden, sprechen nicht, wie andre Menschen sprechen, sie sprechen auch, wenn sie am Rednerpulte stehen, anders als in der Unterhaltung, sie sprechen nicht bloß für die Zeitung, sie sprechen geradezu Zeitung; alte Gewohnheitsredner, die Tag für Tag denselben Schalenkorb ausschütten und es nicht mehr für der Mühe wert halten, sich auf eine „Ansprache" vorzubereiten, suchen auch mit ihrem welcher Zeit zu gewinnen, wie andre mit ihrem äh — äh. Wenn aber ein junger Pfarrer $Seite 112$ auf der Kanzel Relativsätze mit welcher anfängt, so kann man sicher sein, daß er die Predigt aufgeschrieben und wörtlich auswendig gelernt hat; wenn ein Festredner aller Augenblicke welcher sagt, so kann man sicher sein, daß das Manuskript seiner Festrede schon in der Redaktion des Tageblatts ist. Wer den Ausdruck im Augenblicke schafft, sagt der, nicht welcher. Darum ist auch welcher in der Dichtersprache ganz unmöglich. In Stellen, wie bei Goethe (in den Venetianischen Epigrammen): welche verstohlen freundlich mir streifet den Arm — oder bei Schiller (in Shakespeares Schatten): das große gigantische Schicksal, welches den Menschen erhebt, wenn es den Menschen zermalmt — oder bei Hölty: wunderseliger Mann, welcher der Stadt entfloh — oder bei Schikaneder: bei Männern, welche Liebe fühlen — oder bei Tiedge (in der Urania): mir auch war ein Leben aufgegangen, welches reichbekränzte Tage bot — oder bei Uhland: ihr habt gehört die Kunde vom Fräulein, welches tief usw., ist es nichts als ein langweiliges Versfüllsel, eine Strohblume in einem Rosenstrauß. Darum wird es ja auch mit Vorliebe in der Biedermeierpoesie verwendet und wirkt dort so unnachahmlich komisch: zu beneiden sind die Knaben, welche einen Onkel haben, oder: wie z. B. hier von diesen, welche Max und Moritz hießen. Aber auch in der dichterischen Prosa, was gäbe man da manchmal drum, wenn man das welcher hinauswerfen könnte, wie bei Gottfried Keller in Romeo und Julie auf dem Dorfe: sie horchten ein Weilchen auf diese eingebildeten oder wirklichen Töne, welche von der großen Stille herrührten oder welche sie mit den magischen Wirkungen des Mondlichtes verwechselten, welches nah und fern über die grauen Herbstnebel wallte, welche tief auf den Gründen lagen!

Leider lernt man in der Schule als Relativpronomen kaum etwas andres kennen als welcher. Man schlage eine Grammatik auf, welche (hier ist es am Platze! denn hier heißt es: welche auch immer) man will, eine lateinische, eine griechische, eine französische, eine englische: wie ist das Relativpronomen ins Deutsche über- $Seite 113$ setzt? Welcher, welche, welches! Allenfalls steht der, die, das in Klammern dahinter, als ob das gelegentlich einmal als Ersatz dafür geduldet werden könnte! Und sieht man in die Beispielsätze, die zur Übung in die fremde Sprache übersetzt werden sollen, wie fangen die Relativsätze an? Immer mit welcher, welche, welches. Nur ja nicht mit der, der Schüler könnte ja einmal irre werden! Daß die lebendige Sprache eine einzige große Widerlegung dieses Unsinns ist, sieht gar niemand. Kein Wunder, daß den meisten später das langweilige Wort in die Feder läuft, sowie sie die Feder in die Hand nehmen. Gerade umgekehrt müßte es sein. In alten Grammatiken müßte der, die, das als Relativpronomen stehn, dahinter in Klammern welcher, welche, welches, denn das ist doch das traurige Surrogat. Man benutze in Gottes Namen welcher im Unterricht ein paar Wochen lang als Verständniskrücke; aber sobald der Junge den Begriff des Relativs gefaßt hat, müßte die Krücke unbedingt weggeworfen, und er wieder auf seine eignen Beine gestellt werden. Wer einmal auf dieses Verhältnis zwischen der und welcher aufmerksam geworden oder aufmerksam gemacht worden ist, den verfolgt welcher förmlich beim Lesen, er sieht es immer gleichsam gesperrt oder fett gedruckt, und in wenig Tagen ist es ihm ganz unerträglich geworden; wenn ers schreiben wollte, käme er sich entweder ganz schulknabenhaft vor, oder er sähe sich sitzen wie einen alten, verschleimten Aktuarius mit Vatermördern, Hornbrille und Gänsekiel. Bisweilen will ihm wohl noch einmal ein wel— aus der Feder laufen; aber weiter kommt er nicht, dann streicht ers ohne Gnade durch und setzt der darüber.//* Um welcher zu verteidigen, hat man neuerdings ausgezählt, wie oft es unsre klassischen Schriftsteller schreiben, und hat gefunden, daß sie es — sehr oft schreiben. Was wird aber damit bewiesen? Doch weiter nichts, als daß auch unsre klassischen Schriftsteller von Kindesbeinen an im Banne der Papiersprache gestanden haben. Aber das braucht nicht erst bewiesen zu werden, das wissen wir längst. Sprachdummheiten. 3. Aufl.//

Aber gibt es denn nicht Fälle, wo man welcher gar nicht umgehen kann, wo man es ganz notwendig $Seite 114$ braucht, um einen häßlichen Gleichklang zu vermeiden? Wenn nun unmittelbar auf der (qui oder cui) der Artikel der folgt, unmittelbar auf die (quae oder quam oder quos oder quas) der Artikel die? Nikolaus, der der Vater des Andreas gewesen war — eine Verwandlung, bei der der große Vorhang nicht fällt — die Prozessionsstraße, auf der der Papst zum Lateran zog — auf der Wiese, durch die die Straße führt — die Bildwerke, die die hehre Göttin verherrlichen — das Tau, das das Fahrzeug am Ufer hielt — das sind doch ganz unerträgliche Sätze, nicht wahr? Mancher Schulmeister behauptets. Es gehört das in das berühmte Kapitel von den angeblich unschönen Wiederholungen, vor denen der Unterricht zu warnen pflegt. Die Warnung ist aber ganz überflüssig, sie stammt nur aus der Anschauung des Papiermenschen, der die Sprache bloß noch schwarz auf weiß, aber nicht mehr mit den Ohren aufzufassen vermag. Der Papiermensch sieht das doppelte der der oder die die, und das flößt ihm Entsetzen ein. Aber lies doch einmal solche Sätze laut, lieber Leser, hörst du nichts? Ich denke, es wird dir aufdämmern, daß es zwei ganz verschiedne Wörter sind, die hier nebeneinander stehen: ein lang und schwer gesprochnes der (das Relativpronomen) und ein kurz und leicht gesprochnes der (der Artikel). Was man hört, ist: deer dr. Jedermann spricht so, und keinem Menschen fällt es ein, daran Anstoß zu nehmen; warum soll man nicht so schreiben? Aberglaube, dummer Aberglaube! Und fürchtet sich denn jemand vor daß das? Jeder schreibt unbedenklich: wir wissen, 'daß das höchste Gut die Gesundheit ist. Ach so, das sind wohl zwei verschiedne Wörter? das eine mit ß, das andre mit s? Nein, es sind keine verschiednen Wörter. Sie klingen gleich, und sie sind gleich; das Fügewort daß ist ja nur in der Schrift ganz willkürlich von dem hinweisenden Fürwort das unterschieden worden. Aberglaube, dummer Aberglaube!//* Wenn man nicht der der oder die die schreiben dürfte, dann dütfte man auch nicht schreiben: an andrer Stelle, ein einzigesmal, bei beiden Gelegenheiten, mit mitleidiger Miene. Sehr oft entsteht $Fußnote auf nächster Seite fortgeführt$ übrigens die so gefürchtete Doppelung nur durch falsche Wortstellung: ein persönliches oder reflexives Fürwort, das zwischen die beiden der oder die oder das gehört, wird verschoben und erst beim Verbum nachgebracht; alle Änderungen, die die Schule sich hat gefallen lassen — die Grundsätze, an die die Revision sich gebunden hat — die Aufgaben, die die wirtschaftlichen Bedürfnisse der Zeit uns stellen. Man bringe das persönliche Fürwort an die richtige Stelle, und das Gespenst ist verschwunden.//

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Zweifelsfall

Konkurrierende Relativpronomina

Beispiel
Bezugsinstanz gesprochene Sprache, alt, Literatursprache, Literatursprache, Lyrik, Prosa, Literatursprache, Geschäftssprache, gesprochene Sprache, Goethe - Johann Wolfgang, Sprachgelehrsamkeit, Hölty - Ludwig, Keller - Gottfried, Literatursprache, alt, gesprochene Sprache, Sprache der Politik, Luther - Martin, mitteldeutsch, München, norddeutsch, norddeutsch, Österreich, Schriftsprache, Schriftsprache, Schriftsprache, Kirchensprache, Wissenschaftssprache, Schikaneder - Emanuel, Schiller - Friedrich, Schriftsprache, Schriftsprache, Schulsprache, Schulsprache, Sprachverlauf, gesprochene Sprache, Behördensprache, süddeutsch, Tiedge - Christoph August, Uhland - Ludwig, Wien, Zeitungssprache
Bewertung

so viel und so mannigfaltige Fehler, Hauptübel, breite, schleppende Ausdrucksweise, fremd, ganz undenkbar, langweiliges Versfüllsel, eine Strohblume in einem Rosenstrauß, unnachahmlich komisch, eine einzige große Widerlegung dieses Unsinns ist, traurig, unerträglich, notwendig, häßlicher Gleichklang, unerträgliche Sätze, angeblich unschön, überflüssig, Aberglaube, dummer Aberglaube, das Gespenst

Intertextueller Bezug Wustmann: Sprachdummheiten. 3. Aufl.