Attribut: KapitelText
Aus Zweidat
Dies ist ein Attribut des Datentyps Text.
E
Viel schwieriger ist es, zu unterscheiden, wann die Anknüpfung eines Vergleichs- oder Folgesatzes an ein von einem Eigenschaftsworte begleitetes Hauptwort den nämlichen Fehler bedeutet wie die in § 204—206 behandelten Stellungen und wann sie erlaubt ist. Viel öfter ist das letztere der Fall, weil sich solche Sätze meist nicht an das einzelne Attribut, sondern an dieses und das Substantiv zusammen oder gar an den aus deren beider Verbindung mit dem Zeitwort erwachsenden Begriff anschließen. Man vergleiche nur: ''Unter andern Leuten, als du bist. Wir waren auf nördlicheren Wegen als Ernst Marno vorgegangen'' (Junker). ''Die Polen leisten der Russifikation zähern Widerstand, als man erwartet'' $Seite 191$ ''hatte. Die Hirten flochten so enge Gefäße, daß sie auch Wasser hielten'' (J. Grimm). ''Ich fand einen jungen wohlgebauten Mann mit rundem zusammengefaßten'' (!) ''Gesicht, ohne daß die Züge deshalb stumpf gewesen wären'' (Goethe); ''halbfertige, gerade so weit gestaltete Aufsätze, daß der Leser ihren Inhalt erraten kann'' (DAZ. 28); ''mit so unterm Arm getragenem Pickel, daß er mit dem Körper einen Winkel von 90° bildet'' (M.DÖAV. 26). Von einem Fehler kann man zuerst da reden, wo eine Eigenschaft, die als an verschiedenen Gegenständen in gleichem oder verschiedenem Grade vorkommend dargestellt werden soll, dem einen als Attribut vorgesetzt wird, obgleich doch dann eine Beziehung des Vergleichssatzes auf Attribut + Substantiv unmöglich ist, indes es festzustellen gilt, in welchem Grade sie bei jedem im besondern vorhanden ist. So tadelt schon Götzinger mit Recht den Satz: ''Alibaba hatte eine ebenso arme Frau geheiratet als er selber war''; und wir tun desgleichen mit den folgenden: ''Handlungen, die ein so bewegtes Herz als seines durch Jenny hätten unglücklich machen müssen'' (E. Förster); ''seine um mehrere Millionen höhere Zivilliste als die Karls X''. (Dürkheim); ''die Eröffnung'' (!) ''der Sitzung ist heute im ... Saale des Louvre vor sich gegangen'' (!); ''die großem Räumlichkeiten als im Karyatidensaale der Tuillerien hatten erlaubt'' ... (Tägl. R.); ''Ich hätte ihn wie einen stolzeren Bruder betrauert, wie einen größeren Aristokraten als ich'' (R. H. Bartsch).
Einen Fortschritt selbst über die Klassiker hinaus stellt die Art dar, wie in überlegter Sprache heute durchgängig ein zweites oder drittes Eigenschaftswort, das zu einem schon durch ein Eigenschaftswort bestimmten Hauptworte und dieser Bestimmung zusammen tritt (''eine vierseitige gradlinige Figur'' = eine gradlinige Figur, die vierseitig ist), durch seine Adjektivform von einer Bestimmung geschieden wird, die, nur einem Eigenschaftsworte geltend, allein dessen Begriff einschränkt und immer im Adverbium steht: ''mit gutmütig derbem Tone'', d. h. mit einem Tone, dessen Derbheit gutmütig ist. Statt wie Goethe noch sagte: (Minna von Barnhelm), ''ein Werk von vollkommenem norddeutschem Nationalgehalte'', sagen wir also: ''ein Stück von vollkommen norddeutschem Nationalgehalte''. Und da wir scharf, bequem und trefflich unterscheiden können — z. B. ''ein schönes, frisches Gesicht'' und ''ein noch schön frisches Gesicht'' —, so sind wir verpflichtet, in der Schriftsprache diesen Fortschritt zu wahren und nicht besonders die gradbestimmenden Angaben wie ''recht, ganz, außerordentlich'' u. ä. vor dem Eigenschaftswort in mundartlicher Weise zu beugen: ''ein ganzer neuer Hut, ein rechter braver Schüler''. Die Häufigkeit dieser Ausdrucksweise ist auch schuld an solchen Anzeigen in den Blättern: ''Ein vollständiger ausgelernter Bäckergeselle sucht Arbeit''. Freilich auch Jensen redet von einem ''unzweifelhaften römischen Wartturm'' statt ''einem unzweifelhaft römischen'', und ähnlich ein Mitarbeiter der Tägl. R. von ''Geweben mit einem möglichst neutralen altmodischen guten'' (statt ''gut'') ''stilisierten Muster''. Auch eine Substantivierung des Eigenschaftswortes ändert an der Behandlung eines Bestimmungswortes nichts, das nicht dem dadurch aus- $Seite 181$ gedrückten ganzen Wesen, sondern nur der Eigenschaft gilt. So muß es wohl heißen: ''Geizige Reiche'', d. h. reiche Leute, die geizig sind, aber ''die geistig Armen'' d. h. die Leute, die an Geist arm sind. Also hat eine Zeitung unrichtig geschrieben: ''zwei anscheinende Fremde'' statt ''anscheinend Fremde'', d. h. zwei Männer, die anscheinend fremd waren, und richtig: ''zwei anscheinend Tote; das offenbar Vorbereitete und Berechnete des Streiches''.
Auch das Gegenstück fehlt im heutigen Schrifttume nicht, der Gebrauch des Adverbs, wo doch, als auch zum Substantiv gehörig, das Adjektiv erfordert wird. Da wird ''ein tüchtig unverheirateter Gärtner, ein anständig junger Mann'' gesucht, und ein Großhändler preist ''echt importierte Zigarren'' an. Selbst Boyen legt dem Fürsten Schwarzenberg den Ruf ''persönlich glänzender Tapferkeit'' bei, und zwei süddeutsche Gelehrte schreiben: ''Davon habe ich in meiner Ausgabe der ältest erreichbaren Texte das Erforderliche beigebracht und die nach ihrem ältest erkennbaren ... Auslaute sogenannten A-Stämme''; und doch sind die ältesten Texte und Vokale gemeint, die erreichbar und erkennbar sind! Vollends sind Anschriften derart häufig: ''Staatlich'' (statt ''Staatlicher'') ''Oberbrambacher Sauerbrunn.''
Statt solcher Beifügungen, die hauptsächlich zu Bezeichnungen von (handelnden) Personen auf -''er'' gesetzt werden, sollte offenbar genau genommen nur das Umstandswort zu der in deren Stamme liegenden Tätigkeit treten. Doch sind uns längst solche Fügungen geläufig wie ''der feine Beobachter und scharfe Kritiker'', ''der gute Redner'' und ''gewandte Erzähler''. Wir sagen auch unbedenklich ''ein hoher Siebziger'', selbst ''ein schwerer Patient'' und ''ein schwer''(''er'') ''Kranker'' und können auch ruhig die fachmännischen Ausdrücke ''innere'' und ''äußere Kranke'' u. m. a. annehmen. Die Sprachlehre hat hier gern als eine Tugend anzuerkennen, was die Sprache aus Not geschaffen hat, aus der Not nämlich, daß im Deutschen einem Hauptworte kein Umstandswort der Weise als Beifügung vorangestellt werden kann. So darf denn niemand Goethes Fügung nachahmen: ''Ich würde zwar nicht als Mitschuldiger, aber als zufällig Mitwisser in die Untersuchung verwickelt werden''; es war nötig ''zufällig Mitwissender'', da solche Umstandswörter nur neben Mittel- und Eigenschaftswörtern möglich sind. +
Adjektiva und Partizipia, die substantiviert wurden, nahmen in der ältesten Zeit stets die schwache Form an, auch hinter dem unbestimmten Artikel. Reste davon sind ''Junge'' (''ein Junge''), eigentlich ''ein Junger'', das in der Form ''Jünger'' noch daneben steht, und ''Untertan(e)'', eigentlich ''ein Untertaner''. Später ist auch bei solchen substantivierten Adjektiven und Partizipien überall hinter ''ein'' die starke Form eingetreten: ''ein Heiliger'', ''ein Kranker, ein Fremder, ein Gelehrter, ein Verwandter, ein Junges'' (von Hund oder Katze), ''ein Ganzes'', und stark wird auch überall der alleinstehende artikellose Plural jetzt dekliniert: ''Heilige, Verwandte, Geistliche, Gelehrte, Junge'' (''der Hund hat Junge bekommen''). Werden aber diese substantivierten Adjektiva und Partizipia mit einem Adjektiv versehen, so erhält sich ihre schwache Form: ''ein schönes Ganze'' (noch genau so wie ''ein guter Junge''), ''mein ganzes Innere, von auffälligem Äußern, mit zerstörtem Innern'', und namentlich im Genitiv der Mehrzahl: ''eine Anzahl wunderlicher Heiligen, eine Versammlung evangelischer Geistlichen, ein Kreis lieber Verwandten, die Stellung höherer Beamten, die Arbeiten großer Gelehrten, ein Kreis geladner Sach-'' $Seite 33$ ''verständigen, große Züge französischer Kriegsgefangnen, die Lehren griechischer Weisen'' usw.
Neuerdings versucht man, auch hier überall krampfhaft die starke Form durchzudrücken und lehrt, weil es heiße ''ein Ganzes'', so müsse es auch heißen: ''ein schönes Ganzes, mein ganzes Inneres, ein ungewöhnliches Äußeres, mit zerrüttetem Innerm'', und im Genitiv der Mehrzahl: ''die Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger, der Verband sächsischer Industrieller, zum Besten armer ''Augenkranker'', zur Unterstützung verschämter Armer, die Anstellung pensionierter Geistlicher, Mißgriffe preußischer Polizeibeamter, die Behandlung betrunkner Untergebener, Geldbeiträge reicher Privater, der Streit zweier berühmter deutscher 'elehrter, die Zustimmung vieler amerikanischer, spanischer und französischer Gelehrter, die Einbildung etlicher wunderlicher Heiliger'' usw. Daß die gehäuften ''er'' in den Endungen nicht gerade schön klingen, würde nichts zu sagen haben; das ließe sich auch gegen jede andre Endung einwenden. Aber da die schwache Form in diesem Falle das ältere ist, so verdient sie unbedingt den Vorzug. Unsre guten Schriftsteller haben nie anders geschrieben als: ''zur Unterstützung verschämter Armen, inmitten eifersüchtiger Fremden''. ''Ein schönes Ganzes'' und ''nach dem Urteil deutscher Gelehrter'' sind unnatürliche, gewaltsame Erzeugnisse der Halbwisserei. Menschen von feinerem Sprachgefühl werden hier immer das fehlende Hauptwort vermissen: ''ein schönes ganzes'' (was denn?).
Eine Liederlichkeit ist es, substantivierte weibliche Adjektivformen, wie ''die Rechte, die Linke, die Weiße'' (''eine Berliner Weiße''), wie Substantiva zu behandeln und zu schreiben: ''die Einführung der Berliner Weiße''; richtig ist nur: ''der Berliner Weißen'', wie in ''seiner Rechten, auf der äußersten Linken''. Auch ''die Herbstzeitlose'' gehört hierher. Nur ''die Feste'' (nämlich eigentlich ''Burg'' oder ''Stadt'') ist ganz zum Substantiv geworden: ''die Grundmauern der zerstörten Feste, ''auf hoher Feste''.
Am ehesten ist ein ganzer Satz, der Subjekt oder Objekt ist, so bedeutsam und in seiner Form so wenig einseitig für den einen oder andern Dienst auschließlich bestimmt, daß er der Verbindung zweier Sätze, deren einer desselben als Subjekt, der andre als Objekt bedarf, sehr wohl bloß einmal eingefügt zu werden braucht. So ist also Ranke im Recht mit dem Satze: ''Sehr unterrichtete Männer hielten sich überzeugt und es ist in der Tat wahrscheinlich, daß sie schon im voraus eine Kapitulation mit Louvois verabredet hatten'' (Vgl. S. 192 Anm. 1). Auch von einem artikellosen Hauptworte gilt dasselbe, wenn es nur die geeignete Stellung erhält, wie in dem Hebelschen Verse: ''Der Kaiser trinkt Burgunderwein und schmeckt ihm doch nicht besser'', oder in der Schillerschen Überschrift: ''Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?'' (Vgl. § 312* a. E.). Sehr vorsichtig soll man dagegen darin sein, die Fürwörter ''es, das, des'' (über ''der'' und ''welcher'' vgl. § 308) nur einmal zu sehen und zugleich als Nominativ und Akkusativ verstanden wissen zu wollen; dies darum, weil ihre Form lediglich dazu da ist, das Bedeutsamere, ihr Beziehungswort, in der durch die Fügung benötigten Form zu vertreten. So ist kaum ein $Seite 306$ betontes ''das'' oder ''dies''(''es'') ausnahmsweise einmal kräftig genug und fähig, die doppelte Verrichtung auf sich zu nehmen, wie in dem Satze: ''Nur das'' (''eine'') ''hielt er mit seinem ganzen Herzen fest und konnte ihm nie ausgeredet werden''. Am schwersten wird es fallen, das unbedeutendste Wörtchen ''es'' zweifach zu verstehn, wie es der Satz Goethes zumutet: ''Keine Würmer stechen es an und wird auch, wie billig, höher gehalten als Gold''. Noch härter wirkt der P. Kellers: ''Mauds Leben war ebenso einfach wie ihre Erscheinung. Es gab weder besondere Merkwürdigkeiten darin noch glich dem von Tausenden von jungen Mädchen und Frauen''; denn bloß formelles Füllsel, soll dieses ''es'' im zweiten Satz wirklich noch als dessen Subjekt wirken.
Auch Hauptwörter, die an der Spitze des ersten Satzes im 1. oder 4. Fall stehen und im zweiten je in dem andern gefordert werden, wird man besser immer durch ein Fürwort wieder aufnehmen und Härten vermeiden, wie sie der Satz H. Potoniés enthält: ''Die Reisebeschreibung Darwins: Reise eines Naturforschers um die Welt, muß ein heutiger Naturforscher gelesen haben, und'' — fehlt: ''sie — wird auch jedem, der sich für die Naturwissenschaft interessiert, ohne Gelehrter zu sein, hohe Befriedigung gewähren''.
Die gewähltere Sprache macht die appositive Anfügung substantivierter Adjektive oder mit einem Attribute versehener Substantive noch wenig mit, und selbst in geschäftlichen Mitteilungen guter Blätter liest man empfehlenswert noch: ''kein Dutzend beschlußfähiger Sitzungen, 100 Kilogramm rauchlosen Pulvers, 25 000 Tonnen englischer Kohle, russische Zollmaßregeln gegen eine neue Reihe deutscher Erzeugnisse'' u. a. Auch bei substantivierten Adjektiven, die sich mit vorhergehenden Substantiven weniger formelhaft zusammengewöhnen können, überwiegt die Genetivform über die appositive, nur daß hier sehr oft und berechtigt die Umschreibung durch ''von'' eintritt. Also ist gewöhnlicher und empfehlenswerter: ''eine stattliche Reihe Abgeordneter, eine Menge Industrieller, eine große Anzahl von Bekannten, ein ganzes Heer Bedienter'' oder ''von Bedienten''; und wenn Junker schreibt: ''Einige Dutzend Neugierige folgen dem Signal'', oder Scheler gar: ''bei einer ganzen Reihe Historiker und Nationalökonomen, Politiker und Publizisten'', so bieten sie eben nicht das Sorg- $Seite 177$ fältigere. Vollends aber, wenn ein Substantiv ein Adjektiv bei sich hat, das der Unterscheidung, dem Schmucke der Rede, der Schilderung und Veranschaulichung vielleicht einer ganz besonderen Eigenart oder einer überhaupt nur für den Einzelfall gültigen Erscheinungsform dient, dann ist allein der Teilungsgenetiv am Platze. Als musterhaft kann also dann nicht gelten das Goethische: ''mit dieser Menge in vielen Zimmern hintereinander arbeitenden jüngeren und älteren Männern'', sondern solche Fügungen des Altmeisters: ''mit einem Gläschen kristallisierten trocknen Salzes'', oder W. Raabes: ''aus Grünhages letztem Kruge echten doppelten Steinhägers''. Dem entsprechend stand in der Tägl. R. sogar zu lesen: ''Batterie fliegender Artillerie, mit einem Paar ziemlich abgetragener Kommißhosen, eine Kompanie regulärer schwarzer Soldaten, mit einem Paar leichter arabischer Schuhe''. Ganz allgemein aber fordert das Malerische und Eigenartige der Beifügung den Genetiv: ''mit einer Ladung schillernden Neckarweins'' (Scheffel); ''lange Züge teebeladener Kamele, Herden die gleiche Last tragender Esel begegnend, ein Stück echten und rechten, herzerfreuenden Waldes, dichte Schwärme feuerrot leuchtender Finken, eine Schar mit Lanzen bewaffneter Makaraka, durch eine große Reihe aufgedehnter, den Fluß völlig versperrender Grasbarren'' (Junker). Auch in dem schwungvollen Satze Findeisens: ''Jauchzende Ladungen Germanenzorn rissen die donnernden Räder in die jäh aufschießende slavische Sonne hinein'' erwartet man den Wesfall ''Germanenzorn''(''e'')''s''.
Für einen ungezwungenen, frischen und munteren Stil ist innerhalb desselben Gebietes sogar noch ein Zugeständnis zu machen, daß nämlich die für das zweite Glied benötigte richtige Fügung durch ein hinweisendes Fürwort angedeutet wird, freilich möglichst nur in der leichten Form des persönlichen Fürwortes, besonders ''er, sie, es'' mit dem zugehörigen zueignenden (''sein, ihr'') und der vertretenden Adverbien ''darin, dadurch'' u. ä. Denn der Mangel jedes Ausdruckes für das Abhängigkeitsverhältnis $Seite 300$ im zweiten Satze würde doch oft zu schwer empfunden werden; so wenn Schiller in dem Satze: ''Sprüche, die der Wandersmann verweilend liest und ihren Sinn bewundert'', das besitzanzeigende ''ihren'' hätte weglassen wollen. Auch in dem Satze einer Homerausgabe: ''Der Kampf um die Leiche des'' (!) ''Sarpedon, deren sich Patroklus zuletzt bemächtigt und sie der Waffen beraubt'', und in dem Mommsens: ''eine schändliche Gewalttat, vor der jedermann schauerte und sich dabei der furchtbaren Herrschaft des Schreckens erinnerte'', würde man etwas vermissen, wenn die Formwörtchen ''sie'' und ''dabei'' fehlten. Schon Wolfram v. E. bietet: ''Des steines phligt iemer sider, die got derzuo benende unt in sîn engel sande''; und Gottfried Keller öfter derartiges: ''Es schwebte wie ein Stein vor uns, nach welchem sich unsre Reden richteten und sich dort vereinigten''. Und wenn die Fügung dann von Luther bis auf die Klassiker schon häufig war, so ist sie es noch heute nicht minder//1 Während das Lateinische diese Freiheit nicht kennt, sondern die Freiheit im Satzbau hier wie meist der strengen Regel opfert, ist diese Freiheit, wie im Deutschen, so auch im Griechischen zu hause. Da aber die Griechen trotz oder gerade bei ihrem Kunstverständnisse, das sie die Verschiedenheit des Stils Homers und der Geschichtsschreiber und Redner wohl zu würdigen befähigte, auch in der vollendetsten Prosa ein Relativum durch eine Form des schwerfälligeren ''aytos'' (= ''derselbe'') fortsetzten, so braucht sich auch heute kein Deutscher vor dem Vorwurfe der Willkür und Gesetzlosigkeit zu fürchten, wenn er sich größerer Glätte und Leichtigkeit, dem Sinne und Wohlklange zuliebe eine freiere Fügung gestattet, die ursprünglich sogar noch häufiger war. Auch die der unsern verschwisterte englische Sprache kennt sie ja, und Übersetzung daher ist der Satz nach Drummond: ''Ist es darum, weil dich jemand lieb hat, den du auch morgen wiedersehn, mit ihm zusammensein und ihn lieb haben willst?''//. E. T. A. Hoffmann schrieb: ''ein wunderbarer Jüngling, den der Graf ... liebte und ihm, da er kinderlos war, sein ganzes Vermögen zuzuwenden gedachte; dieselben Ohrgehänge, die ich schon vor mehreren Tagen trug und mich daran ergötzte; dem alten Freiherrn, dem er sogleich sein Vertrauen schenkte und ihn in seinem Amte bestätigte''; u. ä. oft R. Hildebrand: ''Darüber hätte ich viel auf dem Herzen, das ich gern in einer ähnlichen Schrift ausschütten möchte und dazu gleich dies und das aus Ihrer Schrift gebrauchen könnte''; und: ''Dies leistet Ihr Wort pommier doch nicht, das weit abstrakter ist, unsers'' (''Apfelbaum'') ''aber konkret anschaulich''; Herm. Löns: ''Du, von dem ich nicht weiß, wer du bist, den ich niemals gesehen habe und der vor meinen Augen steht, vor dem ich Angst habe und vor Sehnsucht nach ihm sterbe''; D. Ztg. 1918: ''Das ist der Gedanke, dem sie fort und fort vertreten und das Volk damit mürbe machen''; Hilm. Kalliefe: ''Früher oder später bauten sie an dieselbe Stelle eine Kirche, der die Steinkreuze weichen oder mit dem Platz in ihrer Nähe vorlieb nehmen mußten''; und W. Flex: ''des Märchens von den badenden Wasserweibern, deren Hemden ein Held am Ufer findet und durch ihren Raub die fremden Wesen zwingt, Rede und Antwort zu stehen''. Diese Fortführung verdient vor der regelrechteren, bei welcher das Relativ im Anfange des zweiten Satzes in der durch diesen geforderten Form wiederholt wird, dann sogar den Vorzug, wenn die Nebensätze inhaltlich eng zusammenhängen und die dieses Verhältnis andeutende Zusammenziehung durch Wiederholung des Relativums für alle Satzteile unmöglich gemacht würde; das heißt aber nichts anders als: wenn die sogenannte richtigere Form der Sache weniger entspräche. Dies wird am deutlichsten, wenn der zweite Satz kurz ist und gewisser- $Seite 301$ maßen nur eine besondere Art der im ersten angegebenen Tätigkeit anführt; z. B. wenn J. Grimm schreibt: ''wie dem zu Mute sein muß, der sein Haus auf offner Straße auferrichtet, vor welchem die Leute stehen bleiben und es begaffen''; das ''stehen bleiben'' und ''begaffen'' ist eins und würde garstig zertrennt durch eine Wiederholung des Relativs und, wie dann notig würde, auch des Subjekts: ''und welches sie begaffen''. Auch in einem längeren Satze wie dem Luthers: ''Einer klaget sein Elend, daß er von seinen Kindern, die er ausgestattet und ehrlich begabet, ja alle seine Habe auf sie gewandt habe'' usw. würde das Wichtige, die ''Aufwendung aller Habe'', mehr als eine Tonstärke verlieren, wenn das das Beziehungswort aufnehmende Relativ beherrschend an die Spitze träte. Man spanne nur auch einmal den folgenden Satz Bornhaks in die Zwangs- oder Korrektionsjacke, wie es für die pedantischen Füger des Korrekten besser heißen dürfte, und er wird steif zum Entsetzen: ''Sonderlich wird er der väterliche Freund der Prinzessin Vicky, dem sie alle Kindersorgen und -freuden mitteilt, später mit ihm und für ihn Arbeiten anfertigt''; dafür hieße es also dann: ''mit dem und für den sie später'' usw.
Wenn das Subjekt eines Satzes durch ein Wort wie ''Zahl, Anzahl, Menge, Masse, Fülle, Haufe, Reihe, Teil'' und ähnliche gebildet wird, so wird sehr oft im Prädikat ein Fehler im Numerus gemacht. Zu solchen Wörtern kann nämlich entweder ein Genitiv treten, der als Genitiv nicht erkennbar und fühlbar ist, sondern wie ein frei angeschlossener Nominativ erscheint $Seite 95$ (''eine Menge Menschen'') und deshalb sogar ein Attribut im Nominativ zu sich nehmen kann (''eine Menge unbedeutende Menschen''//* Vergl. ''ein Schock frische Eier — ein Dutzend neue Hemden — eine Flasche guter Wein — mit ein paar guten Freunden — mit ein bißchen fremdländischem Sprachflitter''.//, oder ein auf irgendeine Weise erkennbar gemachter Genitiv (''eine Menge von Menschen, eine Menge unbedeutender Menschen''); die eine Verbindung ist so gebräuchlich wie die andre. Nun ist wohl klar, daß in dem ersten Falle das Prädikat in der Mehrzahl stehn muß; der scheinbare Nominativ ''Menschen'' tritt da so in den Vordergrund, daß er geradezu zum Subjekt, daher für die Wahl des Numerus im Prädikat entscheidend wird. Ebenso klar ist aber doch, daß in dem zweiten Falle das Prädikat nur in der Einzahl stehen kann, denn der abhängige Genitiv von ''Menschen'' bleibt im Hintergrunde, und entscheidend für den Numerus im Prädikat kann dann nur der Singular ''Menge'' sein. Man kann zwar zu solchen Begriffen — nach dem Sinne — das Prädikat auch in die Mehrzahl setzen, aber doch nur, wenn sie allein stehen; durch den abhängigen deutlichen Plural-Genitiv wird das zusammenfassende, einheitliche in dem Begriff ''Menge'' so eindringlich fühlbar gemacht, daß es in hohem Grade stört, wenn man Sätze lesen muß, wie: ''eine auserlesene Zahl deutscher Kunstwerke sind gegenwärtig in Leipzig zu sehen — eine große Anzahl seiner Erzählungen beginnen mit dem jugendlichen Alter des Helden — in der öffentlichen Besprechung sind eine große Anzahl von Gründen angeführt worden — eine Menge abweichender Beispiele dürfen nicht dazu verleiten, die Regel als ungiltig zu bezeichnen — außer den Seen müssen noch eine Menge kleiner Kanäle benutzt werden — dem Reichsdeutschen treten in dem schweizerischen Schriftdeutsch eine ganze Menge von Besonderheiten entgegen — in spätern Auflagen standen noch eine Reihe von neuen Gedichten — eine Reihe charakteristischer Eigentümlichkeiten sind bei Rost und Gellert übereinstimmend vorhanden — eine'' $Seite 96$ ''Reihe von Kunstbeilagen ermöglichen dem Kunsthistoriker weitergehendes Studium — kaum ein halbes Dutzend der vorzüglichsten Dramen finden nachhaltige Teilnahme — der größte Teil der Grundbesitzer waren gar nicht mehr Eigentümer — ein ganz geringer Bruchteil der Stellen sind auskömmlich bezahlt — von diesem schönen Unternehmen liegen nun schon eine Reihe von Heften vor — wer da weiß, wie schrecklich unbeholfen die Mehrzahl unsrer Knaben sind — dem Erfolge stehen eine Fülle von verschiednen Bedingungen entgegen''. Alle, die so schreiben, verraten ein stumpfes Sprachgefühl und lassen sich von dem Krämer beschämen, der in der Zeitung richtig anzeigt: ''Ein großer Posten zurückgesetzter Unterröcke ist billig zu verkaufen''. Besonders beleidigend wird der Fehler, wenn das Zeitwort im Plural unmittelbar vor dem singularischen Begriff der Menge steht.
Umgekehrt sind manche geneigt, alle Angaben von Bruchteilen als Singulare zu behandeln und zu schreiben: ''bei Aluminium wird zwei Drittel des Gewichts erspart — es wurde nur fünf Prozent der Masse gerettet''. Hier ist der Singular natürlich ebenso anstößig, wie in den vorher angeführten Beispielen der Plural.
Dem Deutschen eigentümlich ist die Anrede ''Sie'', eigentlich die dritte Person der Mehrzahl. ''Sie'' ist dadurch entstanden, daß man vor lauter Höflichkeit den Angeredeten nicht bloß, wie andre Sprachen, als Mehrzahl, sondern sogar als abwesend hinstellte. Man wagte gleichsam gar nicht, ihm unter die Augen zu treten und ihn anzublicken. Das pluralische Prädikat zu diesem ''Sie'' wird aber nun sogar mit singularischen Subjekten verbunden, wie ''Eure Majestät, Exzellenz, der Herr Hofrat'' (Goethe im Faust: ''Herr Doktor wurden da katechisiert''). So unnatürlich das ist, es wird schwerlich wieder zu beseitigen sein. Die wunderlichste Folge dieser Spracherscheinung ist wohl ein Satz wie der: ''Verzeihen Sie, daß ich Sie, der Sie ohnehin so beschäftigt sind, mit dieser Frage belästige.''
Daß man aus einer vorhergehenden Einzahl zu dem folgenden Zahlwort die Mehrzahl ergänzt, ist ja ganz geläufig. Und dieses Mittel sollte lieber als die immer übelklingende Wiederholung anwenden, wer auf Korrektheit auch hier erpicht ist; so haben schon die mittelhochdeutschen Schriftsteller, so hat Bismarck geschrieben: ''eine Woche oder zwei''. In der Mundart, und auch in dem Stile, der davon nicht ängstlich freigehalten zu werden braucht, heißt es dann dafür bequemer: ''ein''(''e'') ''Wocher acht'', indem besonders zur Bezeichnung einer ungefähren Zahlangabe, also statt ''etwa, ungefähr'' u. ä., auf das gewöhnlich ungebeugt bleibende ''ein'' mit dem Singular//1 Nur scheinbar eine Mehrzahl, tatsächlich aber Erinnerungen an ursprünglich schwache Deklination oder Übertritt in diese sind Formen wie: ''ein Wochener vier; in Meilener acht'', oder bei Mörike (Briefe II, 334): ''daß ich einmalner drei vernehmlich hustet’'', und mit an sich falscher Anlehnung an diese schwachen Formen Fritz Reuter bei Gaedertz: ''ein Stückener vier Glycinia chinensis''. Wenn jetzt Mehrzahlen, die zu der der Einzahl nicht passen können, hinzugefügt und gesagt wird: ''ein Häuser'' $Fußnote auf nächster Seite fortgesetzt$ ''drei, ein Kinderer sieben'', so geht da das Sprachbewußtsein des Volkes in derselben Richtung irre, als wenn Sprachforscher die Form als einen Gen. Plur. mit nachgesetztem Artikel (!) erklären, der von dem in der Fügung liegenden unbestimmten Zahlbegriffe abhänge. Merkwürdig nur, daß dieser nachgesetzte Artikel gar keine Anlehnung findet und nicht vorkommt, wenn das zweite Zahlwort vor dem Hauptworte steht: ''eine 4 oder 6 Wochen, noch ein 8 Tage; Wer etliche Jahre, ein Jahr 30, 40 zurück hätte! — einen Monat 5 oder 6''. Alle diese Fügungen beruhen auf weiter nichts als auf der (einst so häufigen, jetzt seltenen) Nachstellung der Adjektive und dem Herabsinken des ''ein'' zu einer meist als Adverb behandelten Andeutung der Einheit in einer nicht ganz bestimmten Zahlangabe.//und dem damit Verwachsenen oder eine weitere Zahl folgt: ''ein Fuderer fünf, ein Schocker dreißig, in ein Tager sechs''.
Seinen Ausgangspunkt hat der sonst unrichtige Dativ wohl und ist durchaus berechtigt $Seite 204$ in der Wendung: ''sich nichts merken lassen''. Der Satz Goethes: ''Ich fürchtete mich so sehr als die andern, ließ mich es aber nur weniger merken'', ist sogar falsch; denn die in den vierten Fall gehörende Person, die man zu bemerken hindert, ist zu ergänzen und in dem ''mich'' steckt die, der es darauf ankommt, daß man ihr nichts anmerkt, sodaß hier der dritte Fall das richtige wäre. Nur natürlich ist es, daß der dritte Fall aus dieser reflexiven Wendung unter Anlehnung an ''verraten, mitteilen'' auch allgemeiner und kaum noch beanstandbar in die Verbindungen: ''merken wissen -, fühlen -, sehen lassen'' vorgedrungen ist, nach dem Muster der klassischen Sätze: ''Ohne ihm'' (natürlich korrekt auch ''möglich ihn'') ''das geringste merken zu lassen. Ich trage Bedenken, solches der Nachwelt'' (oder ''die Nachwelt'') ''wissen zu lassen. Er ließ ihr'' (oder ''sie'') ''im allgemeinen seinen Plan, seine Wünsche wissen. Nie hatte Giulietta ihm so ihre Liebe merken lassen''. Auch in dem Falle ist der dritte Fall oder die Umschreibung mit ''von'' nötig, wenn der von dem abhängigen Zeitworte regierte Akkusativ des Reflexivums auf das Subjekt des regierenden Verbums geht, da sonst das Aneinanderrücken der beiden Akkusative besonders leicht Unklarheit hervorriefe. Wir sagen deshalb nicht mehr, wie man früher auch hier gesagt hat: ''da sich der fremde Jüngling mich sehen ließ'', sondern: ''da er sich mir oder von mir sehen ließ'', nach Sätzen wie dem Gellertschen: ''Drauf läßt er sich dem Volke sehn'', oder nach dem Beispiele Schillers: ''Laß dich von ihm an diesem Ort nicht finden''. +
Aus der § 209 angedeuteten Kraft des vierten Falles, den erfüllten Raum zu bezeichnen, beruht es auch, daß er zeitlich auf die Frage ''Wie lange?'' antwortet, also auch den ausgefüllten Zeitraum bezeichnet. Dagegen steht der Genetiv teils nur zur Bezeichnung des reinen Zeitpunktes, d. h. wenn es nicht auf die Erfüllung der ganzen angegebenen Zeit durch die Handlung, sondern nur auf ihr Zusammenfallen mit einem Punkte dieses Zeitganzen ankommt, mag schon heute auch dann der Akkusativ sowie ''an'' und ''in'' gar nicht selten sein; andernteils steht er zur Bezeichnung der regelmäßigen Wiederkehr. Wenn ich sage: ''Ich habe ihn einen Tag beobachtet'' oder ''eines Tages'', so ist jenes soviel als: ''einen ganzen Tag über'', dieses bedeutet, daß er gelegentlich an einem Tage eine kurze Zeit beobachtet worden ist. Überhaupt ist denn auch der zweite Fall besonders geeignet, ungefähr anzugeben, innerhalb welcher Zeitgrenzen etwas geschieht: ''eines Tages, Abends, Morgens, heutigen Tages''. Der Begriff einer solchen Zeitangabe wird auch dadurch nicht wesentlich verändert, daß eine bestimmtere Zeitangabe vor- oder nachtritt: ''Sonntag''(''s'') ''morgens, Tags darauf, Tags nach seiner Ankunft'' (Scheffel)//1 Auch ''eingangs, anfangs, anbeginns meiner Rede'' erklärt sich wohl so, freilich ohne empfohlen werden zu können; soll doch hier ein fast zum Abverb gewordener allgemeiner Ausdruck wieder einen Genetiv regieren; lieber also: ''im Eingange'' usw.//. Doch ist es dann natürlich auch möglich, zum Ausdrucke der größeren Bestimmtheit den Artikel zu setzen: ''den Tag darauf, die Nacht vorher''. Dem angegebenen $Seite 206$ Unterschiede gemäß wird man auch nicht sagen: ''Ich finde tags und nachts'', sondern: ''Tag und Nacht keine Ruhe''. Wenn vollends die Andauer durch ein beigefügtes ''ganz, lieb, lang'' oder ein Possessiv zur Bezeichnung der ganzen Lebenszeit ausdrücklich hervorgehoben wird, so steht der vierte Fall ausschließlich: ''den lieben, langen Tag. Das habe ich meine Tage, auch mein Lebtag so gehört'': auch mit der Verneinung ist der vierte Fall häufiger und wirksamer: ''das wollte er sein Tage nie anders gewußt haben''. Selbst an einem schwankenden Ausdrucke wie ''diese''(''r'') ''Tage'' fühlt man den Unterschied noch hindurch, wenn Goethe sagt: ''Diese Tage her'' (andauernd bis jetzt) ''habe ich wieder mehr gearbeitet als genossen'', und: ''Eine Geschichte, welche ihr dieser Tage begegnet ist''. Noch deutlicher ist das Teilungsverhältnis in solchen Wendungen: ''Des Morgens früh, des Abends spät, gleich des Tages''. Auch ''winters, sommers'', bei Goethe auch ''frühjahrs'' ist soviel als: ''manchmal in dieser Zeit''. Zugleich Dauer und Bestimmtheit drückt es dagegen aus, wenn gesagt wird: (''Den'') ''Herbst 1796'' und: ''Ich komme den Winter zu dir'', h. h. entweder im nächsten Winter einmal oder den ganzen Winter über. Besonders wirken für den Genetiv Zahladverbien erhaltend: ''einmal des Jahres'' (doch bereits seit Luther auch oft: ''im Jahre''), ''viermal des Tages''. Freilich herrscht der vierte Fall auch hier von weiblichen Wörtern: ''zweimal die Woche'' (oder: ''in der Woche''), nicht minder in den Wendungen: ''jeden Tag, jeden dritten Tag'', und fast auch schon bei ''alle''(''r''), wenn es zur Bezeichnung regelmäßiger Wiederkehr besonders vor Zahlwörter tritt: ''wir müssen jetzt alle fünf Jahre umlernen'' (Goethe), leicht erklärlich, da hier das Wort ''alle'' an sich schon die Wiederholung bezeichnet; trotzdem verdient der in den mitteldeutschen Mundarten noch lebendigere Genetiv (''aller fünf Finger lang, aller Nasen lang, aller Augenblicke'') auch für die Schriftsprache eher wieder belebt als gemieden zu werden.
Sehr oft wird an einen Genitiv der Mehrzahl, der von dem Zahlwort ''einer, eine, eins'' abhängt, ein Relativsatz angeschlossen, aber meist in folgender falschen Weise: ''ich würde das für einen der härtesten Unfälle halten, der je das Menschengeschlecht betroffen hat — Leipzig ist eine der wenigen Großstädte, in der eine solche Einrichtung noch nicht besteht — das Buch ist eine der schönsten Kriminalgeschichten, die je geschrieben worden ist — das Denkmal ist eins der schönsten, das bis jetzt ans Tageslicht gebracht worden ist — Klopstock ist einer der ersten, der die Nachahmung des Franzosentums verwirft''. In solchen Sätzen ist das ''einer, eine, eins'' völlig tonlos, es ist wie ein bloßer Henkel für den abhängigen Genitiv, und dieser Genitiv ist das Hauptsinnwort. Es ist aber auch ein logischer Fehler, den Relativsatz an ''einer'' anzuschließen; denn der Inhalt des Relativsatzes gilt doch nicht bloß von dem ''einen'', aus der Menge herausgehobnen, sondern von ''allen'', aus denen das eine herausgehoben wird. Es kann also nur heißen: ''einer der härtesten Unfälle, die je das Men-'' $Seite 127$ ''schengeschlecht betroffen haben — eine der wenigen Großstädte, in denen'' (besser ''wo'') ''eine solche Einrichtung noch nicht besteht''. Nur scheinbar vermieden wird der Fehler, wenn jemand schreibt: ''er war ein durch und durch norddeutscher Charakter, der nur die Pflicht kennt''; denn hier bezeichnet ''ein'' die ganze Klasse, und ''der'' geht auf den Einzelnen. Auch hier muß es heißen: ''er war einer jener norddeutschen Charaktere, die nur die Pflicht kennen''.//* Nicht zu Verwechseln hiermit ist natürlich ein Fall wie folgender: ''eine der größten Schwierigkeiten für das Verständnis unsrer Vorzeit, die meist gar nicht gewürdigt wird''. Hier muß es ''wird'' heißen, denn hier bezieht sich der Relativsatz wirklich auf ''eine''; der Sinn ist: ''und zwar eine, die meist gar nicht gewürdigt wird''.// +
In allen diesen Wendungen wirkt es doppelt häßlich, daß sich mit der sachlichen Doppelbezeichnung, die das innere, geistige Ohr verletzt, meist zugleich eine Doppelsetzung desselben Wortstammes vereinigt, die auch das nach Abwechslung verlangende äußere Öhr, den Sinn für schönen Klang der Sprache verletzt. Hier mögen zunächst zwei bloß an dem letzteren Fehler leidende Sätze mit Vorschlägen zur Verbesserung angeführt sein: ''Erstreckt sich die Betrachtung weiter als auf das einzelne Wort, betrachtet sie'' (also: ''betrachtet die Betrachtung''!) ''das Wort auch als Glied des Satzes, so tritt eine vierte Betrachtungsweise ein'' (besser etwa: ''sieht man das Wort nicht bloß in seiner Vereinzelung, sondern auch als Glied des Satzes an, so ...''); und ein Satz von scheinbar unschuldigerer Art, aber nicht minder häßlichem Klange: ''neben einem schon mit einem einen Besitz anzeigenden Genetiv erweiterten Hauptworte'' (statt: ''neben einem Hauptworte, das schon durch einen den Besitz anzeigenden Genetiv erweitert ist'').
Wird ein Wort gar in verschiedenem Sinne wiederholt, so gesellt sich zum Mißklange noch die Beeinträchtigung der Deutlichkeit. Aus diesen beiden Rücksichten wechselt z. B. Mosen am Anfange des bekannten Hoferliedes also ab: ''Zu Mantua in Banden der treue Hofer war, in Mantua zum Tode führt ihn der Feinde Schar.'' Nach solchem Muster hätte denn L. v. Hörmann schreiben sollen: ''Die Gefahr, die bei'' (nicht: ''mit'') ''jedem aufsteigenden Gewitter mit Blitzstrahl und Hagelschlag droht''; und Zeitungen: ''Die Germania sagt über die'' (statt: ''von den'') ''obigen Ausführungen der Presse über die Gesinnungstüchtigkeit der Bischöfe''; und: ''Für den'' (statt: ''von dem'') ''Lyriker wird es von jedem zugestanden''. Jedenfalls tritt auch, wenn Orts- und Land- oder Landschaftsnamen zugleich genannt werden, vor ''jenen'' immer ''zu'', vor ''diesen in'': ''zu Limburg in Holland, zu Michelstadt im Odenwalde''. Wenn dagegen nur der Ortsname angegeben ist, gehört das ehedem vorherrschende ''zu'' mehr der gehobenen Sprache an, wie es denn die Dichter noch heute lieben: ''Zu Straßburg auf der Schanz; Auf der Burg zu Germersheim'' (J. Kerner).
Vor allem vermeide man, in einem Satzgefüge zur Einleitung mehrerer Nebensätze verschiedner Stufen das nämliche Bindewort zu verwenden, wenngleich man sich früher, wo freilich auch die Zahl der Bindewörter und Ausdrucksweifen geringer war, hierin nicht gleich peinlich gezeigt hat. Wie man heute dem gewählteren Wechsel gerecht wird, sei an einigen Sätzen angedeutet: ''Wenn er nun gar die Tür aufstieß oder zuschlug'' und, ''wenn'' $Seite 432$ (besser: ''falls'' oder ''sooft'') ''ihm etwas befohlen ward, entweder nicht von der Stelle wich oder ungestüm davon rannte, so mußte er eine große Lektion anhören'' (Goethe). ''Sie wurden dann erfroren aufgefunden, wie'' (besser: ''indem'') ''sie noch saßen, wie sie sich niedergesetzt hatten'' (Stifter).
Etwas ganz anderes ist es und wirkt auch in lebendiger, gehobner Rede ebenso verdeutlichend als eindringlich, wenn eine Reihe ähnlich gebauter Nebensätze gleicher Stufe mit demselben Bindewort eingeleitet wird. Selbst der ruhig betrachtende Goethe verwendet das Mittel, viel öfter der rhetorische Schiller; hier nur ein Beispiel von jenem: ''Welche köstliche Empfindung müßte es sein, wenn man gute, edle, der Menschheit würdige Gefühle ebenso schnell durch einen elektrischen Schlag ausbreiten, ein solches Entzücken unter dem Volke verbreiten könnte, als diese Leute durch ihre körperliche Geschicklichkeit getan haben; wenn man der Menge das Mitgefühl alles Menschlichen geben, wenn man sie mit der Vorstellung des Glückes und Unglückes, der Weisheit und Torheit, ja des Unsinns und der Albernheit entzünden, erschüttern und ihr stokkendes Innere in freie, lebhafte und reine Bewegung setzen könnte!''
Gar wohl zulässig ist es auch, einen einzelnen Begriff eines Satzes durch einen folgenden Satz einzuschränken oder zu begründen. Zur Einschränkung dient am einfachsten ein Relativum mit ''aber'' oder ''jedoch'', wobei die Form des Fürwortes dann die Beziehung klarstellt. Eine hauptsächlich griechische Eigenheit, die aber auch in anderen Sprachen wahrgenommen wird, liest man z. B. bei J. Grimm; ''Es beweinten ihn einige weiche mutlose Seelen, doch die mit dem ganzen Herzen im Eitlen gingen'', in Klopstocks Messias und ähnlich bei der Ebner-Eschenbach: ''Diese Frau führt ein Traumleben, in dem es jedoch an wachen Momenten nicht fehlt''. +
Der arge Mißbrauch, der mit dem Pronomen ''derselbe'' getrieben wird (daß man es fortwährend für ''er'' oder ''dieser'' gebraucht; vgl. S. 222), hat dazu geführt, daß man nun ''einundderselbe'' sagen zu müssen glaubt, wo man ''derselbe'' in seiner wirklichen Bedeutung meint. Diese überflüssige Zusammensetzung wird vollends schleppend, wenn man sie pedantisch dekliniert: ''eines'' und ''desselben'', ''einem'' und ''demselben''. Wer sie nicht entbehren zu können glaubt, der schreibe wenigstens: ''an einunddemselben Tage, im Laufe einunddesselben Jahres, in einundderselben Hand''. Dieselbe Freiheit nimmt man sich ja auch bei ''Grund'' und ''Boden'': ''die Entwertung des Grund und Bodens'', als ob beides nur ein Wort wäre, nicht ''des Grundes'' und ''Bodens''; ebenso: ''ein Hut mit blau und weißem Band'', wenn nicht zwei verschiedenfarbige Bänder gemeint sind, sondern ein zweifarbiges. +
Denkträgheit verschuldet häufig die Verwechslung vom gleichen Stamm gebildeter Eigenschaftswörter. Ein ''empfindsamer Mensch'' ist etwa ein gefühlvoller, ein ''empfindlicher'' ein leicht gekränkter, übelnehmischer und eine ''empfindliche Niederlage'' eine schwerempfundene; eine ''bedeutsame Erklärung'' ist eine gewichtige, vielsagende, ein ''bedeutender Mann'' ein hervor- $Seite 445$ ragender, eine ''bedeutende Summe'' eine hohe, und oft ist die Bedeutung von ''bedeutend'' nur noch ''so viel, wie viel, sehr'': ''Die Lage hat sich bedeutend gebessert.'' Das alte Mittelwort ''gesonnen'' geht auf Willen und Absicht: ''gesonnen sein etwas zu tun'', die jüngere Bildung auf Denk- und Gemütsart: ''treu-, wohl-, übelgesinnt''. Geradezu eine modische Wichtigtuerei ist es, zweite Mittelwörter, namentlich mit Verneinungen, anstatt der Adjektive aus ''-lich'' und ''-bar'' oder auch des Gerundivs zu setzen. ''Ungezählte Sandkörner, Steine'' u. ä. sagt man und opfert dabei die bestimmte Anerkennung, daß sie zu zählen unmöglich wäre, die im richtigen Adjektiv läge; freilich kann man sich nach der Weise unsrer Zeit dafür brüsten, auch das, was noch nie geschehen ist, schon noch einmal auszuführen. Auf derselben Stufe stehen Ausdrücke wie: ''sein nie ausgesungenes, nie genug gesungenes'' statt ''nie auszusingendes Lob, ein nie genannter'' statt ''unnennbarer, unsäglicher Schmerz''; ''der nicht erschöpfte'' statt ''unerschöpfliche Reichtum der Natur''; ''das wird ein nie gelöstes Rätsel sein, unentchleiertes Geheimnis bleiben.'' +
Um den Leser nicht ganz im Dunkel zu lassen, was ich im Einklang mit der Geschichte der deutschen Prosa für guten Stil halte, lasse ich als Abschluß einige erlesene Muster edelster Sprache und besten Stiles folgen, die, mit Ausnahme des letzten, meinem Sammelwerk Deutsche Meisterprosa (G. Westermann in Braunschweig) entnommen sind. Nach so viel wohlgemeinten Lehren für gutes Deutsch sollen krönend einige der Meister selbst zum Worte kommen, die uns durch die Tat des Schreibens das allerbeste Deutsch dargeboten haben. +
Er anerkennt oder er erkennt an? Zu übersiedeln oder überzusiedeln; übersiedelt oder übergesiedelt? +
Besonders gern lassen jetzt Journalisten und Germanisten auf der ersten Silbe betonte, also trennbar zusammengesetzte Zeitwörter auch in den Formen, in denen sonst die Trennung erfolgt //2 Es sind dies die Befehlsform (''schlage vor''!) und beide Redeweisen des Präsens und Imperfektums (''er schlägt — vor, schlage — vor, schlug — vor, schlüge — vor'') in allen Sätzen mit der Stellung des Hauptsatzes: Beliebiger Satzteil + konjugierter Teil des Verbums .... zum Schluß: anderer Teil des Verbums, also hier der Partikel. Näheres bei der Wortstellung.//, ungetrennt, womit sich dann oft Weglassung des ''ge''- im zweiten Mittelworte und Vorrückung von ''zu'' vor das ganze Wort verbindet. Am häufigsten ist die Verbindung: ''er anerkennt'' und diesem nach auch nicht selten ''er zuerkennt'' und ''aberkennt'', sodann mir obliegt die Pflicht. Droysen sagt: ''Wie auf zwei Grundpfeilern auferbaut sich zum ersten Male eine wahrhaft europäische Politik'', was dem bekannten ''er aufersteht'' gleichkommt. Die deutschen Abgeordneten Böhmens haben erklärt: ''Wir unterordnen selbst begründete Bedenken der Achtung vor ....''; und Chiavacci, der Kleinmaler des Wiener Lebens, und ebenso sein jüngerer Freund L. Thoma schreiben: ''sie bewegen ihn zu übersiedeln'' und ''sie war übersiedelt''. In österreichischen Zeitungen war zu lesen: ''Die Blätter widerhallen'' (!) ''von Drohungen, unsere Kirchen überströmen von Mitgliedern, da überflossen die Ungarn von Versicherungen, die Kassen überströmen von Einnahmen''. Bei Scheffel steht: ''Die Höhle widerhallte vom dumpfen Klange'', bei Scherer: ''Es widerstrahlte die ganze Welt ... auf dem Spiegel einer rasch ordnenden Phantasie'', und neuerdings: ''Nur dort darf er erwarten, über die Machtmittel der herrschenden Klassen zu obsiegen'', (Kautski) und: ''Bewußter Zweckmensch aufersteht er vom Sterbelager des Erblassers'' (Glocke 1919). ''Mir oblag das Gefechtsfeld abzusuchen'' (Hindenburg 1920). Überhaupt schreiten anerkannte Meister des Stiles und nicht bloß der jüngsten Zeit auf diesem Wege mit: $Seite 99$ Schon bei G. Keller steht: ''Da anvertraute ich es meinem Herrn; sie einverleibten sie, er anerbot den Dienst; er durchging die einzelnen Lieder''; bei C. F. Meyer: ''Die ganze Zärtlichkeit Viktoriens überquoll''; und bei dem jüngeren Schweizer Heer: ''Ich durchging wieder die Geschichte''; T. Kröger: ''Die blanken Scheiden widerglänzten in seinen Strahlen''; Ermatinger: ''Man braucht bloß die Dramen Hauptmanns zu durchgehen''; H. Johst: ''Wir darstellen ohne wahrhaftige Erde''; auch umgekehrt: Rud. Huch: ''das er vielleicht nicht einmal übergelesen hat'', und W. Flex: ''Die Gesichter waren vor Mißtrauen durchgepflügt''. Man kann denn alle diese Ausdrücke, in denen sich die Anwendung des sich bei ''miß-'' vor unsern Augen festsetzenden Brauches auf andere Wörter erkennen läßt, nicht als durchaus dem Geiste und der Entwicklung unserer Sprache zuwiderlaufend bezeichnen. Vielmehr darf man dieser //1 Eine andere Art derselben, aber immerhin eine, welche die oben besprochene auch begünstigen muß, ist es, wenn G. Freytag schreibt: ''Abtue auch ich die Gastpflicht'', oder besonders häufig Graf Schack, z. B. ''Aufraffte zuletzt sich dieser. Anhebe sie''. Das Auffällige beruht hier nur auf unserer Gewohnheit, derartige Wörter im Infinitiv zusammenzuschreiben, während gerade in diesem Falle die „Losheit der Partikel" gefühlt wird (Grimm, Gramm. II, 783) und sie besonderer Betonung halber gleich einem Adverb an die Spitze des Satzes tritt. R. Hildebrand (22.8. 69) nannte Grimms Vorliebe für solche Stellung eines Latinismus, der auf dessen Abneigung gegen es an der Spitze des Satzes beruhte.// Zusammenrückung vielleicht sogar den Vorzug geben, wenn dadurch, im Munde des Redners zumal, der Satz an Bestimmtheit, Klarheit und Schönheit gewinnt. Wenigstens gilt es mit Recht für besser zu sagen: ''Ich anerkenne die Verdienste dieses Mannes um ...'' usw. als: ''Ich erkenne die Verdienste dieses Mannes um die Freiheit und Größe sowie um den wachsenden Wohlstand unseres Vaterlandes an''; denn bei der zweiten Satzform bleibt der Gedanke vor dem Schlußwörtchen unbestimmt, und dieses schleppt besonders häßlich nach. Indes dies beides könnte man auch durch die deutschere Stellung erreichen: ''Ich erkenne an die Verdienste'' usw. wie auch H. Grimm z. B. stellt: ''Ein Umschwung trat ein in Straßburg, wo die Begeisterung für die nationale Idee sich Luft machte''. Es hieße den deutschen Satzbau um ein Stück seiner Eigenart und um ein gut Teil Abrundung und Beweglichkeit bringen, wollte man die Zusammenrückung, wie man den Anlauf //2 Hauptsächlich in Österreich, Süddeutschland und der Schweiz, wo selbst über die Sprache Nachdenkende die Neuheit ziemlich allgemein gelten lassen wollen; vgl. Zeitschr. d. Allgem. Deutschen Sprachvereins 1889 (S. 83 ff.). Nach Süddeutschland gehört Schiller, der z. B. schrieb: ''Er durchlas den Brief noch einmal'', und: ''den Mahomet zu durchgehen''; Moscherosch, bei dem z. B. steht ''dieselbigen Gedichte nochmalen zu durchgehen'', und schon aus dem J. 1400 z. B. in einer Urkunde in Frankfurts D. Reichskorresp., herausgeg. v. Jansen, I, Nr. 217: ''so anrufen wir'', zugleich ein Beweis, daß es sich nicht um eine bloße Neurung handelt! // nimmt, ganz durchführen. Tadelnswert bleibt sie jedenfalls bei solchen Verben, bei denen damit ein Mittel aufgegeben wird, ihre vermiedenen Bedeutungen, wie durch die Betonung, auch die Form möglichst auseinanderzuhalten. Vor allem müssen so die Verben der Bewegung in Zusammensetzung mit Verhältniswörtern in ihrer ursprünglichen Bedeutung durchaus trennbar bleiben, während sie untrennbar nur in übertragener, meist transitiver sind, wo sie dann auch auf dem Grundworte betont werden: ''der Geist, das Gerücht geht um: er umgeht das Gesetz. Er ist übergegangen'' (''zu den Feinden''), $Seite 100$ aber ''er ist übergangen worden''. Man hat danach alle die folgenden Sätze zu verurteilen: ''Wir übergehen zu der Beobachtung; ich wollte das Kaspische Meer übersetzen'' (statt: ''über das Kaspische Meer setzen; ins Französische wird übersetzt'') oder: ''Sie befehden sich eines überlaufenen Rindes wegen''. Diese Sätze stehen um nichts höher als Formen, wie sie in Berichten aus Stadt und Land, von oft nicht besonders Schriftkundigen und daher nicht maßgebend — verbrochen werden: ''Gestern ist an der Ecke der Breite- und Schmiedegasse ein Kind übergefahren'' (statt ''überfahren'') ''worden''. ''Bei dem Angriffe, den zuletzt die Gardereiter machten, ist ein Dorfknabe übergeritten'' (statt: ''überritten'') ''worden'', obwohl schon Goethe schrieb: ''daß ich übergeritten wurde''. Auch für ''überführen'' sollte man sich nicht immer häufiger die gleiche Fügung für beide Bedeutungen gestatten: ''Der Angeklagte konnte des Diebstahles nicht überführt'' (''überwiesen'') ''werden'', und: ''Man überführte den Grafen auf Grund ärztlichen Gutachtens in die Charité'', dürfte dann freilich nicht auch im zweiten Falle ''überführen'' betonen. Sorgfältiger ist: ''Man führte den Grafen — über, hat den Grafen ... übergeführt.''
Von den Zeitwörtern, die ''zu'' vor der abhängigen Nennform fordern, wird dieses wohl nur dem einen, ''brauchen'', gelegentlich auch in der Schriftsprache vorenthalten; so von einem Leipziger Professor: ''was allerdings den Christen nicht gesagt werden braucht'', und von der Ebner-Eschenbach: ''meinetwegen braucht ein ... hoffnungsvolles Leben nicht hingeworfen werden''. Die Erscheinung mag auf einer — unberechtigten — Angleichung an die anderen sämtlich mit $Seite 265$ der bloßen Nennform verbundenen modalen Hilfszeitwörter ''dürfen, können, mögen, müssen, sollen, wollen, lassen''//1 Für die volkstümliche Ausdrucksweise kommt auch noch ''tun'' hinzu: und wenn das auch in der Weise, wie es Kinder und im Reden Unbeholfene zur bloßen Umschreibung der einfachen Verbalformen verwenden, nicht in die Schriftsprache gehört, so braucht es ihr doch andrerseits nicht ganz vorenthalten zu werden, wenn eine Handlung (als psychologisches Subjekt: Paul S. 238) an sich bekannt ist und es nur ihre Betonung, einen Bescheid über ihre wirkliche Ausführung ober Ablehnung gilt oder wenn sonst der Modus nicht deutlich genug hervortreten würde. So schreibt E. Förster: ''Tun tue ich jetzt sehr wenig, nur denken und empfinden'', oder die Königin Luise: ''Kommt das Gute — kein Mensch kann es dankbarer empfinden; aber erwarten tue ich es nicht mehr''. Bei Goethe steht: ''Sie täten gern große Meister verehren, wenn diese nur auch zugleich Lumpe wären'', jedenfalls kräftiger in die Gegenwart rückend als die Form: ''sie würden gern'' usw., und in der Tgl. R.: ''Der Schwächere ... rächt sich gelegentlich; aber verraten tun sie einander nicht''; und etwas anders in Grimms Märchen: ''Kutscher will ich wohl sein und auf dem Bocke sitzen, aber selbst ziehen, das tue ich nicht''. Graf Reventlow (1917) schreibt: ''Mausern tut sich anderseits niemand''. In den vier letzten Fällen ist jedenfalls das Mittel nicht anwendbar, durch das man sonst die immerhin schwerfällige Ausdrucksweise wohl vermeiden kann: passivische Fügung mit vorangerücktem Mittelworte: ''Da sieht man plötzlich ein phantastisches Fahrzeug auftauchen; das ganze ist nicht viel größer als eine Nußschale und trägt ein buntes mit absonderlichen Hieroglyphen bemaltes Segel. Gelenkt wird das Fahrzeug von einem jungen schwarzäugigen Manne''.// beruhen.
Statt des zweiten Mittelwortes mit ''ge-'' steht bei manchen Zeitwörtern, aber im allgemeinen nur, wenn ein Infinitiv von ihnen abhängt, als Ersatz der Infinitiv //1 Wahrscheinlich ist die Ausdrucksweise von solchen Fällen ausgegangen, wo das alte 2. Mittelwort ohne ''ge-'' der Nennform gleich war, wie bei ''heißen, lassen, sehen''. Sogar: ''Ich han des hören jehen'' ( = ''sagen'') steht danach schon in der „Gudrun", und ''(er) haete im heizen machen ein wunneclichez huselin'' im „Tristan". — Auch ''werden'' hat ja ähnlich in der festen Verbindung mit andern Mittelwörtern und Nennformen in der Leideform das bloße ''worden'' behalten.//: ''Warum hast du gestern nicht mitgehen mögen? Ich habe eben nicht gemocht!'' Ja fast von allen mit einem Infinitive verbundenen Zeitwörtern, die mit ''haben'' zusammengesetzt werden, bildet man heute nach einem Infinitive die zusammengesetzten Zeiten aus ''haben'' + Infinitiv: ''Der verdammte Hof hat dich beides versäumen machen'' (Goethe). Auch neben ''lernen'' ist dieser Infinitiv sehr häufig, wenigstens in der Verbindung: ''ich habe ihn kennen lernen''; doch steht schon bei Schiller auch: ''Ich habe mich an viel gewöhnen lernen; seitdem hab ich vom Reich ganz anders denken lernen''. Besonders bei der Stellung des abhängigen Infinitivs zwischen einer vorhergehenden Form von ''haben'' und einem folgenden solchen Verbum ist dieses Infinitiv-Partizip herrschend, so daß es fast nur heißt: ''Ich habe ihm die Splitter auflesen helfen'', aber: ''ich habe ihm helfen oder geholfen, die Splitter auflesen''. Unnötig und ohne Erfolg verpönt wird die gleiche Form bei ''brauchen'', bei dem ja auch schon sehr häufig eine Nennform ohne ''zu'' steht. Tatsächlich überwiegen aber Beispiele der Art: ''Auf diese Gefahr hin hatte S. St. kein Verbrechen zu befördern brauchen. Ferry hat nicht länger zu bitten brauchen, um des Amtes enthoben zu werden''. Doch beliebt z. B. Jak. Wassermann (Christian Wahnschaffe 1918) immer die Form: ''er habe nichts erwidern gekonnt''; auch R. H. Bartsch liebt die Ausdrucksweise: ''Sie hatte Besuche machen gewollt; der Weg, den sie Kantilener einschlagen gesehen hatte''; und immer heißt es (passivisch) wie bei J. Johst: ''Selten wurde ein Prophet in seiner Vaterstadt gelten gelassen''. Anderseits erscheint das Infinitiv-Partizip auch ohne ab- $Seite 101$ hängigen Infinitiv: ''Dann hatte er ihr an den Leib wollen'' (H. Frdr. Blunk 27), und: ''Molter hatte gleich ehrlich zu Henny hinüber wollen'' (DAZ. 27).