Er anerkennt oder er erkennt an? Zu übersiedeln oder überzusiedeln; übersiedelt oder übergesiedelt?
Buch | Matthias (1929): Sprachleben und Sprachschäden. Ein Führer durch die Schwankungen und Schwierigkeiten des deutschen Sprachgebrauchs. |
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Seitenzahlen | 98 - 100 |
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Unsicherheit |
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In diesem Kapitel behandelte Zweifelsfälle
Text |
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Besonders gern lassen jetzt Journalisten und Germanisten auf der ersten Silbe betonte, also trennbar zusammengesetzte Zeitwörter auch in den Formen, in denen sonst die Trennung erfolgt //2 Es sind dies die Befehlsform (schlage vor!) und beide Redeweisen des Präsens und Imperfektums (er schlägt — vor, schlage — vor, schlug — vor, schlüge — vor) in allen Sätzen mit der Stellung des Hauptsatzes: Beliebiger Satzteil + konjugierter Teil des Verbums .... zum Schluß: anderer Teil des Verbums, also hier der Partikel. Näheres bei der Wortstellung.//, ungetrennt, womit sich dann oft Weglassung des ge- im zweiten Mittelworte und Vorrückung von zu vor das ganze Wort verbindet. Am häufigsten ist die Verbindung: er anerkennt und diesem nach auch nicht selten er zuerkennt und aberkennt, sodann mir obliegt die Pflicht. Droysen sagt: Wie auf zwei Grundpfeilern auferbaut sich zum ersten Male eine wahrhaft europäische Politik, was dem bekannten er aufersteht gleichkommt. Die deutschen Abgeordneten Böhmens haben erklärt: Wir unterordnen selbst begründete Bedenken der Achtung vor ....; und Chiavacci, der Kleinmaler des Wiener Lebens, und ebenso sein jüngerer Freund L. Thoma schreiben: sie bewegen ihn zu übersiedeln und sie war übersiedelt. In österreichischen Zeitungen war zu lesen: Die Blätter widerhallen (!) von Drohungen, unsere Kirchen überströmen von Mitgliedern, da überflossen die Ungarn von Versicherungen, die Kassen überströmen von Einnahmen. Bei Scheffel steht: Die Höhle widerhallte vom dumpfen Klange, bei Scherer: Es widerstrahlte die ganze Welt ... auf dem Spiegel einer rasch ordnenden Phantasie, und neuerdings: Nur dort darf er erwarten, über die Machtmittel der herrschenden Klassen zu obsiegen, (Kautski) und: Bewußter Zweckmensch aufersteht er vom Sterbelager des Erblassers (Glocke 1919). Mir oblag das Gefechtsfeld abzusuchen (Hindenburg 1920). Überhaupt schreiten anerkannte Meister des Stiles und nicht bloß der jüngsten Zeit auf diesem Wege mit: $Seite 99$ Schon bei G. Keller steht: Da anvertraute ich es meinem Herrn; sie einverleibten sie, er anerbot den Dienst; er durchging die einzelnen Lieder; bei C. F. Meyer: Die ganze Zärtlichkeit Viktoriens überquoll; und bei dem jüngeren Schweizer Heer: Ich durchging wieder die Geschichte; T. Kröger: Die blanken Scheiden widerglänzten in seinen Strahlen; Ermatinger: Man braucht bloß die Dramen Hauptmanns zu durchgehen; H. Johst: Wir darstellen ohne wahrhaftige Erde; auch umgekehrt: Rud. Huch: das er vielleicht nicht einmal übergelesen hat, und W. Flex: Die Gesichter waren vor Mißtrauen durchgepflügt. Man kann denn alle diese Ausdrücke, in denen sich die Anwendung des sich bei miß- vor unsern Augen festsetzenden Brauches auf andere Wörter erkennen läßt, nicht als durchaus dem Geiste und der Entwicklung unserer Sprache zuwiderlaufend bezeichnen. Vielmehr darf man dieser //1 Eine andere Art derselben, aber immerhin eine, welche die oben besprochene auch begünstigen muß, ist es, wenn G. Freytag schreibt: Abtue auch ich die Gastpflicht, oder besonders häufig Graf Schack, z. B. Aufraffte zuletzt sich dieser. Anhebe sie. Das Auffällige beruht hier nur auf unserer Gewohnheit, derartige Wörter im Infinitiv zusammenzuschreiben, während gerade in diesem Falle die „Losheit der Partikel" gefühlt wird (Grimm, Gramm. II, 783) und sie besonderer Betonung halber gleich einem Adverb an die Spitze des Satzes tritt. R. Hildebrand (22.8. 69) nannte Grimms Vorliebe für solche Stellung eines Latinismus, der auf dessen Abneigung gegen es an der Spitze des Satzes beruhte.// Zusammenrückung vielleicht sogar den Vorzug geben, wenn dadurch, im Munde des Redners zumal, der Satz an Bestimmtheit, Klarheit und Schönheit gewinnt. Wenigstens gilt es mit Recht für besser zu sagen: Ich anerkenne die Verdienste dieses Mannes um ... usw. als: Ich erkenne die Verdienste dieses Mannes um die Freiheit und Größe sowie um den wachsenden Wohlstand unseres Vaterlandes an; denn bei der zweiten Satzform bleibt der Gedanke vor dem Schlußwörtchen unbestimmt, und dieses schleppt besonders häßlich nach. Indes dies beides könnte man auch durch die deutschere Stellung erreichen: Ich erkenne an die Verdienste usw. wie auch H. Grimm z. B. stellt: Ein Umschwung trat ein in Straßburg, wo die Begeisterung für die nationale Idee sich Luft machte. Es hieße den deutschen Satzbau um ein Stück seiner Eigenart und um ein gut Teil Abrundung und Beweglichkeit bringen, wollte man die Zusammenrückung, wie man den Anlauf //2 Hauptsächlich in Österreich, Süddeutschland und der Schweiz, wo selbst über die Sprache Nachdenkende die Neuheit ziemlich allgemein gelten lassen wollen; vgl. Zeitschr. d. Allgem. Deutschen Sprachvereins 1889 (S. 83 ff.). Nach Süddeutschland gehört Schiller, der z. B. schrieb: Er durchlas den Brief noch einmal, und: den Mahomet zu durchgehen; Moscherosch, bei dem z. B. steht dieselbigen Gedichte nochmalen zu durchgehen, und schon aus dem J. 1400 z. B. in einer Urkunde in Frankfurts D. Reichskorresp., herausgeg. v. Jansen, I, Nr. 217: so anrufen wir, zugleich ein Beweis, daß es sich nicht um eine bloße Neurung handelt! // nimmt, ganz durchführen. Tadelnswert bleibt sie jedenfalls bei solchen Verben, bei denen damit ein Mittel aufgegeben wird, ihre vermiedenen Bedeutungen, wie durch die Betonung, auch die Form möglichst auseinanderzuhalten. Vor allem müssen so die Verben der Bewegung in Zusammensetzung mit Verhältniswörtern in ihrer ursprünglichen Bedeutung durchaus trennbar bleiben, während sie untrennbar nur in übertragener, meist transitiver sind, wo sie dann auch auf dem Grundworte betont werden: der Geist, das Gerücht geht um: er umgeht das Gesetz. Er ist übergegangen (zu den Feinden), $Seite 100$ aber er ist übergangen worden. Man hat danach alle die folgenden Sätze zu verurteilen: Wir übergehen zu der Beobachtung; ich wollte das Kaspische Meer übersetzen (statt: über das Kaspische Meer setzen; ins Französische wird übersetzt) oder: Sie befehden sich eines überlaufenen Rindes wegen. Diese Sätze stehen um nichts höher als Formen, wie sie in Berichten aus Stadt und Land, von oft nicht besonders Schriftkundigen und daher nicht maßgebend — verbrochen werden: Gestern ist an der Ecke der Breite- und Schmiedegasse ein Kind übergefahren (statt überfahren) worden. Bei dem Angriffe, den zuletzt die Gardereiter machten, ist ein Dorfknabe übergeritten (statt: überritten) worden, obwohl schon Goethe schrieb: daß ich übergeritten wurde. Auch für überführen sollte man sich nicht immer häufiger die gleiche Fügung für beide Bedeutungen gestatten: Der Angeklagte konnte des Diebstahles nicht überführt (überwiesen) werden, und: Man überführte den Grafen auf Grund ärztlichen Gutachtens in die Charité, dürfte dann freilich nicht auch im zweiten Falle überführen betonen. Sorgfältiger ist: Man führte den Grafen — über, hat den Grafen ... übergeführt. |
Zweifelsfall | |
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Beispiel |
anerkennt, zuerkennt, aberkennt, auferbaut, aufersteht, unterordnen, übersiedeln, übersiedelt, widerhallen, überströmen, überflossen, widerhallte, widerstrahlte, obsiegen, abzusuchen, anvertraute, einverleibten, anerbot, durchging, widerglänzten, durchgehen, darstellen, übergelesen, durchgepflügt, erkenne an, anerkenne, trat ein, geht um, umgeht, übergegangen, schlägt vor, schlug vor, schlage vor, schlüge vor, abtue, aufraffte sich, anhebe, durchlas, anrufen, übergangen, übergehen, übersetzen, über setzen, übersetzt, überlaufenen, übergefahren, überfahren, übergeritten, überführt, überführte, führte über, übergeführt, wird |
Bezugsinstanz | Chiavacci - Vinzenz, Sprache der Politik, Droysen - Johann Gustav, Ermatinger - Emil, Flex - Walter, Frankfurt, Freytag - Gustav, Fachsprache (Germanistik), Glocke - Theodor, Goethe - Johann Wolfgang, Schack - Adolf Friedrich von, Grimm - Jacob, Grimm - Wilhelm, Grimm - Hans, Heer - Jakob Christoph, Hindenburg - Paul von, Johst - Hanns, Zeitungssprache, Kautsky - Karl, Keller - Gottfried, Mann - Thomas, Schreiber guten Stils, Meyer - Conrad Ferdinand, neu, Ungebildete, Sprachverlauf, Österreich, Österreich, Scheffel - Joseph Victor von, Scherer - Wilhelm, Schiller - Friedrich, Schweiz, süddeutsch, Thoma - Ludwig, Sprachgelehrsamkeit, Behördensprache, Zeitungssprache, Moscherosch - Johann Michael (Philander) |
Bewertung |
besonders häßlich, besser, deutschere Stellung, Frequenz/am häufigsten, Frequenz/nicht selten, nicht, nicht maßgebend, sorgfältiger, statt, tadelnswert, verbrochen, Vorzug geben, zu verurteilen, zuwiderlaufend |
Intertextueller Bezug |