Attribut: KapitelText
Aus Zweidat
Dies ist ein Attribut des Datentyps Text.
M
Neben den § 184 genannten Arten von Hauptwörtern ist für alle Stoffbezeichnungen sowie artikel- und attributlosen Mehrzahlen in der Umgangs- und Geschäftssprache und auf dem Gebiete der Schriftsprache, das jene widerspiegelt, durchaus diejenige Form des Hauptwortes üblich, die es im Nom.-Akkusativ der Einzahl oder Mehrzahl hat: ''ein Laib Brot, der Preis des Pfundes Fleisch, mit dem bißchen Kraft und Talent, einen großen Haufen Schutt, mit 2 Glas Bier, das kostet eine Menge Geld''. Diese Flexionslosigkeit ist für die Einzahl in solchen Fällen so sehr die Regel, daß ein Satz wie: ''Kein Tropfen des Regens fiel'', sogar als geziert und undeutsch empfunden wird. Dagegen behalten die Mehrzahlen der starken Beugung auch neben einem im Dativ stehenden substantivischen Mengebegriffe ihre (Genetiv-)Form auf -''e'' oder -''er'' unverändert, wenigstens in der gewählteren Sprache. In dieser schrieb z. B. Grimm: ''von 2 Dutzend Äpfel blieb keiner übrig'', Wieland: ''unter einem Haufen Zuschauer'', und: ''mit einem ganzen Rudel Kalender''; L. Corinth: ''das köstliche Salvator in ungezählter Anzahl Krüge hinter die Binde zu gießen''; die Tägl. R.: ''Frankreich wird von einem Haufen Schreihälse beherrscht''. Ebendort war in einer Berechnung der Fernsprechgebühren von ''einer Verpflichtung zu einer Mindestzahl Gespräche'' die Rede; und nie wird es anders heißen als ''mit 2 Regimentern Grenadiere, mit einem Zuge Reiter''. Gleichwohl ist diese richtigere Ausdrucksweise seltner als die andre, daß man neben einem Dative des Maß- und Zahlwortes auch einen starken Plural in den Dativ setzt, wie denn in derselben Ztg. auch stand: ''mit einer Handvoll Schreiern'', bei Devrient: ''mit einem halb'' (!) ''Schock Lichtern''; bei Junker: ''von einem Paar Wurfmessern''; bei Bernhardine Schulze-Schmidt: ''eine Weise von einem Dutzend Tönen'' (1920). +
Die jetzt häufige Unsitte, vor einen durch ein Attribut bestimmten Begriffsnamen den dazu gar nicht passenden unbestimmten Artikel zu setzen, ist eine üble Anleihe beim Französischen, das freilich dazu oft gezwungen ist aus der Notlage, sich meist zwischen Teilungs-, bestimmtem und unbestimmtem Artikel entscheiden zu müssen. Nach vereinzelten Fällen bei den Klassikern häufen sich solche Gallizismen beim jungen und jüngsten Deutschland: ''eine blutige Rache nehmen, einen tätigen Beistand leisten, von einer blinden Wut getrieben, mit einer eisernen Treue festhalten, mit einer vor Erregung zitternden Stimme, mit einer ängstlichen Gewißheit, mit einer ruhigen stolzen Miene''. Hierin war eben Goethes Ausdrucksweise: ''ich hatte sehr tief geschlafen als ein'' (statt ''mein'') ''erhitztes und in Aufruhr gebrachtes Blut mich aufweckte'', so wenig mustergültig wie die Heyses: ''nur schwach erhellt von einem schon sich zum Untergange neigenden Monde''; nur daß in den zwei letzten Fällen gar der unbestimmte Artikel, der zählt, vor Gegenstände und Stoffe gesetzt ist, von denen es nur den einen bestimmten gibt//1 Natürlich trifft dies alles nicht das betonte, determinative ''ein'', das soviel als ''solch'' ist (vgl. § 99 2), auch nicht, wenn es vor einem Attribute allgemeinen Sinnes steht: ''Ihn zierte ein edler Anstand, wie er das Vorrecht weniger zugleich durch'' $Fußnote auf nächster Seite fortgeführt$ ''Geburt und Gesinnung geadelter Menschen ist''. — Hierin ist vor allen anderen Scheffel wirklich musterhaft.//. +
Eine Ausbreitung der schwachen Formen weit über die für sie nachgewiesenen Grenzen hinaus bedeutet es, wenn Sprachlehrer von mehreren ohne eins der § 77, 81 und 82 a. E. genannten Bestimmungswörter vor einem Substantiv (S) stehenden Adjektiven (a1, a2, a3), falls das erste dem zweiten oder auch zweiten und dritten u.s.f.) und dem Substantiv zusammen als einer Einheit für sich allein gegenübersteht, etwa in der Formel a1+(a2+ a3 + ... S), nur für das erste die starke, für das oder die folgenden die $Seite66$ schwache Deklination fordern //1 Zu ihnen gehört selbst Paul, der Prinzipien 117 in solchem Gebrauche der starken und schwachen Form ein Mittel anerkennt, die Verhältnisse der Beiordnung und Einschließung zu unterscheiden, freilich selbst hinzufügt, daß sich die Schwierigkeit einer korrekten Aufrechterhaltung dieser Unterscheidung in vielen Verstößen der Schriftsteller zeige. Daß man, wie Andresen ausführt, das (nach ihm!) falsche ''neuer holländischer Heringe'' öfter liest, hätte ihn doch allein belehren können, wie wenig sich das Volk auf solche Grübeleien einläßt; es begnügt sich mit dem bekannten Mittel, das enger Zusammengehörige enger zusammen zu rücken (''holländische[r] Heringe'') und erst davor das neue Attribut ''neue(r)'' zu setzen. Gar lächerlich ist auch die Unterscheidung zwischen ''gutem weißen Weine'', bei welcher Form dem Schreiber die Farbe selbstverständlich sei, und ''gutem weißem Weine'', wodurch dieser vom roten unterschieden werde. Die Hauptsache ist, daß die Regel immer nur für den 2. Fall der Mehr- und 3. Fall der männlichen und sächlichen Einzahl erläutert und geltend gemacht wird; das sind aber gerade die zwei Fälle, deren vor den anderen noch auffällige, charakteristische Endungen unter der immer stärker werdenden Abneigung gegen die Kasusendungen, besonders die auf ''-m'', wie unter der nicht genügenden Klarheit über sie am meisten zu leiden haben, so daß es offenbar lediglich eine durch falsche Pflege und durch Bequemlichkeit verschuldete Mißbildung ist, was durch die ausgeklügelte Regel vergeistigend zu einem feinen, neuen Unterscheidungsmittel emporgeschraubt werden soll. Daß Bequemlichkeit und Abneigung gegen gewisse der Zunge nicht sonderlich bequem liegende Endungen wirklich die Schuld trägt, geht auch daraus hervor, daß oft in ganzen sonst vortrefflich geschriebenen Büchern von zwei Adjektiven vor einem Femininum nie das erste stark, das zweite schwach dekliniert gefunden wird, wohl aber häufig vor männlichen und sächlichen Dativen das erste mit der Endung ''-m'', das zweite mit ''-n''. Bei Bornhak, Die Fürstinnen auf dem Throne der Hohenzollern, steht z. B.: ''er kehrte allein zurück in die Gruft zu langem, ernsten Verweilen'', wo das Komma die Begründung mit Über- und Unterordnung ausschließt, bei E. Richter, Zeitschrift des D. u. Ö. A. V. XXVII, 1 ff. nicht nur oft ähnlich: ''Fahrzeuge mit hohem, scharfen Bug'', sondern ebenda S. 80 sogar aus der Feder Prof. Dr. Fr. Ratzels: ''in mehr kulturlichem und politischen Sinne'', bei E. Troeltsch gar: ''in starkem, wenn auch jedesmal andersartigen Gegensatz''. Bei M. Ebeling, Blicke in vergessene Winkel, steht z. B. nebeneinander: ''fester, gesunder christlicher Sitte'', wo auch durch das Komma deutlich die sinngemäße Auffassung (a1+a2)+(a3+S) ausgedrückt und doch für alle Adjektive die gleiche starke Form gewählt ist, und also ''frischen Most mit altem milden Weine in neue Schläuche gefüllt'', wo keine Vernunft, sondern bloße Bequemlichkeit an der verschiedenen Dativform schuld sein kann. Fr. Bab (1914) bringt gar fertig: ''aus so viel Gutem und Schlimmen, Falschem und Echten''. — Einen klaren Überblick über die Entwicklung gibt H. Dunger in der Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins, 1903, Nr. 12, S. 360—365. Aus neuer und neuester Zeit seien als Muster sorgfältiger Durchführung zwei- und dreifacher starker Formen auch männlichen und sächlichen Geschlechts genannt: Hölderlin, G. Keller, Ad. Stifter, Fr. Th. Vischer, G. Egelhaaf, C. Flaischlen (Jost Seyfried), Bierbaum (Prinz Kuckuck); W. Jordan; Sidney Whitmann (Deutsche Erinnerungen 1913), Phil. Witkop; Kerler (Jenseits von Optimismus und Pessimismus); H. R. Bartsch; Paul Ernst; Scheler (Die Ursachen des Deutschenhasses 1917); Osk. A. H. Schmitz; Th. Mann (Betrachtungen eines Unpolitischen 1919); H. Stegemann (Geschichte des Krieges); überwiegend auch Fürst Bülow (Deutsche Politik); Jos. Radler (Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften, 3 Bbe. 1913—1918); Berthold Litzmann; Gjellerup (Der goldene Zweig), 1917; Wilh. Wundt, W. v. Kohlenegg; der Übersetzer von Paléologue „Am Zarenhof", J. G. Sprengel, G. Neckel. Sie folgen keinem Geringeren als Jakob Grimm.//. Damit übertragen sie aber die Notwendigkeit, zwischen Bestimmungs- und eigentlichen Eigenschaftswörtern zu unterscheiden, was leicht ist, auf mehrere eigentliche Eigenschaftswörter, über deren gegenseitige Bei-, Über- und Unterordnung nie allgemeine Übereinstimmung erzielt werden kann und wird. Kein Wunder also, wenn solchen Aufstellungen weder die Klassiker noch die Zeitungen und Bücher vom Tage immer entsprechen. Anderseits darf aber auch daraus, daß an $Seite67$ allen diesen Stätten auch (scheinbare) Belege für dieselben gefunden werden, kein Schluß auf ihre Richtigkeit gezogen werden. Vor allem nicht aus mannigfachem Zutreffen jener Regel bei den Klassikern; denn in solcher Beziehung war damals noch vieles fließend und schwankend, und während ihre Geister so hoch und schnell über die Vorgänger emporrückten, waren sie mit der Form, mit den Sprachmitteln lange nicht gleich weit, nicht viele Jahrzehnte über jene Männer hinaus; diese Vorgänger aber — die ersten Geister ihrer Zeit — haben beim Dative selbst des einzelnen Adjektivs, ja des Artikels dieselben Fehler gemacht, wie jetzt vor allem Kinder und Erwachsene, darunter auch die buntgemischten Zeitungsberichterstatter, aus bequem, d. h. fast ohne Dativ-''m'' redenden Familien und Volkskreisen. Nur ein Beispiel: ''der große Thomasius fordert zur Mitarbeiterschaft alle die auf, „welche ihre ... Vernunft zu ... den allgemeinen menschlichen Heil rechtschaffen anwenden!"'' Woher es aber kommt, wenn solche Fehler, wie sie diesem Vater der deutsch geschriebenen Unterhaltungsblätter niemand anrechnen wird, wenigstens beim Zusammentreffen mehrerer Adjektive heute nach zweihundert Jahren noch ebenso allgemein sind, daß selbst in einer Lehrerzeitung zu lesen ist: ''Lehrer von warmem inneren Beruf''? Das kommt teils von der Aufstellung jener haarspalterischen Regel, deren Unzulänglichkeit ihre Verteidiger selbst zugeben und deren Anwendung nie eine gleichmäßige werden kann; teils von der Unkenntnis der allein richtigen und alles klärenden Vorschrift, wonach mehrere vor einem Hauptworte stehende Attribute alle zusammen ebenso zu behandeln sind wie ein einzelnes, d. h. alle schwach oder alle stark, je nachdem die in § 77 und 81 aufgezählten Bestimmungswörter vorangehen oder nicht //1 Anders ist es, wenn mehrere Bestimmungswörter zusammentreffen; diese werden beide stark dekliniert, wenn auch das zweite nie den Artikel verträgt: ''an diesem meinem Unglückstage, jeder solcher Vorfall, von diesem seinem ganzen Drömlingsholze''; und nur dann wird das zweite schwach gebeugt, wenn es den Artikel vor sich haben kann: ''dieses viele Gerede; jene beiden Stände'' (und nur seltener noch ''beide jene Stände''). Übrigens steht bloßes ''beide'' immer betont und mit der Wirkung, „unabhängig vom vorhergehenden Zustand einer im Augenblick der Aussage durch das Fürwort erst hergestellten Einheit" oder der Schaffung einer Einheit durch die Beilegung zweier übereinstimmender Prädikate" zu dienen (O. Behaghel, Zeitschr. f. d. d. U. XXXII, 37—42).//. Deshalb soll der Entwicklung solcher offenbar keine Eigenschaft angebenden Wörter wie ''gewiß, derartig, folgend, besagt, sonstig'' u. ä. zu vollständigen Bestimmungswörtern durchaus kein Riegel vorgeschoben werden. Wenn man also auch die Fügungen billigt: ''derartige Kranken, besagter liebenswürdigen Meldung halber, folgendes gute Mittel'', muß man sonst durchaus scheiden: ''auf unserm von Warnungstafeln durchsteckten, staubigen, brüchigen Lebenspfade'' und: ''auf des Lebens von Warnungstafeln durchstecktem, staubigem, brüchigem Pfade'' (Th. Vischer) oder: ''zwischen des heiligen Xanthos immer fließendem Schmuck'' und ''des Simois steinigem, breitem, trockenem Bette'' (Goethe) oder: ''von so reichem, technischem, psychologischem und ästhetischem Interesse'' (P. Heyse); ''aus jener nun schon vergangnen lieben- und aus vergangner lieber Zeit'' (H. Hoffmann), ''auf seinem morschen, alten-'' und: ''auf morschem, altem Gebälk; der Preis der neuen holländischen-'' und ''eine Sendung neuer holländischer Heringe''. Der von Paul mit Recht für wichtig gehaltenen Unterscheidung zwischen $Seite68$ Beiordnung und Einschließung (S. 66, Anm. //1 Th. Steche, Die neuhochdeutsche Wortbiegung, 1927, S. 170, möchte schon einheitlich regeln: Ein Beiwort (gleichviel ob als solches stehend oder als Hauptwort gebraucht) wird nach einem Fürwort mit Endung schwach gebeugt, aber nach einem andern Beiwort mit starker Endung ebenfalls stark."//) wird gedient, indem zwischen beigeordneten Eigenschaftswörtern ein Komma steht, nicht aber hinter solchen, die vor die schon festere Verbindung der Adjektive mit dem Substantiv treten. Z. B. ''die Überschätzung der hochgewachsenen, langschädeligen, schmalgesichtigen, rosigweißen, hellblonden und helläugigen Rasse des Nordens'' oder: ''der nordischen hochgewachsenen, langschädlichen'' usw. ''Rasse''; ''eine große, freie angelsächsische Kolonie; lehrreiche physikalische Versuche; bei gutem, warmem Wetter''; aber: ''auf bestem holzfreiem Papier.''
Ähnlich braucht auch in dem umgekehrten Falle, daß das nämliche Hauptwort oder Fürwort zu zwei oder mehr Verhältniswörtern gehört, auch wenn diese verschiedene Fälle fordern, das abhängige Wort doch nur einmal hinter dem letzten gesetzt zu werden, wenn seine Form so gut der eine wie der andere von den Verhältniswörtern geforderte Fall sein kann. Man kann also nicht nur sagen: ''auf wie unter der Ministertribüne'', sondern auch: ''mit oder ohne Augenglas, mit oder ohne Vorspann, von und durch Leidenschaft'', und mit G. Keller: ''mit und ohne Musik''. Nur wenn die von den Präpositionen geforderten Fälle des Hauptwortes verschieden gestaltet sind, genügt es nicht, dies nur einmal zu setzen, und es ist hart, zu sagen: ''in wie außerhalb Deutschlands'' statt ''inner- wie außerhalb Deutschlands'' oder ''in wie außer Deutschland; mit oder doch nicht ohne nationale Geisteskräfte'' statt ''mit nationalen Geisteskräften oder doch nicht ohne sie; bis zu und teilweise unter die Kurse vom vorigen Samstag'' statt ''bis zu den Kursen vom vorigen Samstag und teilweise darunter, in und um die Dongolanerzeriben'' statt ''in den Zeriben und darum'' (''um sie'') ''herum'', noch gar so gewaltsam wie ein Herrscher bei einer Truppenverpftlichtung: ''in und um meinem Wohnort, meiner Hauptstadt stehn statt in meinem Wohnort, meiner Hauptstadt oder in ihrer Umgebung'' und $Seite 137$ selbst W. Raabe einmal: ''auf und um der roten Schanze''. Das Mittel, durch das man den Fehler vermeiden kann, ist also, außer der nur bei besonderm Nachdrucke zu empfelenden Wiederholung eines Hauptwortes, dessen Aufnahme durch Fürwörter, darunter aber erst zuletzt derselbe, oder durch Adverbien. Wo kein solches Mittel anspricht, bleibt die Glätte des Ausdrucks seiner Geschlossenheit geopfert wie von Friedr. Bab: ''dieses Dichtwerden in und um das Individuum''. Auch der sorgfältige Stilist P. Ernst schreibt: ''das besondere preußische Wesen bildete sich unter und durch Friedrich den Gr''., und: ''Das war keine für und mit diesem Gehalt geschaffene Form''.
Was hier der Sinn, verlangt in anderen Fällen zum Teil die Form. Zwar wenn die Hauptwörter verschiedenen Geschlechts sind oder in verschiedener Zahl stehn, braucht das Eigenschaftswort trotzdem nur vor das erste zu treten, wenn seine Form, äußerlich gefaßt, auch zu dem oder den folgenden paßt. Man darf also sagen: ''Ländlicher Natur und Sitten, ihre Reiche und Herrlichkeit''. Wohl aber müssen Artikel und andere Formwörter, wenn die verschiedenen Zahlen und Geschlechter daran durch verschiedene Formen ausgedrückt werden, unbedingt wiederholt werden. Also sage man nicht mit einem Reiseberichte: ''Die Pracht dieser einst reichsten Stadt und Zentrum'' (statt: ''dieser einst reichsten Stadt, dieses Zentrums'')//1 Schon Wolfram v. E. sagt Parz. XIII, 659, 4 z. B.: ''dise burc unt diz gemezzen lant''.// ''aller intellektuellen Kreise der Welt''; nicht ''mit solchem Eifer und Beständigkeit'' statt: ''und solcher Beständigkeit''; selbst nicht mit O. Brahm: ''mit welcher Energie und zähem'' (statt ''und welch zähem'' oder ''welchem zähen'') ''Rechtssinne''; nicht ''gegen sein Wissen und Willen'' (statt ''und Wollen''); vor allem auch nicht mit Präpositionen wie häufig: ''Eingang zum Garten und Kegelbahn'' statt richtig und bequem (nach § 135): ''zu Garten und Kegelbahn''.
Aber was man für den Artikel und seine Vertreter, die auch zur Unterscheidung des Geschlechtes mit da sind, fordern kann, darf man nicht vor Hauptwörtern verschiedenen Geschlechtes ausnahmslos auch für jedes Attribut verlangen, also daß es nur heißen könnte: ''großer Schmerz und große Angst'', nicht: ''großer Schmerz und Angst'', und bloß ''das schön gelegene Schloß und die schön gelegene Kapelle''. Nur ein lediglich korrekt sein wollender Stil wird auf diese Weise der Form zuliebe Langeweile und Eintönigleit eintauschen; und das andere Mittel, die Eintönigkeit zu vermeiden, indem man ein sinnverwandtes Hauptwort gleichen Geschlechts aussucht oder ein sinnverwandtes Eigenschaftswort vor das spätere Hauptwort stellt, kann wohl dem langabwägenden Prunkstile zugemutet $Seite136$ werden: wo anders, an falschem Orte zu prunken dagegen kann nur geziert und gespreizt, ja lächerlich wirken. Und so finden sich denn z. B. folgende Fügungen: ''im bloßen Hemd, Strümpfen und Unterkleidern; Erinnerungen an zerkratzte blutige Hände und Gesicht; da hat ein solches Lied große Gewalt und Trost; man brachte dem Werke großes Interesse und Spannung entgegen; von ländlicher Freude und Verdruß; mit einer hölzernen Kelle oder Kochlöffel; mit müdem Fuß und Knien'' bei Schiller, W. Hauff, Bismarck, Th. Vischer, O. Brahm, G. Keller u. W. Raabe, lauter Namen, die deutlich genug erhärten, daß da nicht von Unförmlichkeit und Liederlichkeit die Rede sein kann, sondern nur von ungezwungener Natürlichkeit. Schon Goethe hat sich nicht nur ''alles Leid und Schmerzen, all der Schmerz und Lust'' im Verse, sondern auch in Prosa ''nach geringem Trank und Speise'' gestattet.
Umgekehrt ist die Verwendung der Adverbialpräpositionen wie ''mit, bei, von, gegen, zu'' u. ä. als Adverbien auf ihre Verbindung mit den Verben in deren § 117 behandelter trennbarer Zusammensetzung beschränkt. Sonst ist es in der Schriftsprache aus damit, vorhergehende Begriffe einfach durch ein solches Wörtchen aufzunehmen, wie es sich gelegentlich noch Goethe gestattet hat: ''Die Armut ist ein ehrlich Ding, wer mit'' (''damit'') ''umgehn kann''. Jetzt wird in solchem Falle ein aus dem Verhältniswort und dem hinweisenden Adverbium da zusammengesetztes Pronominaladverb wie ''dadurch, dafür'' u. ä. erfordert. Am meisten sitzt die ältere Ausdrucksweise den Niederdeutschen noch im Blute, wie man denn Berliner und Hamburger draußen oft genug daran erkennt. Dagegen liebt es die bequemere Art des Volksmundes, diese freilich überall, die Pronominaladverbien auseinander zu halten: ''etwas wo ich nichts für kann'' oder gar ''etwas, wo ich nichts dafür kann'' statt: ''etwas, wofür ich nichts kann''. Nur also, wenn er den Mann aus dem Volke auch dadurch zeichnen wollte, hatte z. B. H. Hoffmann das Recht zu schreiben: ''Da kommt kein Turnen und kein Reiten gegen auf''; und niederdeutsch ist die Sprache in dem Verse aus des Knaben Wunderhorn: ''Ihr Leute, wenn ihr Gift wollt legen, so hütet doch die Kinder gegen'', heute liest man besonders aus norddeutschen Gerichtsverhandlungen trotz hochdeutscher Erzählung davon: ''Der Angeklagte wollte nichts von'' (statt ''davon'') ''wissen, ... wollte nichts mit'' (statt ''damit'' und gar auch ''mit ihm'') ''zu tun gehabt haben''. +
Die Mittel, diese Häufung von Genetiven zu meiden, sind neben der § 161, 3 umgrenzten Anwendung des Wörtchens ''von'' andere Verhältnisbeifügungen und bei größerer Häufung der Bestimmungen Auflösungen in Sätze und diesen nahekommende Nennformfügungen. Statt ''Schwierigkeit der Erklärung des Ursprunges des Übels'' wird man also sagen: ''die Schwierigkeit, den Ursprung des Übels zu erklären''; statt der oben angeführten schlechten Verbindungen: ''die Pracht des Waldes im Mittelgebirge, die Entdeckung der Gesetze für die Schwingungen elastischer Oberflächen'' oder noch besser: ''die Entdeckung der Gesetze, nach denen elastische Oberflächen schwingen''; statt ''infolge der Freisprechung der Mörder der deutschen Soldaten'' lieber: ''infolge davon, daß die Mörder der deutschen Soldaten freigesprochen worden sind'' oder ''wurden'', und statt: ''Die Möglichkeit der Vereinigung der zufälligen Verteilung der Güter mit der Idee eines moralischen Planes der Weltregierung'' unbedingt: ''die Möglichkeit, die zufällige Verteilung der Güter mit der Idee von einem moralischen Plane der Weltregierung zu vereinigen'', und statt: ''das Vorgehen der Gegner Lessings der hannöverschen Studentenschaft'' nicht minder ''das V. der G. L.s in der h. St''. +
Das Mittelwort ist vom Sprachweben zu nichts geschaffen als um den Verbalbegriff auch in attributivem Verhältnisse, zur Bezeichnung der innewohnenden Art oder bestimmenden Eigenschaft verwenden zu können. Darum kann man wohl das Mittelwort in der Weise gebrauchen wie überaus oft der Meister G. Keller, nämlich z. B. in den beiden Bedeutungen, in denen nach § 296 auch indem stehn könnte: ''Unter diesen trieben sich die Einberufer umher, hier und da Rücksprache nehmend oder einen der schwierigen Kannegießer bearbeitend''; und ähnlich zum Ersatz aller möglichen Nebensätze. Dagegen kann es nicht verkehrt er gebraucht werden als in den folgenden Sätzen, in denen es eine der Handlung im übergeordneten Satz gleichwertige Handlung angeben soll, die jener in der Zeit weit voraufgeht oder nachfolgt: ''Begrüßt vom Rektor und Kanzler der Universität, betraten die Majestäten den Perron, sich in die Zimmer begebend. Die Königin hat sich beim neapolitanischen Volke neuerdings dadurch sehr beliebt gemacht, daß ... sie ferner den Durchzug einer Fronleichnamsprozession durch den Park von Capodimonte gestattete, ebenfalls an derselben teilnehmend'' (Tgl. R.); als ob nicht zwischen der Erlaubnis und der Teilnahme viele Tage lägen und diese Teilnahme nicht hätte noch eindrucksvoller sein müssen als jene Erlaubnis! +
Weiter ist die Frage wichtig, ob das erste Mittelwort nur, absolut, die Gegenwart und, relativ, die Gleichzeitigkeit bezeichnen oder auch auf die Vergangenheit und Zukunft ausgedehnt werden könne. Im allgemeinen geht dies gewiß nicht an, und erste Mittelwörter sind immer tadelhaft, wenn sie Handlungen ausdrücken, die von der des Hauptsatzes zeitlich und sachlich weit getrennt sind; also derartige: ''Ein in Dresden 1835 geborner, hier, in Bayern, Tirol und Böhmen seine theologischen Studien absolvierender und 1860 zuerst hier angestellter Geistlicher . . . ist es, um den es sich — im Jahre 1891! — handelt'' (Dresdner Journal). Oft trifft man den Fehler an einer andern Stelle, wo man ihn nur nicht gern rügt: in Todesanzeigen und Nachrufen, wo er aber nicht geringer ist: ''Vormittags noch seine Vorlesungen haltend'', oder: ''Einige Stunden vorher noch seinen gewohnten Spaziergang unternehmend, wurde er nachmittags 5 Uhr von einem Hitzschlage getroffen''.
Doch wenn man an die wahre Partizipienarmut denkt, derentwegen Paul Richter unsere Sprache gegenüber der lateinischen eine haus-, gegenüber der griechischen gar eine bettelarme nannte, so wird man eine derartige Vernachlässigung des relativen Zeitverhältnisses//1 Paul, Prinzipien (S. 230).// immerhin erklärlich und in einem Falle auch erlaubt finden: dann nämlich, wenn man die durch das erste Mittelwort und die durch das Hauptverb in der Vergangenheit ausgedrückte Handlung als unmittelbar ineinander übergehend auffassen kann, gleich zwei Kettengliedern, deren eines auch in das andere hineingreift, z. B.: ''In Zug ans Land steigend, kehrten wir im Ochsen ein. Den 26. Oktober von Zürich abreisend, langten wir den 6. November in Nürnberg an'' (Goethe). Solche Sätze sind mit dem immer häufigeren Reisen und den damit sich mehrenden Reiseberichten selber immer zahlreicher geworden und z. B. nirgends öfter zu finden, als in den Mitteilungen des Deutschen und Österr. Alpenvereins//2 Wenn dort z. B. einer schreibt: ''Von Tarvis über Raibl durch das Seebachtal wandernd, erreichte ich die Nevea-Alpe im Friaulischen'', so wird da der ganze Weg als eine Einheit aufgefaßt und das Vor und Nach der einzelnen Strecken nicht betont. Gar hundertfältig sind auch solche Sätze: ''Er aber, sehr geschwind das Jäckchen abstreifend, war geflohen'', und sie tadeln, weil der Lateiner doch richtiger sage: ''veste posita'', heißt geradezu der deutschen Sprache fremde Art anschulmeistern wollen. Ein solches erstes Mittelwort steht, was sein Tempus anlangt, auf einer Stufe mit dem Imperf., das der Deutsche in einer allbekannten Abweichung von der Art der alten Sprachen auch statt des Plusquamperfekts gebraucht, wenn auch genau genommen die $Fußnote auf nächster Seite fortgeführt$ dadurch bezeichnete Handlung vorher gegangen ist und höchstens mit der letzten Entwicklungsstufe an die neue heranreicht: ''Als er das hörte, erschrak er'' = ''Quod cum audivisset, obstupuit''.//; besonders musterhaft sind sie trotzdem nicht.
$Seite 110$ Gar nicht darf auch die Verbindung Lessings: ''das nächstens erscheinende Buch'' angefochten werden, also auch solche Zeitungssätze nicht: ''Das Programm für die im nächsten Jahre hier stattfindende internationale Kunstausstellung ist nunmehr endgültig festgestellt''. Das Mittelwort der Gegenwart genießt hier dieselbe Begünstigung, wie diese Form selbst so oft zur Vermeidung der schwerfälligen Futurumschreibungen, solange Zweideutigkeit ausgeschlossen ist, besonders durch eine beigefügte Zeitangabe: ''wir reisen morgen früh''//1 Nur an Stelle eines nachfolgenden Hauptsatzes darf das Mittelwort nicht treten; vgl. unten § 335.//.
Ob man es aber gleich berechtigt und ungezwungen finden darf, daß z. B. in einem dünnen, aus Feuilletonplaudereien entstandenen Bändchen von Rodenberg gleich ganze Sammlungen solcher Fügungen anzutreffen sind? Nur ein halbes Dutzend sei hergesetzt: 1. ''Von all den alten Häusern, heut königliche Gebäude, ist dies das hübscheste''. 2. ''In dem weitläufigen Hofe, zu des Prinzen Zeit ein großer Garten, sind mehrere Fabriken''. 3. ''in dem Hause'' $Seite 239$ ''Nr. 6, noch heut ein altmodischer Bau''. 4. ''in eben diesem Revier, bis vor wenigen Jahren eines der stillsten von Berlin''. 5. ''Es war lange der Palast der Prinzessin Amalie von Preußen, *jüngsten''//1 Vgl. oben § 240, Anm.).// ''Schwester Friedrichs des Großen, auch sie eine Schülerin Voltaires''. 6. ''Französisches Blut fließt in den Adern du Boys-Reymonds, er, der echte getreue Sohn unsrer Kolonie''. Das 5. Beispiel, meine ich, sollte allein wegen der Härte des zusammenstoßenden zweiten und ersten Falles mißbilligt werden; mit dem 6. ist man gar bei der Auflösung der Satzfügung angelangt. Es ist, als freute man sich, mit dieser freien Form in Nachäffung des Französischen der regelrechten Form ein Schnippchen schlagen zu können. Dazu kommt sie dem schon öfter beklagten Zuge unsrer heutigen Sprache entgegen, alles in einen Satz mit endlosen Nebenbestimmungen zusammenzudrängen, statt in ordentlicher Gliederung Neben- und Zwischensätze, für Zwischenbemerkungen die gebührende Form, an- und einzufügen. Gar nicht dringend genug kann es darum empfohlen werden, Relativ- und Zwischensätze wie: ''welcher, was ... ist'' (''war''); ''das'' (''er, es'') ... ''ist'' (''war'')//2 Als ein Beispiel, das für den Vorzug solcher Sätze vor andern deutlich spricht, führt A. W. Grube, Streiflichter auf die Wandlungen und Schwankungen im nhd. Sprachgebrauche (S. 57) die Übersetzung einer W. Scottschen Stelle an, die bei einem Fräulein lautet: ''reitend auf einem Esel, das Geschenk des Geächteten'', und bei einem Dr. phil.: ''auf einem Esel, dem Geschenke des Geächteten, reitend''. Jene wäre vor der Formlosigkeit dieser von seiner Lächerlichkeit, dem auf dem Geschenke Reitenden, bewahrt geblieben durch die Fassung: ''auf einem Esel reitend — er war das Geschenk des Geächteten''.//, nicht zu scheuen, damit man nicht zwischen zwei gleich übeln substantivischen Fügungen und somit immer wieder ein Übel wählen muß.
Das temporale Fügewort ''während'', das zunächst zwei Vorgänge als gleichzeitig hinstellt, kommt auf sehr leichte und natürliche Weise dazu, zwei Handlungen einander entgegenzusetzen. Den Übergang sieht man an einem Satze wie folgendem: ''während ihr euerm Ver-'' $Seite 133$ ''gnügen nachgingt, habe ich gearbeitet''; das Fügewort kann hier noch rein temporal aufgefaßt werden, aber auch schon mit einer Neigung zum Adversativen. Man muß aber in der Anwendung der adversativen Bedeutung von ''während'' sehr vorsichtig sein, sonst kommt man leicht zu so lächerlichen Sätzen wie: ''während Herr W. die Phantasie von Vieuxtemps für Violine vortrug, blies Herr L. ein Nocturno für Flöte von Köhler — der Minister besuchte gestern'' (!) ''die Schulen in Marienthal und Leubnitz, während er heute'' (!) ''die Besuche in den hiesigen Schulanstalten fortsetzte — König Albert brachte ein Hoch auf den Kaiser aus, während der Kaiser ihm dafür dankte''.
Geradezu ein Unfug aber ist es, Bedingungssätze in abversativem Sinne zu verwenden. Es scheint das aber jetzt für eine ganz besondre Feinheit zu gelten. Man schreibt: ''wenn bei vielen niedrigen Völkern die Priester als Träger höherer Bildung zu betrachten sind, so ist das bei den Ephenegern nicht der Fall — wenn Philostorgius die Kirchengeschichte des Eusebius in arianischem Sinne fortsetzte, so taten es Sokrates und andre mit katholisch-orthodoxer Tendenz — wenn der ästhetisch genießende die Gesamtheit einer Dichtung auf sich wirken läßt, so vermag die wissenschaftliche Betrachtung nur auf Grund einer zergliedernden Interpretation ihr Werk zu verrichten — wollte Adelung die Sprache hauptsächlich als Verständigungsmittel behandelt wissen, so forderte Herder eine individuelle, schöpferische Empfindungssprache''. Auch vergleichende Nebensätze werden schon, anstatt mit ''wie'', mit ''wenn'' gebildet: ''wenn Indien die Geschichte der Philosophie in nuce enthält, so ist es an Materialien für die Geschichte der Religion gewiß reicher als ein andres Land — wenn bei uns vielfach über den Niedergang des politischen Lebens geklagt wird, so ist auch in Amerika, wo das politische Leben schon bisher nicht sehr hoch stand, ein solcher Niedergang bemerkbar — war der Verein schon immer bestrebt, die reichen Kunstschätze Freibergs zu heben, so ist das in besonderm Maße in dem vorliegenden Hefte gelungen''. Ebenso Kausalsätze: ''wenn die Macht der Sozialdemokratie in der Organi-'' $Seite 134$ ''sation liegt, so müssen wir uns eben auch organsieren''. Ebenso Konzessivsätze: ''wenn die gestellte Aufgabe sich zwar'' (aha!) ''zunächst nur auf die Untersuchung der Goldlagerstellen bezog, so war es doch nötig, auch andre Minerale in den Kreis der Betrachtung hereinzuziehen''. Sogar wo einfach zwei Hauptsätze am Platze wären, kommt man jetzt mit diesem ''wenn'' angerückt: ''wenn im frühern Mittelalter die meisten Häuser einfache Holzhäuser gewesen waren, so ist man erst später aus diesem Zustande herausgekommen — war das Handpressenverfahren ungeeignet, so konnte das Typendruckverfahren hinsichtlich der Güte nicht genügen''. Welcher Unsinn!
Wenn diese Art, sich auszudrücken, weitere Fortschritte macht, so wird es noch dahin kommen, daß der Bedingungssatz alle andern Arten von Fügewortsätzen nach und nach auffrißt.
Ganz widerwärtig und ein trauriges Zeichen der zunehmenden Abstumpfung unsers Sprachgefühls ist ein Mißbrauch des Imperfekts, der seit einiger Zeit mit großer Schnelligkeit um sich gegriffen hat.
$Seite 100$ Das Imperfektum ist in gutem Deutsch das Tempus der Erzählung. Was heißt ''erzählen''?
''Mariandel kommt weinend aus der Kinderstube und klagt: Wolf hat mich geschlagen! Die Mutter nimmt sie auf den Schoß, beruhigt sie und sagt: erzähle mir einmal, wies zugegangen ist. Und nun erzählt Mariandel: ich saß ganz ruhig da und spielte, da kam der böse Wolf und zupfte mich am Haar'' usw. Mit dem Perfektum also hat sie die erste Meldung gemacht; auf die Aufforderung der Mutter, zu erzählen, springt sie sofort ins Imperfektum über. Da sehen wir deutlich den Sinn des Imperfekts. Erzählen heißt aufzählen. Das Wesentliche einer Erzählung liegt in dem Eingehen in Einzelheiten. Weiterhin besteht aber nun zwischen Imperfekt und Perfekt auch ein Unterschied in der Zeitstufe: das Imperfekt berichtet früher geschehene Dinge (man kann sich meist ein ''damals'' dazu denken), das Perfektum Ereignisse, die sich soeben zugetragen haben, wie der Schlag, den Mariandel bekommen hat. Wenn ich eine Menschenmasse auf der Straße laufen sehe und frage: ''was gibts denn?'' so wird mir geantwortet: ''der Blitz hat eingeschlagen, und am Markt ist Feuer ausgebrochen''; d. h. das ist soeben geschehen. Wenn ich dagegen nach einigen Wochen oder Jahren über den Vorgang berichte, kann ich nur sagen: ''der Blitz schlug ein, und am Markte brach Feuer aus''. Nur wenn ich etwas, was mir ein andrer erzählt hat, weiter erzähle, gebrauche ich das Perfektum; selbst dann, wenn mirs der andre im Imperfekt erzählt hat, weil ers selbst erlebt, selbst mit angesehen hatte, kann ich es nur im Perfekt weiter erzählen. Wollte ich auch im Imperfekt erzählen, so müßte ich auf die Frage gefaßt sein: ''bist du denn dabei gewesen''?
Also mit dem Imperfekt wird erzählt, und zwar selbsterlebtes; es ist daher das durchgehende Tempus aller Romane, aller Novellen, aller Geschichtswerke, denn sowohl der Geschichtschreiber wie der Romanschreiber berichtet so, als ob er dabeigewesen wäre und die Dinge selbst mit angesehen hätte. Das Perfektum ist dagegen das Tempus der bloßen Meldung, der tatsächlichen Mit- $Seite 101$ teilung. Der Unterschied ist so handgreiflich, daß man meinen sollte, er könnte gar nicht verwischt werden.
Nun sehe man einmal die kurzen Meldungen in unsern Zeitungen an, die das Neueste vom Tage bringen, unter den telegraphischen Depeschen, unter den Stadtnachrichten usw. — ist es nicht widerwärtig, wie da das Imperfekt mißbraucht wird? Da heißt es: ''der Kaiser beauftragte Prof. Begas mit der Anfertigung eines Sarkophags des Fürsten Bismarck — Bahnhofsinspektor S. in R. erhielt das Ritterkreuz zweiter Klasse — in Heidelberg starb Professor X — Minister so und so reichte seine Entlassung ein — in Dingsda wurde die Sparkasse erbrochen — ein merkwürdiges Buch erschien in Turin. Wann denn?'' fragt man unwillkürlich, wenn man so etwas liest. Du willst mir doch eine Neuigkeit mitteilen und drückst dich aus, als ob du etwas erzähltest, was vor dreihundert Jahren geschehen wäre? ''Ein merkwürdiges Buch erschien in Turin'' — das klingt doch, als ob der Satz aus einer Kirchengeschichte Italiens genommen wäre.
Etwas andres wird es schon, wenn eine Zeitbestimmung der Vergangenheit hinzutritt, und wäre es nur ein ''gestern''; dann kann der Satz den Charakter einer bloßen tatsächlichen Mitteilung verlieren und den der Erzählung annehmen. Es ist ebenso richtig, zu schreiben: ''gestern starb hier nach längerer Krankheit Professor X'', wie: ''gestern ist hier nach längerer Krankheit Professor X gestorben''. Im zweiten Falle melde ich einfach das Ereignis, im ersten Falle erzähle ich. Fehlt aber jede Zeitangabe, soll das Ereignis schlechthin gemeldet werden, so ist der Gebrauch des Imperfekts ein Mißbrauch.
Der Fehler ist aber nicht auf Zeitungsnachrichten beschränkt geblieben; auch unsre Geschäftsleute schreiben schon, und zwar immer öfter, in ihren Anzeigen und Briefen: ''ich verlegte mein Geschäft von der Petersstraße nach der Schillerstraße — ich eröffnete am Johannisplatz eine zweite Filiale'' u. ähnl. Ein Schuldirektor schreibt einem Schüler ins Zeugnis: ''M. besuchte die hiesige Schule und trat heute aus''. Eine Verlagsbuchhandlung schreibt in der Ankündigung eines Werkes, $Seite 102$ dessen Ausgabe bevorsteht: ''wir scheuten kein Opfer, die Illustrationen so prächtig als möglich auszuführen; den Preis stellten wir so niedrig, daß sich unser Unternehmen in den weitesten Kreisen Eingang verschaffen kann. Wann denn?'' fragt man unwillkürlich. Sind diese Sätze Bruchstücke aus einer Selbstbiographie von dir? erzählst du mir etwas aus der Geschichte deines Geschäfts? über ein Verlagsunternehmen, das du vor zwanzig Jahren in die Welt geschickt hast? Oder handelt sichs um ein Buch, das soeben fertig geworden ist? Wenn du das letzte meinst, so kann es doch nur heißen: ''wir haben kein Opfer gescheut, den Preis haben wir so niedrig gestellt'' usw. Eine andre Buchhandlung schreibt auf die Titelblätter ihrer Verlagswerke: ''den Buchschmuck zeichnete Fidus''. ''Zeichneetee''! Wann denn?
Es kommt aber noch eine weitere Verwirrung hinzu. Das Perfekt hat auch die Aufgabe, die gegenwärtige Sachlage auszudrücken, die durch einen Vorgang oder eine Handlung geschaffen worden ist. Auch in dieser Bedeutung wird es jetzt unbegreiflicherweise durch das Tempus der Erzählung verdrängt. Da heißt es: ''die soziale Frage ist das schwierigste Erbteil, das Kaiser Wilhelm von seinen Vorfahren erhielt'' (statt: ''erhalten hat'', denn er hat es doch nun!) — ''auch die vorliegende Arbeit führt nicht zum Ziel, trotz der großen Mühe, die der Verfasser auf sie verwandte'' (statt: ''verwendet hat'', denn die Arbeit liegt doch vor!) — ''da die Ehe des Herzogs kinderlos blieb'' (statt: ''geblieben ist''), ''folgt ihm sein Neffe in der Regierung — die letzten Wochen haben dazu beigetragen, daß das Vertrauen in immer weitere Kreise drang'' (statt ''gedrungen ist'') — ''wir beklagen tief, daß sich kein Ausweg finden ließ'' (statt: ''hat finden lassen'') — ''kein Wunder, daß aus den Wahlen solche Ergebnisse hervorgingen'' usw. Der letzte Satz klingt, als wäre er aus irgend einer geschichtlichen Darstellung genommen, als wäre von Wahlen etwa zum ersten deutschen Parlament die Rede. Es sollen aber die letzten Reichstagswahlen damit gemeint sein, die den gegenwärtigen Reichstag geschaffen haben! Da muß es doch heißen: ''kein Wunder, daß aus den Wahlen solche'' $Seite 103$ ''Ergebnisse hervorgegangen sind'', denn diese Ergebnisse bilden doch die gegenwärtige Sachlage.
Es kann wohl kaum ein Zweifel darüber sein, woher der Mißbrauch des Imperfekts stammt. In Norddeutschland ist er durch Nachäfferei des Englischen entstanden und mit dem lebhaftern Betriebe der englischen Sprache aufgekommen. Der Engländer sagt: ''I saw him this morning'' (''ich habe ihn diesen Morgen gesehen'') — ''I expected you last Thursday'' (''ich habe Sie vorigen Donnerstag erwartet'') — ''Yours I received'' (''ich habe Ihr Schreiben erhalten'') — ''That is the finest ship I ever saw'' (''das ist das schönste Schiff, das ich je gesehen habe'') — ''Sheridan's Plays, now printed as he wrote them'' (''wie er sie geschrieben hat''). Wahrscheinlich weniger durch nachlässiges Übersetzen aus englischen Zeitungen, als durch schlechten englischen Unterricht, bei dem nicht genug auf den Unterschied der Sprachen in dem Gebrauche der Tempora hingewiesen, sondern gedankenlos wörtlich übersetzt wird, ist der Mißbrauch ins Deutsche hereingeschleppt worden. In Leipzig kann man schon hören, wie ein Geck, der den Tag zuvor aus dem Bade zurückgekehrt ist, einem andern Gecken zuruft: ''Jä, ich kam gestern zurück'', ein Geck in der Gesellschaft sagt: ''Ich hatte schon den Vorzug (!) — ich habe schon die Ehre gehabt''. In Süddeutschland aber kommt dazu noch eine andre Quelle. Dem bayrisch-österreichischen Volksdialekt fehlt das Imperfektum (mit Ausnahme von ''ich war'') gänzlich; er kennt weder ein ''hatte'', noch ein ''ging'', noch ein ''sprach'', er braucht in der Erzählung immer das Perfekt (''bin ich gewesen — hab ich gesagt''). Daher hat diese Form in Süddeutschland und Österreich den Beigeschmack des Dialektischen, und wenn nun der Halbgebildete Schriftdeutsch sprechen will, so gebraucht er überall das Imperfektum, weil er mit dem Perfekt in den Dialekt zu fallen fürchtet. In großen Dresdner Pensionaten, wo englische, norddeutsche und österreichische Kinder zusammen sind, kann man den Einfluß beider Quellen gleichzeitig beobachten.
Ein wunderliches Gegenstück zu dem Mißbrauch des Imperfekts verbreitet sich in neuern Geschichtsdarstellungen, $Seite 104$ nämlich die Schrulle, im Perfektum zu — erzählen! Nicht bloß vereinzelte Sätze werden so geschrieben, wie: ''der Enkel hat ihm eine freundliche und liebevolle Erinnerung bewahrt'' (statt: ''bewahrte ihm''), nein, halbe und ganze Seiten lang wird das Imperfekt aufgegeben und durch das Perfektum ersetzt. Geschmackvoll kann man das nicht nennen.
Der schlimme Mißbrauch beginnt erst wieder da, wo der Infinitiv, aus Verkennung des Unterschieds zwischen Satz und Satzglied, an ungeheuerlichen Substantivierungen schuld wird, d. h. an ungebührlich langen, schwerfälligen Satzgliedern, deren Inhalt in vollständige Sätze und einfache Zeitwörter gehörte. Statt zu sagen: ''Fugen über fremden Themen aufzubauen'' ... sagt z. B. H. Schliepmann: ''Das Fugenaufbauen über fremden Themen'', und: ''In der blau angestrichenen Tür und der grünen Fensterlade ist ein nicht unangenehmes Sonderwirken gegen die helle Tünche auf den Wänden'' statt: ''Die ... Tür und die ... Fenster stechen ab, wirken gegen'' ... u. a. ä. Vor allem klingt es wieder juristischer, wenn ein solcher Satz: ''In dem Maße, als er von der stillen Zustimmung des Freundes weniger überzeugt war, nähert er sich der Widerrechtlichkeit'', mit Hilfe der Substantivierungsschrauben in einen einzigen Satz gepreßt wird: ''Mit dem Abnehmen des Überzeugtseins von der stillen Zustimmung des Freundes bei ihm nähert er sich'' usw.; und auch Kritiker und Denker, die Entwicklungen in knappe Sätze zusammenfassen wollen. Gelehrte, die dasselbe mit der Quintessenz eines Brauches, einer Sage tun wollen, lassen den Herren vom römischen Recht oft nichts darauf. Schon begegnet man dem unschönen Brauche auch in Romanen selbst guter Schriftsteller und fast auf jeder Seite der Zeitungen.
Aus einem Roman zunächst das fast Unglaubliche: ''Das Zuspätekommen schien die kleine Gewissenhafte ebenso zu scheuen wie das Ohneheftkommen'' (statt ''zu spät zu kommen'' und ''ohne Heft zu kommen''). Von den Besten sagt z. B. M. Greif: ''dieses sich nähere Befassen mit der tatsächlichen Gestaltung'' (statt ''sich ... näher zu befassen''). Besonders aber schien den Brauch Jensen in diesen Kreisen einbürgern zu wollen. Man höre nur einiges aus seinen „Runensteinen" und seinem „Schwarzwald": ''Sie machte sich an das Hervorholen und Austeilen des Inhalts derselben. Er entzog sich dem Beisammenweilen mit seiner Frau'' (statt ''vermied zusammen zu weilen''). ''Die Zeit des täglichen Hierherkommens'' (statt ''wo sie täglich hierher kam''); ''Zeugnis für ein frühes Bestiegensein des Gipfels. Dem Mädchen kam ein'' (!) ''erstes Empfinden und Erkennen der Schönheit und Lieblichkeit des Sonntags, der Sturmesgewalt und Mächtigkeit'' (!) ''des Meeres. Das Betreiben der Glasbereitung im Schwarzwald ist bereits ein'' (!) ''halbtausendjähriges''.
Auch aus Zeitungen einige Beispiele statt vieler. ''Der erste Versuch bestand in dem Ausziehen geschmolzenen Glases zu äußerst feinen zarten Fäden, welche'' ... statt ''zuerst versuchte man das Glas — auszuziehen''; ähnlich durfte ein Alpensteiger nicht sagen: ''Das Überschreiten des langen Grates von einer Spitze zur anderen war bisher eine noch ungelöste Aufgabe'', sondern: ''die Aufgabe, den Grat ... zu überschreiten, war bisher ungelöst''. Endlich einige ganz schlimme. ''Ein Blatt hat nicht etwa klar und durchsichtig gemeldet, daß der Botschafter in Paris, Fürst Hohenlohe'', $Seite 262$ ''in Berlin eingetroffen sei, um die Geschäfte des Auswärtigen Amtes zu führen'', sondern schwerfällig: ''das Eintreffen des Botschafters in Paris, Fürsten Hohenlohe, zur Leitung der Geschäfte des Auswärtigen Amtes in Berlin''. Ein Berichterstatter eines Winkelblattes, der sich den Kopf zerbrochen hat, warum gerade in der Erntezeit auf dem Lande die Schadenfeuer so zahlreich seien, vermutet, daß ''die Ursache in dem Anhäufen des Heues durch die Bauern in nassem Zustande unter dem Dache ihrer Scheunen und auf den Böden ihrer Häuser liege''; wenn er dafür gesagt hätte: ''die Ursache liegt vielleicht darin, daß die Bauern unter dem Dache ... oft noch nasses Heu aufhäufen'', so wäre die eintönige Aneinanderreihung von fünf Umständen vermieden, auch einem Witzbolde nicht die Mutmaßung ermöglicht worden, ob der nasse Zustand etwa den Bauern zugeschrieben werden solle.
Für eine große Anzahl von Tätigkeitsbegriffen fehlt es im Deutschen an einem geeigneten Zeitwort; wir können sie nur durch Redensarten ausdrücken, die aus einem Zeitwort und einem Hauptworte bestehen. Oft ist aber auch ein Zeitwort vorhanden, und doch geben viele, weil sie die Neigung haben, sich breit auszudrucken, einer umschreibenden Redensart den Vorzug. Solche Redensarten — unentbehrliche und entbehrliche — sind z. B. ''Fühlung haben, Gebrauch machen, Klage führen, Rechenschaft ablegen, Kenntnis nehmen, Platz greifen, Wandel schaffen, Lärm schlagen, Dank'' $Seite 272$ ''wissen, in Kenntnis setzen, zur Verfügung stellen'' und hundert andre.
Diese Redensarten haben nun meist etwas formelhaftes. Da sie einfache Verbalbegriffe ersetzen, so werden sie auch wie einfache Verba gefühlt. Daraus folgt aber mit Notwendigkeit zweierlei: erstens, daß sie in passivischen Sätzen und in Nebensätzen, wo das Zeitwort am Ende steht, nicht zerrissen werden dürfen: zweitens, daß sie, ebenso wie wirkliche Verba, nur mit Adverbien bekleidet werden können. Gegen beide Gesetze wird fort und fort verstoßen.
Da schreibt man z. B.: ''er wurde in Kenntnis von dem Geschehenen gesetzt.'' Falsch! Es muß heißen: ''er wurde von dem Geschehenen in Kenntnis gesetzt'', denn die Redensart ''in Kenntnis setzen'' vertritt ein einfaches Verbum und darf nicht zerrissen werden. Andre Beispiele solches gefühllosen Zerreißens sind: ''wenn eine der brennenden Fragen in Beziehung zur technischen Hochschule gesetzt wurde — es ist nicht mehr als billig, daß wir einen Begriff von Talenten wie Kjelland, Lie usw. erhalten — weil die Regierung nicht die Hand zu einer dauernden Spaltung in den Münchner Künstlerkreisen bieten wollte — wenn auch dieser Realismus die Brücke zwischen der Dichterin und der großen Menge schlug — wer sich eine Vorstellung von der eigentümlichen Persönlichkeit Stiers, die unsern heutigen Anschauungen in vieler Beziehung befremdlich erscheint, machen will.'' Der Fehler ist umso störender, als durch das Zerreißen der Redensart der Ton von dem Hauptwort auf das Zeitwort verlegt wird (''die Hand bieten'', anstatt: ''die Hand bieten — die Brücke schlug'', anstatt: ''die Brücke schlug''), auf das Zeitwort, das meist ziemlich bedeutungslos und nur ein äußerliches Hilfsmittel zur Bildung der Redensart ist. Läßt man die Redensart zusammen, so bleibt auch der Ton an der richtigen Stelle.
Die andre Art, solche Redensarten zu mißhandeln, besteht darin, daß man das Hauptwort herausreißt und mit einem Attribut bekleidet, anstatt die Redensart zusammenzulassen und sie als Ganzes mit einem Adverb oder einem adverbiellen Ausdruck zu bekleiden. Der $Seite 273$ häufigste Fall ist der, daß man zu dem Hauptwort ein Adjektiv setzt, z. B.: ''es ist sehr zu befürchten, daß er dabei ernstlichen Schaden nehmen werde.'' ''Schaden nehmen'' ist eine Redensart, die einen einfachen passiven Verbalbegriff vertritt (''geschädigt werden, beschädigt werden''). Man kann nicht ''ernstlichen'', man kann nur ''ernstlich Schaden nehmen'', wie man nur ''ernstlich geschädigt'' werden kann. Mit andern Worten: nicht der ''Schade'' ist ''ernstlich'', sondern das ''Schadennehmen'', der ganze Begriff. ''Der Minister nahm von den Einrichtungen der Schule eingehende Kenntnis'' — derselbe Fehler! ''Kenntnis nehmen'' ist eine Redensart, die einen einfachen aktiven oder passiven Verbalbegriff vertritt (''kennen lernen, belehrt werden, unterrichtet werden''). Man kann von einer Sache weder ''eingehende'', noch ''gründliche'', noch ''flüchtige'', noch ''oberflächliche Kenntnis nehmen'', man kann nur ''eingehend, gründlich, flüchtig, oberflächlich Kenntnis nehmen''. In folgenden Beispielen soll das Richtige immer gleich in Klammern hinzugesetzt werden: ''seiner Abneigung unverhohlenen Ausdruck geben'' (''unverhohlen Ausdruck geben'') — ''wir werden sein Andenken stets in hohen Ehren halten'' (''hoch in Ehren halten'') — ''sie nahm immer noch einen merkwürdigen Anteil an dem Herrn'' (''merkwürdig Anteil'') — ''es ist nicht leicht, zu dieser Frage richtige Stellung zu nehmen'' (''richtig Stellung zu nehmen'') — ''gegen das Rabattwesen wurde scharfe Stellung genommen'' (''scharf Stellung genommen'') — ''der König besuchte das Geschäft, um die Geschenke in kritischen Augenschein zu nehmen'' (''kritisch in Augenschein zu nehmen'') — ''die Prüfungsordnung ist in volle Kraft getreten'' (''vollständig in Kraft getreten'') — ''von seinen literarischen Arbeiten legen die Briefe ausgiebige Rechenschaft ab'' (''ausgiebig'') — ''sie denken nicht daran, mit diesen Hirngespinsten ernsthafte Politik zu treiben'' (''ernsthaft Politik zu treiben'') — ''über meine Tätigkeit war ein entstellender Bericht erstattet worden'' (''entstellend Bericht erstattet worden'') — ''die Stimme des Unmuts im Lande soll nicht zu weiterm Ausdruck kommen'' $Seite 274$ (''weiter zum Ausdruck kommen'') — ''wir können diesen Gerüchten keinen rechten Glauben schenken'' (''nicht recht Glauben schenken'') — ''allen gröbern Ausschreitungen muß ein energisches Halt geboten werden'' (''energisch Halt geboten'') — ''die gegnerische Presse hat gewaltigen Lärm geschlagen'' (''gewaltig Lärm geschlagen'') — ''hier wäre Grund vorhanden, bessernde Hand anzulegen'' (''bessernd Hand anzulegen'') — ''die Zeit schafft oft unerwartet schnellen Wandel'' (''schnell Wandel'') — ''er brachte die Angelegenheit zum ausführlichen Vortrag'' (''ausführlich zum Vortrag'') — ''ich erlaube mir, mein Lichtenhainer in empfehlende Erinnerung zu bringen'' (''empfehlend in Erinnerung zu bringen'').
Ebensowenig wie Eigenschaftswörter dürfen natürlich Zahlwörter oder besitzanzeigende Adjektiva in solche Redensarten eingefügt werden. Da schreibt einer über die Tagespresse: ''man muß zwischen ihren Zeilen lesen.'' Unsinn! ''Man muß bei ihr zwischen den Zeilen lesen''! Denn ''zwischen den Zeilen lesen'' ist eine formelhafte, unveränderliche Redensart, die nur durch einen adverbiellen Zusatz (''bei ihr'') näher bestimmt werden kann. Ein andrer schreibt: ''der erste Sturm sollte gegen das Großkapital gelaufen werden''. Doppelter Unsinn! Erstens weil ''der Sturm'' gezählt, zweitens weil die Redensart zerrissen ist. Es muß heißen: ''zu erst sollte gegen das Großkapital Sturm gelaufen werden''. Ebenso ist doppelt fehlerhaft: ''wir müssen fleißigern Gebrauch von der Rute machen'' (richtig: ''wir müssen fleißiger von der Rute Gebrauch machen'') — ''die Zeit, wo der Fürst noch unmittelbare Fühlung mit dem Volke hatte'' (richtig: ''unmittelbar mit dem Volke Fühlung hatte'') — ''besondern Dank wird der Leser dem Herausgeber für die kurzen Einleitungen wissen'' (richtig: ''besonders wird der Leser dem Herausgeber für die kurzen Einleitungen Dank wissen'') — ''besondre Obacht mußte darauf gegeben werden, daß sich keiner der Buße entzog'' (richtig: ''besonders mußte darauf Obacht gegeben werden'') — ''von konservativer Seite wird laute Klage über die antisemitischen Demagogen'' $Seite 275$ ''geführt'' (richtig: ''wird laut über die antisemitischen Demagogen Klage geführt'').
Ein Attribut kann ja aber auch in der Form eines abhängigen Genitivs auftreten; auch in dieser Form kommt der Fehler sehr oft vor. Man schreibt: ''die Jahre, wo die Hilfslehrer zur Verfügung des Provinzialschulkollegiums stehen — sämtliche Verhafteten wurden zur Verfügung des französischen Botschafters gestellt — wenn sich die Kammer zur Verfügung der größten Schwindelei des Jahrhunderts stellt'' (muß heißen: ''dem Provinzialschulkollegium zur Verfügung stehen'' usw.) — ''die Streitfragen, die auf der Tagesordnung ihrer Wissenschaft stehen'' (muß heißen: ''in ihrer Wissenschaft auf der Tagesordnung stehen'') — ''es sollen ganz bestimmte Gegenstände zur Beratung der Konferenz gestellt werden'' (muß heißen: ''der Konferenz zur Beratung gestellt werden'') — ''die Dame, in deren Mund die Erzählung gelegt ist'' (muß heißen: ''der die Erzählung in den Mund gelegt ist''). Auch in diesen Fällen wird überdies die Redensart zerrissen, in den meisten entsteht ein Gallizismus.
So wenig aber das Hauptwort einer solchen formelhaften Redensart mit einem Attribut bekleidet werden kann, so wenig kann es endlich mit einem Relativsatz behängt werden. Auch ein Relativsatz kann sich immer nur an den Gesamtbegriff der Redensart, aber nicht an den Bestandteil anschließen, den das Hauptwort bildet. Aber auch dieser Fehler, der große Unbeholfenheit verrät, ist etwas ganz gewöhnliches, wie folgende Beispiele zeigen: ''die Versuche blieben nicht ohne Eindruck, der'' (!) ''aber durch die nachfolgenden Ereignisse bald wieder verwischt wurde — namentlich waren die Schöpfungen der Pariser Architektur auf ihn von Einfluß, der'' (!) ''bis zu seinen letzten Werken nachhaltend geblieben ist — ein solches Unternehmen muß in Einzelheiten Widerspruch hervorrufen, der'' (!) ''dann auch auf die Beratung des Ganzen Einfluß übt — da stand er nun in Verlegenheit, an die'' (!) ''er gar nicht gedacht hatte — auf seine Bitten erhielt er in dieser Sprache'' $Seite 276$ ''Unterricht, den'' (!) ''er selbst so anziehend geschildert hat — die Scheune geriet in Brand, der'' (!) ''erst nach einer Stunde gelöscht wurde — Vischer redet sich alle Galle vom Herzen, das'' (!) ''im deutschen Bruderkriege 1866 blutete.''
Etwas erträglicher wird der Fehler, wenn man das Hauptwort der Redensart mit einer Art von Anaphora wiederholt, z. B.: ''man hat den Eindruck, daß beide in dem Augenblick der Entscheidung Friede gemacht haben, einen Frieden, der auch dem unterliegenden Teile zugute kommt.'' Schwache Gemüter können hier zugleich rein äußerlich sehen, worauf es ankommt: in der Redensart erscheint das Hauptwort ohne Artikel, in der Anaphora mit Artikel; bezeichnend ist dabei der Unterschied, den der Schreibende (unwillkürlich?) zwischen der ältern und der jüngern Form ''Friede'' und ''Frieden'' gemacht hat. Oft berühren sich nämlich solche unveränderliche formelhafte Redensarten nahe mit andern Wendungen, die nichts formelhaftes haben, sondern im Augenblick gebildet sind und jeden Augenblick anders gebildet werden können. Die sind aber dann von formelhaften Wendungen leicht zu unterscheiden, äußerlich gewöhnlich schon daran, daß in der Formel das Hauptwort keinen Artikel hat. Eine zweifellos formelhafte Redensart ist: ''zu Ohren kommen''. Daher wird niemand sagen: ''es ist zu meinen Ohren gekommen'', oder ''es ist zu Ohren des Ministers gekommen'', sondern: ''es ist mir zu Ohren gekommen, es ist dem Minister zu Ohren gekommen''. Zweifeln kann man dagegen, ob auch ''zur Kenntnis kommen'' formelhaft sei. ''Der Vorgang kam zu meiner Kenntnis'' oder ''zur Kenntnis des großen Publikums'' dürfte ebenso gut sein wie: ''er kam mir zur Kenntnis'' oder ''dem Publikum zur Kenntnis''. Die Grenzen sind hier manchmal flüssig; wer feines Sprachgefühl hat, wird meist ohne weiteres das Richtige treffen; wer keins hat, wird auch bei aller Belehrung danebentappen.
Das tollste ist es, das Hauptwort aus einer solchen Redensart herauszunehmen und in einem besondern Satze zu verwenden. Aber auch das geschieht. Da schreibt z. B. $Seite 277$ jemand: ''wichtig war für meine spätern Neigungen die Bekanntschaft mit den Zeitungen, die ich schon in meinen Kinderjahren machte.'' Das soll heißen: ''wichtig war, daß ich schon in meinen Kinderjahren mit den Zeitungen Bekanntschaft machte.'' Ein solcher Schnitzer liegt schon dicht an dem Wege, der zu den bekannten Späßen Wippchens führt, wie: ''gebt mir einen Haufen, damit ich den Feind darüberwerfen kann.''
Daß der Bindungssatz mit ''wenn'', ebenso der Adversativsatz mit ''während'' und der Vergleichsatz mit ''wie'' alle zu der einen allein „hochmodernen“ Form des Frage- und Wunschsatzes zusammenfließen (vgl. § 279), kann allerdings nimmer genug getadelt werden. Sogar z. B. ein Lehrer, der die Theorie des zusammengesetzten Satzes erörtert, gewiß keinen rhetorischen Vorwurf, handhabt diese dichterische und rednerische Form fast wie die einzig übliche und mögliche in immer wiederkehrenden Sätzen der Art: ''Vermag ich so Kern darin beizupflichten, vermag ich doch dessen Folgerung nicht gut zu heißen''. Kein Wunder, daß man da aller Augenblicke, selbst in den trockensten Mitteilungen, auf die nur außergewöhnlicher Erregung angemessene Bedingungsperiode stößt, in welcher sich die Auffassung des Bedingungssatzes als alter Hauptsatz, d. h. als Wunsch- oder Fragesatz, darin widerspiegelt, daß er nicht, wie sonst jeder Vordersatz, das Verbum des Nachsatzes an dessen erste Stelle zieht. Aber wahrlich etwas anderes ist es, ob über Erörterungen, die Stadtverordnete über die Setzung einer Straßenlaterne angestellt haben, berichtet wird: ''Erschien in der unsaubern Drehgasse die Aufstellung einer'' $Seite 327$ ''weiteren'' (!) ''Laterne nötig'' (oder auch: ''wenn ... nötig erschien''), ''in dem dunkeln Gebüsche hinter Helds wäre sie erst recht nötig gewesen'' (oder auch: ''sie wäre in dem ... Gebüsch ... erst recht nötig gewesen''), und etwas anderes, wenn es bei C. F. Meyer von dem in Leidenschaft für seine Schwester erglühenden Wulfrin heißt: ''Hätte einer der Gewalttätigen, die auf den rätischen Felsen nisteten, begehrlich nach Palma gegriffen'' (oder: ''wenn einer ... gegriffen hätte''), ''Wulfrin möchte ihm ins Angesicht getrotzt und das Schwert aus der Scheide gerissen haben''. +
Solch ein abgeblaßtes Hauptwort ist ''Anschauung'' (auch ''Weltanschauung''), nicht so merkwürdigerweise, als man grade bei diesem Worte wohl meint; denn unter dem Rufe nach Anschauung und unter der Herrschaft des Anschauungsunterrichts hat man gar vieler Orten übersehen, daß ''Ansicht'' noch nicht ''Einsicht'' ist, und hat alles ''anschauen'' zu können vermeint, was ''durchdacht, verstanden'' und ''gefühlt'' sein will. Statt zur Kirchenpolitik ''eine feste Stellung'', in der Landwirtschaft ''Erfahrung oder Verständnis'', in der Moral ''Grundsätze'', in der Grammatik ''Kenntnisse'', in der Kunst ''ein Urteil'' zu haben, hat man denn jetzt von alle dem $Seite 443$ und viel anderem — bloß ''eine Anschauung''; so recht hübsch äußerlich, wie einer, der nur von außen in einen Laden hineinguckt oder, wenn's hochkommt, im Wirts- oder Schauspielhause einer — chemisch-physikalischen Abendunterhaltung beigewohnt hat. Kein Wunder, daß da auch hunderttausenden, die über das Ganze der Welt und das Welträtsel kaum nachgedacht haben, eine Weltanschauung zugeschrieben wird.
So hängt schließlich, die Sprachgestaltung freilich entschuldigend, aber die Sprachbetrachtung zu desto ernsterer Warnung vor Unsachlichkeit, vor den schlimmsten innerlichsten Schädigungen drängend, die Vorliebe für jenen Ausdruck mit der gesamten Kulturentwicklung zusammen; ganz ähnlich wie schon die Vorherrschaft gewisser Künste und Stände, der Mal- und Tonkunst und des Militärs, uns auch eine stattliche Reihe von Ausdrücken derselben beschert hat, die wenigstens in der jetzigen Aufdringlichkeit unschön, oft sogar widersinnig wirken. Wer fühlte nicht ohne weiteres jene Einflüsse wirksam, wenn er immer hört und liest von ''Stimmungen, Stimmungsbildern'' und ''stimmungsvoll''? Freilich können darin wieder Launen, was zu stark, und weihevoll, das zu hehr klingt, recht hübsch mit verschwimmen. Immer ist man heute ''in der Lage'', wo oft besser stünde ''imstande'', weil soviel von ''der europäischen Lage'' zu hören ist; ''Politiker stehn auf der Zinne'' (!) ''der Partei'' und andere wieder ''halten deren Fahne hoch'', obwohl sie doch gar keine hat. ''In der ersten Linie'' (statt ''vor allem'') ''ist ein Vortrag klar und verständlich gewesen''; und in allen möglichen Dingen wird ''vorgegangen'' und ''eingegriffen'', gerade wie im Kampfe. Nach anderm Muster wird wieder alles ''grau in grau gemalt'' oder ''die Bildfläche'' angegeben, auf der alles ''erscheint'' und von der alles ''verschwindet'', auch wo von einem Bilde oder Bilden keine Rede sein kann und nur ''eintreten, auftauchen, abtreten'' gesagt werden sollte. Der Art unserer Zeit, die viel verlangt und jedes Verlangen sogleich erfüllt sehen möchte, die in allem nach dem Zwecke, nach dem Ruhen fragt, entspricht es auch, daß das Wort ''Zweck'' die Bedeutung von ''Erfolg, Nutzen'' und, weil man für diesen noch Sinn hat, auch von ''Sinn'' annimmt: ''kalte Abreibungen haben bei solcher Konstitution keinen Zweck'' (statt ''sind unnütz'') ... ''Laß dies, das hat keinen Zweck.'' Was in dieser Form dem Norddeutschen schon Gewohnheit geworden ist, belacht er freilich noch, wenn er im Süddeutschen auf demselben Wege auch das Verb ''bezwecken'' bis in die Bedeutung von ''erreichen'' vorgerückt findet: ''Es wurden 108 Reden gehalten, um die Vereinigung des Südens mit dem Norden herbeizuführen; leider haben alle nichts bezweckt'' (statt ''gefruchtet'').
Dabei haben alle diese Bedeutungswandlungen, die zuletzt beispielsweise angedeutet wurden, noch irgend einen vernünftigen Ausgangspunkt. Noch schlimmer, wenn auch dieser fehlt. So heißt es nur, sich törichterweise freiwillig in französische Armut begeben, wenn die Personenbezeichnung ''Sohn'' und ''Tochter'', die nur von dem Verhältnisse der Kinder zu den Eltern gebraucht werden dürfen, den Rhein hinab auch ohne solche Beziehung verwendet werden, also wo ''Knabe'' oder ''Junge'' und ''Mädchen'' am Platze ist, so daß dort schon Damen- und Töchterstiefel angepriesen werden. Sollte man es aber glauben, daß jemand selbst das Gefühl dafür verliert, daß ein ''Paar'' zwei gleichartige zusammengehörige Wesen bezeichnet, und ein ''Drillingspärchen'' //1 Dagegen sollte es nicht beanstandet werden, wenn ebenso wie von einem ''Braut-'' $Fußnote auf nächster Seite fortgeführt$ oder ''Ehepaare'', auch von einem ''Königs-'' und ''Kaiserpaare'' gesprochen wird, da man hinter diesen Ausdrücken so wenig ''zwei Kaiser'' oder ''zwei Könige'' zu suchen braucht wie man hinter ''Brautpaar zwei Bräute'' sucht. Weiter verdient freilich das ''Kronprinzliche, Großherzogliche, Freiherrliche, Fürstliche Paar'' den Vorzug vor ''Kronprinzenpaar, Grafenpaar'' u. dgl., Bildungen, denen die Sprache ausweicht, weil der Plural des Bestimmungswortes wirklich auf eine Mehrheit von ''Kronprinzen, Grafen, Freiherren'' hindeuten könnte.// anzeigen konnte? oder, um von der Wiege zur Bahre $Seite 444$ zu kommen, ein anderer den Begriff von ''Leichnam'' so wenig empfindet, daß er von der Auffindung eines Leichnams meldet, der sich selbst getötet hat? Selbst der feine, aber feste Unterschied zwischen Sprache, der angebornen oder angelernten Gabe oder der durch Stand oder Stellung gebotenen Art sich zu äußern (Muttersprache, Sprache der Gelehrten, Diplomaten), und der Rede und dem Gespräche, der durch Zufall oder bestimmte Veranlassung gebotenen Anwendung jener Gabe auf irgend einen sachlichen Inhalt, droht verwischt zu werden; hört man doch schon: davon ist nicht mehr die Sprache, die Sprache kam darauf! Daß für die Fremdwörter und ihre Grundbedeutung dem Schreiber, auch dem gebildeten, erst recht das Sprachgefühl fehlt, darauf soll nur andeutungsweise mit einem Beispiele hingewiesen werden: ''unter der Wendung der Tgl. R.: große Marschstationen vollführen'' sollte man einmal verstehn: ''ohne Unterbrechung marschieren, und da heißt Station der Halt!''
Unter den falsch gebrauchten Eigenschaftswörtern sei hier zunächst ''gelungen'' genannt; das wird nämlich nicht mehr bloß vom Standpunkt derer gesetzt, die für das Gelingen oder Mißlingen einer Sache verantwortlich und darum besorgt sind, sondern überhaupt für ''hübsch, unterhaltend'', vor allem in ironischem Sinne von etwas, was durch lächerliche Wirkung erheitert. Da sind Stunden bei einem Lehrer und dieser selbst ''gelungen'', wenn nur beide lustig sind, und ''bei einem Feste geht es gelungen her!'' — ''Zwingen'' und ''nötigen'' möchte sich heut auch niemand gern lassen; deshalb redet man auch nicht mehr von ''nötigen, notwendigen, erforderlichen Maßregeln'' — halt, ''Maßnahmen''! — ''Schritten, Zugeständnissen'', sondern hübsch verschwommen von ''angezeigten'' oder ''gegebenen'' und gar zweideutig ''gebotenen'' und findet etwas ''gegeben, angezeigt'' und ''geboten''. Auch die beliebte Wendung: ''er fand ein unzeitiges Ende'' bedeutet, dem Worte ''Unzeit'', d. h. ''schlechte, unpassende Zeit'', entsprechend, nur ''er starb zur Unzeit'', und das kann unter Umständen auch im hohen Alter geschehen; was sie bedeuden soll, drücken die einfachsten Worte ''ein frühes Ende'' am natürlichsten und klarsten aus. Der Süddeutsche muß sich besonders noch hüten, ''wirklich'' und ''gegenwärtig'' (= ''jetzt'') sowie ''gegenwärtig'' und ''vorliegend'' zu verwechseln; denn bei ihm ist oft zu hören: ''Es ist eine Pracht, wirklich'' (soll bedeuten ''jetzt, gegenwärtig'') ''in Gottes freier Natur zu wandeln'', und ebenso bei ''gegenwärtiger Untersuchung'' statt bei ''dieser, bei vorliegender Untersuchung''.
Verbreitet werden neue Wörter namentlich durch die Jugend und durch die Ungebildeten, die keine Spracherfahrung haben, die nicht wissen, ob ein Wort alt oder neu, gebräuchlich oder ungebräuchlich ist; dann werden sie oft in kurzer Zeit zu Modewörtern. Daß es Sprachmoden gibt so gut wie Kleidermoden, und Modewörter so gut wie Modekleider, Modefarben und Modefrisuren, darüber kann gar kein Zweifel sein. In meiner Kinderzeit fragte man, wenn man jemand nicht verstanden hatte: ''Was?'' Dazu war natürlich zu ergänzen: ''hast du gesagt?'' Dann hieß es plötzlich: ''Was'' sei grob, man müsse fragen: ''Wie?'' Dazu sollte man ergänzen: ''meinen Sie?'' In neuerer Zeit kam dann dafür die schöne Frage auf: ''Wie meinen?'' (vgl. S. 90), und das allerneueste ist, daß man den andern zärtlich von der Seite anblickt, das Ohr hinhält und fragt: ''Bötte?''
Nun kommt ja unleugbar auch bisweilen eine hübsche Mode auf, aber im allgemeinen wird doch die Mode $Seite 356$ gemacht von Leuten, die nicht den besten Geschmack haben. Oft ist sie so dumm, daß man sich ihre Entstehung kaum anders erklären kann, als daß man annimmt, der Fabrikant habe absichtlich etwas recht Dummes unter die Leute geworfen, um zu sehen, ob sie darauf hineinfallen würden. Aber immer fällt die ganze große Masse darauf hinein, denn Geschmack ist wie Verstand. „stets bei wenigen nur gewesen"' Zuletzt, wenn eine Mode so gemein (d. h. allgemein) geworden ist, daß sie auch dem Beschränktesten als das erscheint, was sie für den Einsichtigen von Anfang an gewesen ist, als gemein (d. h. niedrig), verschwindet sie wieder, um einer andern Platz zu machen, die dann denselben Lauf nimmt. Vornehme Menschen halten sich stets von der Mode fern. Es gibt Frauen und Mädchen, die ihrer Kleidung alles verschmähen, was an die jeweilig herrschende Mode streift; und doch ist nichts in ihrem Äußern, was man absonderlich oder gar altmodisch nennen könnte, sie erscheinen so modern wie möglich und dabei so vornehm, daß alle Modegänschen sie darum beneiden könnten.
Genau so geht es mit gewissen Wörtern und Redensarten. Man hört oder liest ein Wort irgendwo zum erstenmal, bald darauf zum zweiten, dann kommt es öfter und öfter, und endlich führt es alle Welt im Munde, es wird so gemein, daß es selbst denen, die es eine Zeit lang mit Vergnügen mitgebraucht haben, widerwärtig wird, sie anfangen, sich darüber lustig zu machen, es gleichsam nur noch mit Gänsefüßchen gebrauchen, bis sie es endlich wieder fallen lassen. Aber es gibt immer auch eine kleine Anzahl von Leuten, die, sowie ein solches Wort auftaucht, von einem unbesiegbaren Widerwillen davor ergriffen werden, es nicht über die Lippen, nicht aus der Feder bringen. Und da ist auch gar kein Zweifel möglich: wer überhaupt die Fähigkeit hat, solche Wörter zu erkennen, erkennt sie sofort und erkennt sie alle. Er sagt sich sofort: das Wort nimmst du nie in den Mund, denn das wird Mode. Und wenn zwei oder drei zusammenkommen, die den Modewörterabscheu teilen, und sie vergleichen ihre Liste, so zeigt sich, daß sie genau dieselben Wörter darauf haben — ein Beweis, daß es $Seite 357$ an den Wörtern liegt und nicht an den Menschen, wenn manche Menschen manche Wörter unausstehlich finden. Ihrer Ausdrucksweise merkt aber deshalb niemand an, daß sie die Wörter vermeiden, die klingt so modern wie möglich, kein Mensch vermißt die Modewörter darin. Leider begegnet es auch „ersten" Schriftstellern nicht selten, daß sie auf Modewörter hineinfallen. Gewiß gibt es unter den Modewörtern auch einzelne, die an sich nicht übel sind. Aber das Widerwärtige daran ist, daß es eben Modewörter sind, daß sie eine Menge andrer guter Wörter verdrängen und doch das bißchen Reiz, das sie zu Anfang haben, sehr schnell verlieren.
Im folgenden sollen einige Wörter zusammengestellt werden, die entweder überhaupt oder doch in der Bedeutung, in der sie jetzt fast ausschließlich angewandt werden, unzweifelhaft Modewörter sind. Die meisten davon stehen jetzt in vollster Blüte; einige haben zwar ihre Blütezeit schon hinter sich, sollen aber doch nicht übergangen werden, weil sie am besten zeigen können, wie schnell vergleichen veraltet.
''Darbietung''. Als solche wird jetzt alles bezeichnet, was in einem Konzert oder an einem Vereinsabend geredet, gespielt oder gesungen wird: ''die gelungenste Darbietung des Abends — die Darbietungen des diesjährigen Pensionsfondskonzerts — das Programm enthielt auch einige solistische Darbietungen — die literarischen Darbietungen im Stil der freien Bühne'' usw.
''Ehrung''. Für ''Ehrenbezeigung'' oder ''Auszeichnung''. ''In Ehrungen wird jetzt ungeheuer viel geleistet''.
''Prozent'' oder ''Prozentsatz''. Für ''Teil''; aus der Sprache der Statistik. Man sagt nicht mehr: ''über die Hälfte aller Arbeiter'', sondern: ''über fünfzig Prozent aller Arbeiter'', nicht mehr: ''ein ganz geringer Teil'', sondern: ''ein ganz geringer Prozentsatz der Künstler darf hoffen, als Bildhauer oder Maler vorwärts zu kommen''. Man sagt nicht: ''ein großer Teil der Studenten ist faul'', sondern man klagt über den ''Unfleiß'' (!) ''eines großen Prozentsatzes der Studierenden''. $Seite 358$ ''Rückschluß, Rückschlag'' und ''Rückwirkung''. Für ''Schluß, Einfluß'' und ''Wirkung''. ''Schlüsse'' gibt es gar nicht mehr, nur noch ''Rückschlüsse''. Von ''Rück-'' ist aber meist gar nicht die Rede.
''Bedeutsam''. Aufs unsinnigste mißbrauchtes Wort. Goethe sagt in seiner Beschreibung von dem Selbstbildnis des jungen Dürer, ''der Maler halte das Blümlein Mannstreu bedeutsam in der Hand''. Das heißt so viel wie ''bedeutungsvoll'': der Maler habe damit sinnbildlich oder symbolisch etwas andeuten wollen. Von dieser schönen ursprünglichen Bedeutung des Wortes ist heute nicht der leiseste Hauch mehr zu spüren. Kein zweites Wort ist binnen wenig Jahren so heruntergekommen, so entwertet worden, wie dieses. Für alles mögliche muß es herhalten, für ''groß, wichtig, bedeutend, hervorragend, wertvoll'' usw. Wenn man über eine Sache nichts, gar nichts zu sagen weiß, so nennt man sie ''bedeutsam''. Man schreibt: ''der Verfasser hat auch über Luther, Kant, Fichte und Hegel bedeutsame Bücher geschrieben — diese Zusammenstellung ist nicht bloß sprachgeschichtlich, sondern auch kulturgeschichtlich bedeutsam — das Buch wird der Erkenntnis Bahn brechen, daß die Bildhauerei des damaligen Deutschlands eine'' (!) ''bedeutsame war — daß diese Gedanken von einer Frau ausgesprochen wurden, schien dem Herausgeber bedeutsam genug, um'' (!) ''sie hier mitzuteilen''. Man schwatzt von ''bedeutsamen Erfolgen, Aufgaben, Funden, Kunstwerken'', von ''einer für die Kulturgeschichte bedeutsamen Veröffentlichung'', von ''einer bedeutsamen Umgestaltung des Schulwesens'', von ''dem bedeutsamsten Teil der Wettinischen Lande'', von ''einem bedeutsamen Hinweis aus Pflanzenstudien'', von ''bedeutsamen Probeleistungen einer Kunstgewerbeschule'', von ''bedeutsamen politischen Momenten'' (was mag das sein?), ja sogar von ''einem bedeutsamen Mozartinterpreten'' (!), von ''kunstvollen, bezw.'' (!) ''durch'' (!) ''die Namen ihrer einstigen Besitzer bedeutsamen Armbrüsten'' und von ''der bedeutsamen Stellung, die in der Kundschaft der Fleischer die Schänkwirte einnehmen''. Jammerschade um das einst so schöne, gehaltvolle Wort!
$Seite 359$ ''Belangreich'' und ''belanglos''. Zwei herrliche Wörter, obgleich niemand weiß, was ''Belang'' ist, und ob es ''der Belang'' oder ''das Belang'' heißt.
''Besser''. Wird in ganz wunderlicher Weise nicht mehr als positive Steigerung von ''gut'', sondern als negative Steigerung von ''schlecht'' gebraucht, also in dem Sinne von ''weniger schlecht''. Herrschaften suchen täglich in den Zeitungen ''bessere Mädchen'', und Mädchen natürlich nun auch ''bessere Herrschaften'' oder auch, wenn sie sich verheiraten wollen, ''bessere Herren''. Ein Zeitungsverleger versichert, daß seine Zeitung ''in allen bessern Hotels und Cafés'' ausliege, und ein Geheimmittelfabrikant, daß sein Fabrikat ''in allen bessern Apotheken und Droguengeschäften'' „erhältlich" sei. Folglich ist ''gut'' jetzt besser als ''besser''.
''Eigenartig'', äußerst beliebt als Ersatz für das Fremdwort ''originell'' und zugleich für ''eigentümlich'', worunter man jetzt nur noch so viel wie ''wunderlich'' oder ''seltsam'' zu verstehen scheint. Oft auch bloßer Schwulst für ''eigen'': ''ein eigenartiger''//* Auszusprechen: ''ägenärtig''. Ich bedauere überhaupt, daß ich dieses Kapitel dem Leser nicht vorlesen kann.// ''Reiz, ein eigenartiger Zauber, eine eigenartige Weihe'' usw. Steht in voller Blüte.
''Einwandfrei''. Schöner neuer Ersatz für ''tadellos'' und zugleich für ''unanfechtbar'': ''gesunde, frische, einwandfreie Milch — ein sittlich einwandfreier Priester''. Daß man nur von Dingen frei sein kann, die einem auch anhaften können (vgl. ''fehlerfrei, fieberfrei''), daran wird gar nicht gedacht.
''Erheblich''. Altes Kanzleiwort, das man schon für tot und begraben gehalten hatte, das aber seit einiger Zeit wieder ausgegraben und nun, als Adjektiv wie als Adverb, zum Lieblingswort aller Juristen, Beamten und Zeitungschreiber geworden ist (für ''groß, wichtig, bedeutend, wesentlich''). Es gibt nichts mehr in der Welt, was nicht entweder ''erheblich'' oder ''unerheblich'' oder ''nicht unerheblich'' wäre: ''eine Wunde, ein Schadenfeuer, eine Gehaltsverbesserung, eine Verkehrs-'' $Seite 360$ ''stockung'', alles ist ''erheblich''. Ebenso heißt es auch vor Komparativen nicht mehr ''viel'', sondern immer ''erheblich'': ''erheblich besser, erheblich größer'' usw.
''Froh'' und viele Zusammensetzungen damit: ''arbeitsfroh, bildungsfroh, genußfroh, sangesfroh, kunstfroh, farbenfroh, fleischfroh'' (''der fleisch-frohe Rubens''!), ''wirklichkeitsfroh'', in der Kunstschreiberei jetzt äußerst beliebt. ''Ja ja, wir leben in einer kunstfrohen Zeit, in der es viele novitätenfrohe Kunstfreunde gibt.''
''Glatt''. Modewort von der mannigfachsten Bedeutung: ''leicht, schnell, sicher, offenbar'' usw.: ''der Verkehr wickelte sich glatt ab'' (!) — ''es steht zu hoffen, daß die Heilung der Wunde glatt erfolgen wird — es liegt ein ganz glatter Betrug vor'' — sogar: ''das liegt auf glatter Hand'' (statt: ''auf flacher''!).
''Großzügig''. Neues Glanzwort der Kunst- und Musikschwätzer. Wenn man sich früher bei einer Darstellung auf ''große Züge'' beschränkte, so wurde sie gewöhnlich oberflächlich. Was soll man sich also darunter
denken, wenn es jetzt heißt: ''G. verrät in seinen Porträtköpfen eine großzügige Eigenart — das Denkmal ist eine großzügige deutsche Tat, auf die Leipzig stolz sein kann — es fehlt dem Wahlkampf an einer großzügigen Bewegung — einen Zufall gibt es für diesen Standpunkt großzügiger Auffassung nicht — seiner großzügigen Persönlichkeit entsprechend hat Begas sein Lehramt ohne alle Pedanterie verwaltet''?
''Hochgradig''. Für ''hoch'' oder ''groß''; aus der Sprache der Ärzte: ''hochgradiges Fieber''. Dann auch ''hochgradige Erregung, hochgradige Erbitterung'' usw.
''Jugendlich''. Modeersatz für ''jung''. Hat mit der Thronbesteigung des jetzigen Kaisers angefangen. Den wagte man nicht ''jung'' zu nennen — wahrscheinlich hielt man das für eine Majestätsbeleidigung —, man sagte immer: ''unser jugendlicher Kaiser'', und genau so geht es jetzt schon wieder mit dem ''jugendlichen Kronprinzen'' an. Welch großer Unterschied zwischen ''jung'' und ''jugendlich'' ist, welch erfreuliche Erscheinung ein ''jugendlicher Greis'', welch klägliche ein ''junger Greis'' ist, dafür hat $Seite 361$ man gar kein Gefühl mehr, fort und fort redet man von ''jugendlichen Arbeitern, jugendlichen Verbrechern, jugendlichen Übeltätern, einer jugendlichen Sängerschar'', sogar ''jugendlichen, unter sechzehn Jahre alten Mädchen''!
''Minderwertig''. Feig verhüllender Ausdruck für ''schlecht, wertlos, unbrauchbar''. Irgend einen Menschen oder eine Sache ''schlecht'' zu nennen, hat man nicht mehr den Mut; man spricht nur noch von ''minderwertigem Fleisch, minderwertigen Kartoffeln, minderwertigen Existenzen'', sogar von ''minderwertigen Referendaren''. Daneben natürlich auch von ''vollwertigen, mittelwertigen, unterwertigen'' und ''gleichwertigen''.
''Offensichtlich''. Lieblingswort der Zeitungschreiber, zusammengebraut aus ''sichtlich'' und ''offenbar'': ''die offensichtliche Gefahr, offensichtliche Mängel, mit offensichtlichem Stolz'' usw.
''Schneidig''. Blühendes Modewort zur Bezeichnung der eigentümlichen Verbindung von äußerlicher Schniepelei und innerlicher Roheit, Fatzkentum und Landsknechtswesen, in der sich ein Teil unsrer jungen Männerwelt jetzt gefällt.
''Selbstlos''. Kühne Bildung. Eine Zeit lang sehr beliebt zur Bezeichnung des höchsten Grades von Uneigennützigkeit und Opferwilligkeit. Hat aber schon etwas abgewirtschaftet.
''Tunlich'' und ''angängig''. Lieblingswörter der Kanzleisprache für ''möglich''.
''Unerfindlich''. Für ''unbegreiflich'' oder ''unverständlich''. Verfehlt gebildet, da erfinden in dem Sinne, wie es in ''unerfindlich'' verstanden werden soll, ganz ungebräuchlich ist. Trotzdem eine Zeit lang sehr beliebt, jetzt stark im Rückgange.
''Ungezählt''. Beliebte neue Modedummheit für ''unzählig, zahllos'', ja sogar für ''zahlreich''. ''Eine ungezählte Menge drängte sich nach dem Unglücksplatz — ungezählte Deutsche feiern heute den Geburtstag des großen Kanzlers — der Roman erlebte ungezählte Auflagen''. Ob die Menge gezählt worden ist, $Seite 362$ darauf kommts doch gar nicht an, sondern ob sie gezählt werden konnte! Die Auflagen eines Buches aber werden wirklich gezählt.
''Verläßlich''. Modewort für ''zuverlässig''. Wunderliche Verirrung! ''Zuverlässig'' ist ein schönes, kräftiges Wort: wer ''zuverlässig'' ist, auf den kann man sich verlassen. Einem ''verläßlichen'' würde ich nicht über den Weg trauen; das Wort hat gleich so etwas widerwärtig weichliches.
''Vornehm''. Im Superlativ ausschließlicher Ersatz für alle Zusammensetzungen, die früher mit ''Haupt'' gebildet wurden. Für ''Hauptursache, Hauptbedingung, Hauptzweck, Hauptaufgabe'' heißt es jetzt nur noch: ''die vornehmste Ursache, die vornehmste Bedingung, der vornehmste Zweck, die vornehmste Aufgabe''. Je öfter man ''vornehm'' schreibt, desto ''vornehmer'' kommt man sich selber vor.
''Zielbewußt''. Von der sozialdemokratischen Presse erfunden und eine Zeit lang von ihr mit blutigem Ernst gebraucht. Heute nur noch mit Gänsefüßchen möglich: ''ein „zielbewußter" Autographensammler'' u. ähnl.
''Abstürzen''. Für ''herabstürzen'' oder ''hinabstürzen''; von den Alpenfexen eingeführt. In den Zeitungen stürzen aber schon nicht mehr bloß ''Bergkletterer'' ab, sondern auch ''Steinblöcke in Steinbrüchen, Turner vom Reck, Kinder vom Straßenbahnwagen'' usw. Man setze ''fallen'' für ''stürzen'', und man wird die Lächerlichkeit fühlen! Ab mit Zeitwörtern zusammengesetzt bedeutet ja gar nicht mehr die Richtung nach unten, sondern nur noch die Trennung, die Entfernung; vgl. ''abfallen, abgehen, abfahren, absenden, abspringen, abnehmen, abreißen, abhauen, abschneiden'' usw.
''Sich anfreunden an jemand'', statt: ''sich mit jemand befreunden''. Neubildung aus der Umgangssprache (vgl. ''sich anvettern, sich auschmieren''), dringt aber auch schon in die Schriftsprache ein, ohne daß man den niedrigen Nebensinn zu fühlen scheint: ''mit'' (!) ''ihm freundete sich Menzel an''.
''Anschneiden'' und ''aufrollen''. Eine Frage wird nicht mehr ''berührt, angeregt'' — das ist viel zu $Seite 363$ fein ―, sondern entweder wird sie ''angeschnitten'', wie eine Blutwurst, oder sie wird ''aufgerollt'', wie ein Treppenläufer oder eine Linoleumrolle. Das ist die Bildersprache der Gegenwart! Und wenn die Frage dann ''aufgerollt'' oder ''angeschnitten'' ist, dann kommt es darauf an, sich ein tüchtiges Stück abzuschneiden. Gelingt einem das, dann hat man ''gut abgeschnitten'', d. h. man ist ''gut dabei weggekommen'': ''wie wird Deutschland dabei abschneiden?''
''Ausgestalten''. Eine Methode wird nicht mehr ''ausgebildet'', sondern ''ausgestaltet''. ''Bilden'' gilt nichts mehr, wahrscheinlich infolge davon, daß die ''Bildung'' so wohlfeil geworden ist.
''Auslösen''. Aus der Mechanik, wo es soviel bedeutet, wie durch Beseitigung einer Hemmung irgend etwas in Bewegung oder Tätigkeit setzen: ''der Dichter will uns nicht seine Gedanken aufnötigen, sondern unsre eignen Gedanken auslösen — ein Wort, das gerade in diesem Zusammenhange ganz eigentümliche Empfindungen auslösen mußte — das Gelächter, das diese Behauptung auslöste — das Ende der Partei hat wenig Tränen, aber desto mehr Hohn ausgelöst — manche lyrische Gedichte Goethes lassen sich in der Musik nicht voll'' (!) ''auslösen — in den ersten Monaten seiner Universitätszeit löste sich'' (!) ''bei ihm eine kräftige Fuchsenstimmung aus''. Schön gesagt!
''Begrüßen''. Früher begrüßte man etwas ''freudig'' oder ''mit Freuden''. Jetzt wird alles nur noch ''begrüßt'': ''eine begrüßenswerte Neuerung''.
''Bekannt geben''. Für ''bekannt machen'', weil ''machen'' nicht mehr für fein gilt. Freilich wird ein bißchen viel ''gemacht'': ''ein Mädchen macht sich erst die Haare, dann macht sie die Betten, dann macht sie Feuer'' usw. ''Sonntags macht der Leipziger sogar nach Dresden''. Trotzdem ist ''bekannt geben'' eine Abgeschmacktheit so gut wie ''fertig stellen''.
''Sich beziffern''. Statt ''betragen, sich belaufen''. Aus der Statistik, die ja keine ''Zahlen'' mehr kennt, sondern nur noch ''Ziffern'' (obwohl sich ''Ziffer'' zu ''Zahl'' verhält, wie ''Buchstabe'' zu ''Laut''): ''Bevölkerungs-'' $Seite 364$ ''ziffer, Durchschnittsziffer, ich kann Ihnen noch einige Ziffern vorlegen — das Personal beziffert sich auf 100 Köpfe - der Verlust beziffert sich auf 30000 Mann'' usw.
''Darstellen''. Schauderhaft gespreizter Ersatz für ''bilden'' in dem Sinne von ''sein''. Schon ''bilden'' war überflüssige Ziererei, wenn man an seine eigentliche Bedeutung denkt. Nun vollends ''darstellen''! Und doch wird jetzt nur noch geschrieben: ''ein Staatspapier, wie es unsre Konsols bisher darstellten — der Jahresbericht, den die zweite Lieferung des Buches darstellt — das Geschwader stellt eine bedeutende Streitmacht dar — die Zusammenkünfte sollen ein kollegialisches Bindemittel darstellen — diese Bahn stellt den nächsten Landweg von Mitteleuropa nach Indien dar — diese Beschäftigung stellt keine ausreichende Tätigkeit dar — die Menschheit, die trotz aller Mängel doch nicht bloß eine Schar von armen Sündern darstellt — Bücherschätze, die ein herrliches Zeugnis für die Freigebigkeit früherer Jahrhunderte darstellen'' usw. Kann es einen alberneren Sprachschwulst geben?
''Einschätzen''. ''Angeschlagen, beurteilt, geschätzt'' wird nichts mehr, alles wird ''eingeschätzt'': ''ein Buch, das der Kritiker dieses Blattes hoch einschätzt — ein Parteifreund, der die ultramontane Gefahr minder hoch einschätzt — man muß sich selbst beobachten und studieren, um seine Fähigkeiten richtig einzuschätzen — sie nahm zu einem Mann ihre Zuflucht, dessen Charakter sie falsch einschätzte — auch die Einschätzung der künstlerischen Tätigkeit ist dem Wechsel der Zeiten unterworfen''. Warum denn ''ein''? ''Eingeschätzt'' wird man bei der Steuer, sonst nirgends. Dort hat das ein feinen guten Sinn, denn man wird durch die Schätzung in eine bestimmte Steuerklasse gesetzt, und daran hängt die Verpflichtung, eine bestimmte Steuer zu bezahlen. Hat man gar kein Gefühl mehr für die Bedeutung eines Wortes, daß man solchen Unsinn sagt, wie ''hohe Einschätzung der Kunst''?
''Einsetzen''. Seit ein bis zwei Jahren großartiges Modewort für ''anfangen'' und ''beginnen'', und zugleich $Seite 365$ eins der schlagendsten Beispiele von der Gedankenlosigkeit, mit der solche Wörter nachgeplärrt werden. Das Wort ist von den Musikschreibern in die Mode gebracht worden. In einer Fuge ''setzen die einzelnen Stimmen hintereinander ein'', jede Stimme nämlich in das, was die vorhergehende schon singt. Das hat guten Sinn; hier ist ''einsetzen'' dasselbe wie ''anfangen''. Aber die erste Stimme — ''setzt die auch ein''? Nein, die ''beginnt'' oder ''fängt an'', denn sie ist eben die erste. Und das ist nun der Blödsinn, und diesen Blödsinn haben die Musikschreiber selbst aufgebracht, daß ''einsetzen'' als Modewort ausschließlich für das wirkliche ''anfangen'' oder ''beginnen'' gebraucht wird. Bücher und Zeitungen wimmeln seit kurzem von Beispielen: ''die Untersuchungen über die Grenzen der Instrumentalmusik setzen erst nach Beethoven ein — Paul Krügers Memoiren setzen mit seiner Jugend ein — die Scheidung der Mundarten hat bereits im sechzehnten Jahrhundert eingesetzt — groß und vielversprechend setzt Klingers Schaffen ein — die aufbewahrten Schreiben von Freytags Hand setzen mit dem Jahre 1854 ein — der wirtschaftliche Niedergang setzte im Jahre 1901 ein — die heutige Verhandlung setzte mit einem Briefe Schmidts an Exner ein — im Frühjahr setzt regelmäßig eine stärkere Bautätigkeit ein — auch für die diesjährige Saison haben die Fabrikanten mit billigen Preisen eingesetzt — die Mode, bei Abendgesellschaften farbige Schuhe zu tragen, hat schon eingesetzt — hier hört der Historiker auf, und der Theolog setzt ein''. Das ist die Ernte von wenig Tagen!
''Entgegennehmen''. Spreizwort für ''annehmen''. Anfangs ''nahm bloß der Kaiser das Beglaubigungsschreiben des Botschafters eines auswärtigen Souveräns entgegen''. Jetzt werden auch ''Geldbeiträge für öffentliche Sammlungen, Blumenspenden für Begräbnisse, Anmeldungen neuer Schüler, Inserate für die nächste Nummer, Bestellungen auf das nächste Quartal'' nur noch ''entgegengenommen''. Sogar die ''Kürschnergesellen nehmen ihren Jahresbericht entgegen''.
''Erhellen''. Intransitiv, für ''hervorgehen, sich ergeben'': ''aus vorstehendem erhellt — aus dem'' $Seite 366$ ''Jahresbericht der Fabrikinspektoren erhellt — schon aus diesem flüchtigen Überblick dürfte die Bedeutung des Museums erhellen''. Vereinzelt schon im achtzehnten Jahrhundert so gebraucht, jetzt Modewort.
''Erübrigen'' und ''sich erübrigen''. Ein schlagendes Beispiel dafür, welche Verwirrung durch überflüssige und halbverstandne Neubildungen angerichtet werden kann. ''Erübrigen'' war bisher ein transitives Zeitwort und bedeutete so viel wie ''sparen, zurücklegen'': ''ich habe mir schon ein hübsches Sümmchen erübrigt''. Das hat man neuerdings angefangen intransitiv zu gebrauchen in dem Sinne von ''übrig bleiben'': ''es erübrigt noch, allen denen meinen Dank auszusprechen — es erübrigt nur noch, besonders darauf hinzuweisen'' usw. Andre aber, die das Wort wohl hatten klingen hören, aber nicht auf den Zusammenhang geachtet hatten, fingen gleichzeitig an, es in dem Sinne von ''überflüssig sein'' zu gebrauchen: ''auf die ganze Tagesordnung erübrigt es heute einzugehen — hier erübrigt jedes weitere Wort — es erübrigt für mich jede weitere Bemerkung — ein ausdrücklicher Verzicht erübrigt von selbst''. Noch andre endlich machten das Wort in der zweiten Anwendung zum Reflexiv und schrieben: ''die Ratschläge, deren Wiedergabe sich erübrigt — alle weitern Schritte erübrigen sich hierdurch — es erübrigt sich wohl, noch besonders darauf hinzuweisen — auf diese Kindereien einzugehen erübrigt sich — von der Kunst der Schlierseer nochmals zu reden erübrigt sich wohl''. In solchen Quatsch gerät man, wenn man vor lauter Modenarrheit zwei guten, deutlichen Ausdrücken wie ''übrig bleiben'' und ''überflüssig sein'' aus dem Wege geht.
''Erzielen''. Ausschließlicher Ersatz für ''erreichen''. ''Erreicht'' wird gar nichts mehr; ''Nutzen, Gewinn, Vorteil, Ergebnisse, Erfolge, Resultate'', alles wird ''erzielt''.
''Führen''. Für ''vorangehen, Bahn brechen''. ''Führende Geister — führende deutsche Chirurgen'' usw.
''Gestatten''. Feiner Ersatz für ''erlauben'', das ganz ins alte Eisen geworfen ist. Hat aber seine Laufbahn ziemlich rasch zurückgelegt. Auch der Handlanger sagt schon, ehe er einem auf die Füße tritt: ''Gestatten!'' so $Seite 367$ gut wie er schon die Zigarette vornehm nachlässig zwischen den Lippen hängen hat. Wo bleibt nun die Feinheit?
''Im Gefolge haben''. Modephrase für: ''zur Folge haben''. Früher hatte nur ein Fürst ''ein Gefolge''; jetzt heißt es: ''die Not hat Unzufriedenheit im Gefolge — Reformen, die die Schmälerung des Profits im Gefolge haben könnten — anarchistische Bestrebungen, die reaktionäre Maßregeln im Gefolge haben''.
''Rechnung tragen''. Beliebte Phrase des Kanzleistils; bequemer Ersatz für alle möglichen Zeitwörter, auf die man zu faul ist sich zu besinnen: ''wir sind bemüht, diesen Beschwerden Rechnung zu tragen'' (''abzuhelfen''!) — ''Ihrem Wunsche, den Gebrauch der Fremdwörter einzuschränken, werden wir gern Rechnung tragen'' (''ihn erfüllen''!) — ''es muß auch den später eintreffenden Einkäufern Rechnung getragen werden'' (''auf sie Rücksicht genommen''!) — ''dieser Auffassung haben wir auch Rechnung getragen'' (''sie betätigt''!) — ''wie wenig die Verwaltung diesem Grundsatz Rechnung getragen hat'' (''gefolgt ist'') usw.
''Schreiten, beschreiten, verschreiten''. Für ''gehen'' oder ''sich wenden''. ''Man schreitet'' oder noch lieber: ''man verschreitet zur Abstimmung, zur Veröffentlichung, zur Operation'', sogar ''zum Aufgießen des Tees''. Fürsten ''gehen'' nie, sie ''schreiten'' immer: ''der Kaiser schritt zunächst durch die Sammlung der Musikinstrumente''. Aber auch: ''die Maori schreiten unaufhaltsam ihrem Untergang entgegen'' — immer mit gehobnen und gestreckten Beinen, wie die Rekruten auf dem Drillplatze.
''Tragen''. Feierlicher Ersatz für ''bringen'': ''wir tragen dem Kaiser Liebe und Vertrauen entgegen''. Daß man einem etwas nur ''in den Händen'' oder ''auf dem Präsentierteller entgegentragen kann'', in seinem Innern aber nur ''entgegenbringen'', wird ganz vergessen. Ganz besonders aber ist ''getragen sein'' jetzt beliebtes Spreizwort für ''erfüllt sein'': ''von künstlerischer Überzeugung getragen — von patriotischer Wärme getragen — von religiöser Gläubigkeit getragen — von wissenschaftlichem Ernst getragen — von düsterm Pessimismus getragen — eine von hoher Begeisterung'' $Seite 368$ ''getragene Rede — eine von froher Geselligkeit getragene Veranstaltung — die geräuschlose, von warmer Fürsorge für die Jugend getragene Arbeit — die Tendenz der Schrift ist von hohen Idealen getragen — der Kommers nahm einen von echt studentischem Geiste getragenen Verlauf'' usw. Man muß immer an einen Luftballon denken.
''Treten''. Ebenso beliebt wie ''schreiten''. ''Einer Frage wird näher getreten, das Ministerium ist zu einer Beratung zusammengetreten'', und besonders gern wird in etwas ''eingetreten'': ''Arbeiter treten in einen Streik, sogar in einen Ausstand ein, eine Versammlung tritt in eine Verhandlung ein, der Reichskanzler ist in ernstliche Erwägungen eingetreten'', und Gelehrte schreiben: ''ich will auf dieses Gebiet hier nicht näher eintreten — ich mag hier nicht in den Streit über die Bedeutung Hamerlings eintreten''. Das schönste aber ist: ''in die Erscheinung treten'' (statt ''erscheinen'' oder ''zur Erscheinung kommen''): ''es ist bei dieser Gelegenheit scharf'' (!) ''in die Erscheinung getreten'' (''es hat sich deutlich gezeigt'') — ''dabei tritt das Gesetz in die Erscheinung'' (''dabei kann man beobachten'') — ''es zeigten sich Krankheitssymptome, die immer intensiver in die Erscheinung traten — der Zustand der Herzschwäche trat vermindert in die Erscheinung — es handelt sich um eine Krankheit des modernen Lebens, die hier in besonders krasser Weise in die Erscheinung tritt — Unregelmäßigkeiten treten um so mehr in die Erscheinung, je kleiner das Beobachtungsfeld ist — wie gering sind die Aussichten, daß ein Kunstwerk in der Seele des Lesers rein in die Erscheinung tritt — der neue Spielplan wird zu Neujahr in die Erscheinung treten''. Wie vornehm glauben sich die Leute mit diesem ewigen ''Getrete'' auszudrücken, und — wie albern ist es!
''Vertrauen''. Mit nachfolgendem Objektsatz (!), statt ''glauben, hoffen, überzeugt sein'': ''das Ministerium vertraut, daß der eingerissene Mißbrauch bald wieder abgestellt sein wird — die Leser können vertrauen, daß wir bei der Feststellung des Textes die größte Vorsicht haben walten lassen''.
$Seite 369$ ''Vorbestrafen''. Lieblingswort aller Polizeireporter und aller Berichterstatter über Gerichtsverhandlungen: ''ein schon zehnmal vorbestrafter Kellner — ein schon fünfzehnmal vorbestrafter Riemergeselle — ein schon vielfach, sogar mit Zuchthaus, vorbestraftes Subjekt''. Als ob nicht ''bestraft'' genügte! Müssen denn nicht, wenn einer „schon" oft bestraft worden ist, diese Strafen vor der liegen, die ihn jetzt erwartet? Der Unsinn ist aber nicht auszurotten. Vielleicht schreibt man nächstens auch noch: ''eine bisher noch unvorbestrafte Verkäuferin''.
''Voraufgehen''. Zier- und Spreizwort für ''vorhergehen'' oder ''vorausgehen'': ''die der deutschen Gewerbeordnung voraufgegangne preußische Gewerbeordnung''.
''Vorsehen'' als transitives Zeitwort: ''etwas vorsehen''. Binnen wenigen Jahren mit ungeheurer Schnelligkeit in der Kanzleisprache verbreitet, für denkfaule Leute wieder ein bequemer Ersatz für alle möglichen Zeitwörter. Auf dem Gymnasium wird man im lateinischen Unterricht ermahnt, ''providere'' ja nicht mit ''vorsehen'' zu übersetzen, es sei das ein gemeiner Latinismus; gut übersetzt heiße es: ''für etwas sorgen, Fürsorge'' oder ''Vorsorge treffen, etwas vorbereiten''. Dieser „gemeine Latinismus" ist der neueste Stolz der Kanzleisprache: ''Sache der Übungsbücher ist es, eine geordnete Folge von Übungen vorzusehen — zur Erhöhung der Beamtengehalte sind für das Jahr 1904 keine Mittel vorgesehen — die Erstaufführung'' (!) ''ist für die Saison 1903 am Leipziger Stadttheater vorgesehen — als Verbindung zwischen beiden Straßen ist eine Allee vorgesehen — für den Speisesaal ist Rokoko vorgesehen — die zu einer Ferienreise vorgesehenen Ersparnisse der Schulkinder — das Richtfest der hiesigen Kirche ist auf Sonnabend den 5. November vorgesehen — für den Besuch Sr. Majestät in der Handelsschule ist folgendes Programm vorgesehen — unter den Festlichkeiten ist auch ein Fackelzug vorgesehen — für schlechtes Wetter sind Paletots vorgesehen''. Also ''sorgen, beabsichtigen, an etwas denken, planen'', $Seite 370$ ''bestimmen, festsetzen'' — alles wird mit diesem aus reiner Dummheit dem Lateinischen nachgeäfften ''vorsehen'' ausgedrückt!
''In die Wege leiten''. Herrliche neue Modephrase der Amts- und Zeitungssprache für — ja, wofür? Eigentlich für gar nichts. Anstatt einfach zu sagen: ''es wurde eine starke Seemacht geschaffen — er hat mancherlei Technisches unternommen — die Veranstaltung wird schon jetzt vorbereitet'' — heißt es: ''die Schaffung einer starken Seemacht wurde in die Wege geleitet — er hat mancherlei technische Unternehmungen in die Wege geleitet — die Vorbereitungen zu der Veranstaltung werden bereits jetzt in die Wege geleitet''.
''Werten'' und ''bewerten''. Beliebte neue Spreizwörter für ''schätzen'': ''diese Funde werden natürlich von der Wissenschaft zunächst um ihrer selbst willen gewertet werden''. Sogar: ''der Gewinn, der aus dieser Veröffentlichung hervorgehen wird, bewertet sich hoch''. Greulicher Schwulst! (Vgl. ''einschätzen''.)
''Zerfallen'' (''in''). Modewort für ''bestehen'' (''aus''): ''das deutsche Heer zerfällt in zwanzig Korps, die Mathematik zerfällt in Arithmetik und Geometrie, Luthers Katechismus zerfällt in fünf Hauptstücke, eine Predigt zerfällt in drei Teile, eine Giebelgruppe zerfällt in zwei Hälften, sogar eine Blume zerfällt in Wurzel, Stengel und Blüte''.
''Zubilligen''. Für ''bewilligen'' oder ''zugestehen'': ''den Arbeitern wurde eine Unterredung zugebilligt — jeder höhern Lehranstalt sind für Bibliothekzwecke jährlich tausend Mark zugebilligt — die Hinterbliebenen haben mir das Recht der Veröffentlichung zugebilligt''.
''Zukommen, auf etwas''. Beliebtes ganz neues Ersatzwort des sächsischen Kanzleistils für alles mögliche, für ''an etwas denken, etwas ins Auge fassen, etwas beschließen, sich zu etwas entschließen, sich auf etwas einlassen''; ''wenn man auf die Ausführung dieses Gedankens zukommen wollte, so wäre jetzt der geeignete Augenblick — es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß auf einen Aufbau der Türme zuzukommen sei''.
$Seite 371$ ''Bislang''. Für ''bisher''. Provinzialismus aus Hannover, nach 1866 stark verbreitet, heute ziemlich vergessen.
''Da und dort''. Modeverbindung für ''hie und da'': ''unter den technischen Schwierigkeiten klingt doch da und dort ein tieferer musikalischer Sinn heraus''.
''Erstmals''. Neues Spreizwort für ''zuerst'' oder ''zum erstenmal'': ''eine Fülle von Material ist in diesem Buche erstmals erschlossen''. (Vgl. ''erstmalig'' S. 389.)
''Hoch''. Einzig gebräuchliches Adverb zur Begriffssteigerung folgender Adjektiva: ''fein, elegant, modern, herrschaftlich, gebildet, gelehrt, verdient, bedeutend, bedeutsam, wichtig, ernst, feierlich, tragisch, komisch, romantisch, poetisch, interessant, erfreulich, befriedigend, willkommen, achtbar, adlig, konservativ, kirchlich, offiziell''. Das wird genügen.
''Indessen''. Beliebtes Spreizwort für ''aber, doch, jedoch'': ''bei näherer Prüfung indessen stellt sich R. als interessante Persönlichkeit dar — heute wurden hier starke Erdstöße verspürt, die indessen keinen Schaden anrichteten''.
''In erster Linie''. Anstatt: ''vor allem''. Sehr beliebt.
''Nahezu''. Modewort für ''fast'' oder ''beinahe''.
''Naturgemäß''. Aus Berlin (''naturjemäß''). Hat sich mit lächerlicher Schnelligkeit an die Stelle von ''natürlich'' (d. h. ''selbstverständlich'') gedrängt, sodaß man sich, wenn es einmal in seiner wirklichen Bedeutung erscheint (''die soziale Bewegung ist naturgemäß erwachsen''), erst förmlich besinnen muß, daß es ja diese Bedeutung auch noch haben kann. Sonst heißt es nur noch: ''wir beginnen naturgemäß mit den preisgekrönten Entwürfen — naturgemäß ist die Studentenzeit zum Lernen bestimmt — die Wiedergabe durch Lichtdruck läßt naturgemäß manches unklar — die Sorge beginnt naturgemäß gleich bei der Aufnahme der Lehrlinge — naturgemäß konnte die Stadtbahn nicht durch den glänzendsten Teil der Hauptstadt gelegt werden — die Unbilligkeit verstärkt sich naturgemäß mit jedem Jahre'' usw. Man redet aber auch schon von einer ''vernunftgemäßen'' (!) ''Auswahl der Schreibfeder'', statt von einer ''vernünftigen''.
$Seite 372$ ''Rund''. Dem Englischen nachgeäfft. Wird jetzt vor alle Zahlen gesetzt, die, wie stets der Zusammenhang zeigt, selbstverständlich nur runde Zahlen sein können und sollen: ''der Kandidat der Ordnungsparteien erhielt rund 3200 Stimmen gegen rund 360 Stimmen der Sozialdemokraten — der Ertrag der Sammlung bezifferte'' (!) ''sich auf rund 5000 Mark''. Ohne ''rund'' bekommt man eine Zahl mit Nullen am Ende kaum mehr zu sehen.
''Selbstredend''. Für ''selbstverständlich''. Lieblingswort der Wein- und Zigarrenreisenden, Ladendiener, Friseure und Kellner. In andre Kreise hat es wohl niemals Eingang gefunden. Muß übrigens, wenn es wirken soll, falsch betont werden: ''selbstrédend'' (wie ''tatsächlich, wunderbár, ekelháft, tadellós'').
''Selten''. Sehr beliebtes Adverb zur Steigerung von Eigenschaftswörtern (in dem Sinne von: ''in seltnem Grade''), z. B.: ''ein Mädchen von selten gutem Charakter — eine selten günstige Kapitalanlage — das Publikum verhielt sich selten kühl — dieser Weizen gedeiht auf leichtem Boden und liefert selten hohe Erträge — die Inhaber dieser Bauernhöfe sind selten fleißige und tüchtige Wirte'' usw. Nur schade, daß ''selten'' eben vor allen Dingen ''selten'' bedeutet, und nicht ''in seltenem Grade'', und daß infolgedessen stets das Gegenteil von dem herauskommt, was die Leute sagen wollen. Darüber ist denn auch schon viel gespottet worden, soviel, daß endlich doch dem Harmlosesten ein Licht aufgehen müßte.//* Der neueste Aufputz von Adjektiven ist ''bekannt'' und ''allbekannt'': der Schnittwarenhändler preist seine Stoffe ''in bekannt vorzüglichen Qualitäten'', der Kleiderhändler seine Jacken ''in bekannt guten Paßformen'' (!) ''an'', und Vereine für Fremdenverkehr rühmen die ''bekannt oder allbekannt gesunde Lage ihrer Städte''.//
''Unentwegt''. Lächerlicher schweizerischer Provinzialismus, für ''fest, beharrlich''. Hat seine Rolle ziemlich ausgespielt.
''Vielmehr''. Ausschließlicher Ersatz für ''sondern'': ''diese Preisbewegung ist nicht bloß dem Getreide eigentümlich, sie stimmt vielmehr mit den übrigen Ackerbauerzeugnissen überein — der Leser wird nicht mit einem'' $Seite 373$ ''Ballast von Erläuterungen überschüttet, vielmehr halten die Anmerkungen das rechte Maß ein''.
''Voll und ganz''. Modephrase ersten Ranges, die aber ihren Weg wohl bald „voll und ganz" zurückgelegt haben wird.//* Die früheste Anwendung von ''voll und ganz'', freilich in gehaltvollerm Sinne als in Parlaments- und Festreden, wiewohl auch schon ein wenig als Lückenbüßer, steht in Tiecks Übersetzung von Shakespeares Antonius und Kleopatra (I, 3):
''Der Zeiten strenger Zwang heischt unsern Dienst''
''Für eine Weile: meines Herzens Summe''
''Bleibt dein hier voll und ganz''.
(''The strong necessity of time commands''
''Our services a while; but my full heart''
''Remains in use with you''.)
Dingelstedt gebraucht es 1851 in seinem Gedicht „Christnacht," worin er den Heiland des Jahrhunderts herbeiwünscht, aber nicht als Kind,
''Nein, groß und fertig, voll und ganz''
''Entsteig’ er unsern Dämmerungen'' —
schon ironisch. In einer Erinnerung an Gottfried Keller (Berliner Tageblatt vom 13. April 1891) wird erzählt, ''Keller habe, als in der Unterhaltung mit ihm jemand voll und ganz gebraucht habe, ausgerufen: „Voll und ganz!'' Hm hm! Da sieht man, was ihr für Patrone seid! Phrase, nichts als Phrase! ''Voll und ganz'' ist das charakterloseste Wort, das es gibt, trotz seiner Fülle!"// Sehr beliebt ist es jetzt, ''voll'' allein zu gebrauchen (für ''ganz oder vollständig''): ''dieser Auffassung kann ich voll beipflichten — überall deckt der Ausdruck voll den Gedanken — um die Tiefe seiner Auffassung voll zu würdigen — Künstler, die diese Bedingung voll erfüllen können — die deutschen Gemälde hielten den Vergleich mit den französischen voll aus'' usw. Auch Zusammensetzungen mit ''Voll'' als Bestimmungswort schießen wie Pilze aus der Erde: ''Vollbild, Vollmilch, Vollgymnasium'', sogar ''vollinhaltlich'': ''ich kann das vollinhaltlich bestätigen — er lebte das Leben der Gefangnen vollinhaltlich mit''.
''Vorab'' und ''vornehmlich''. Beide gleich beliebter Ersatz für ''besonders, namentlich'' und ''hauptsächlich''. ''Das sechzehnte, vorab das siebzehnte Jahrhundert — Briefe Wielands, vornehmlich an Sophie La Roche''. (Vgl. ''vornehm'' S. 362.)
''Weitaus''. Modezusatz zum Superlativ: ''weitaus der beste — in weitaus den meisten Fällen''.
$Seite 374$ Außer solchen allgemein gebräuchlichen Modewörtern und Modephrasen gibt es aber noch eine Masse andrer, die auf einzelne Kreise beschränkt sind. In der Sprache der Geschäftsleute, der Zeitungschreiber, wohin man blickt: Mode, nichts als Mode. Kaufleute reden nicht mehr von ''Preisen'', sondern nur noch von ''Preislagen'', an die Stelle der frühern ''Sorten'' sind ''die Qualitäten, die Marken'' und ''die Genres'' getreten. Vor etlichen Jahren fiel es einem Schneider in Leipzig ein, über seine Ladentür statt ''Schneidermeister'' zu schreiben: ''Herrenmoden''. Das war natürlich fürchterlicher Unsinn, denn ein Schneider ist keine Mode und fertigt auch keine Moden, sondern Kleider. Als das aber die andern Schneider gesehen hatten, da kam für die Fimenschreiber gute Zeit. Sämtliche Schneider ließen ihre Schilder ändern, und heute gibt es in ganz Leipzig keinen ''Schneidermeister'' mehr. Der kleinste Flickschneider im Hinterhause vier Treppen hoch hat vorn an der Haustür sein Schildchen prangen: ''Wilhelm Benedix, Herrenmoden''! Vor etlichen Jahren fiel es auch einmal einem Bierwirt in Leipzig ein, von einem Militärkonzert anzukündigen, daß es ''unter persönlicher Leitung des Herrn Musikdirektors X'' stattfinden würde — als ob in andre Wirtschaften der Herr Musikdirektor seinen Stiefelputzer schickte. Große Aufregung unter den Bierwirten! Binnen vier Wochen fanden alle Konzerte ''unter persönlicher Leitung'' statt. Aus nichts als Modewörtern und Modephrasen ist die Sprache der Reporter zusammengesetzt. Da ist eine Gesellschaft stets ''illustre'' (wenigstens in Leipzig), ein Kapellmeister stets ''genial'', ein Geschenk stets ''sinnig'', Orgelspiel stets ''weihevoll''. Wird irgendwo ein Vortrag gehalten, so wird er von ''musikalischen und gesanglichen Darbietungen umrahmt'': von einer Festlichkeit wird stets versichert, sie habe einen ''würdigen'' (!) ''Verlauf'' genommen. Ein Revolverschuß wird stets ''abgegeben'', eine Kugel schießt man sich niemals zum Vergnügen, sondern immer ''in selbstmörderischer Absicht'' in den Kopf, und Lorbeerkränze werden stets irgendwo ''niedergelegt''. Leichen von Verunglückten werden ''geborgen'', und wenn sie im $Seite 375$ Wasser gelegen haben, so werden sie ''geländet''; wird aber einer glücklich noch lebend aus dem Wasser gezogen, so wird er ''dem nassen Element entrissen''. Kommt ein Fürst zu Besuch, so steigt er nicht aus dem Wagen, sondern er ''entsteigt dem Waggon und schreitet dann'', und zwar stets ''elastischen Schrittes, die Front der Ehrenkompagnie ab''. Man begreift nicht, warum nicht die Zeitungen für gewisse besonders oft wiederkehrende wichtige Ereignisse, wie die Ankunft eines Fürsten, die Eröffnung einer Ausstellung, die Enthüllung eines Denkmals, das Jubiläum eines Geschäfts, das Begräbnis eines Kommerzienrats und dergleichen, für ihre Berichterstatter Formulare drucken lassen, worin sie dann bloß Tag, Stunde und Namen auszufüllen hätten.
Eine feine Nase für Modewörter hat gewöhnlich der Student. Die Studentensprache wimmelt von Modewörtern; sowie ein neues aufkommt, wird es ihr sofort „einverleibt." Aber der Student spricht sie fast alle mit Gänsefüßchen, er macht sich lustig über sie, während er sie gebraucht. Die Sache hat nur nicht bloß eine lustige, sie hat auch eine sehr ernste Seite. Wenn die Zahl der Modewörter zunimmt, so ist das immer ein Zeichen, daß das Denken abnimmt. Die Modewörter sind das wert- und gehaltloseste Sprachgut, das es gibt; sie sind die messingnen Zahlpfennige der Sprache. Wer sie mitgebraucht, verrät sich stets als geistesarmen Menschen.
In vielen andern Fällen ein abweichendes Geschlecht einzuschwärzen, können die Mundarten verleiten, mögen sie nun bloß aus Eigenart ein anderes als die Schriftsprache belieben oder, wie überaus oft, das ältere bewahrt haben. Als Österreicher, Schweizer und Süddeutsche verraten sich Schriftsteller in Maskulinformen wie ''der'' (statt ''die'') ''Asche'', ''der'' (statt ''die'') ''Butter, Gatter, Hummel, Schwalb, Zeug'' und ''Zwiebel'', und in Neutren wie ''das Armbrust, Teller, das Stapel'' (Trentini) und dem selbst bei Fr. Th. Vischer stehenden ''das Bleistift''; auch ''der Bank'' ist trotz Hebels Vorgange und d''er Barbe, das Halfter'' trotz dem Auerbachs in der Schriftsprache noch nicht eingebürgert. Ebenso darf sich der Niederdeutsche nicht, wie z. B. Boyen, wenn er ''das Kahn'' schreibt, in der Schriftsprache die Hinneigung zum Neutrum übermannen lassen, aus der er daheim sagt: ''das Koffer, Schachtel, Schüssel, Spiegel, Talg'' u. a., und gleich ungerechtfertigt sagt er auch ''der'' (''Hals-, Arm-, Uhr-'') ''Band'' und ''der'' (''Hals-, Taschen-'') ''Tuch''. Die östlichen Mitteldeutschen, Lausitzer und Schlesier, neigen wieder dazu, zu schreiben: ''das Altar'' (statt ''der''), ''das Bast, die Brocke'' (statt ''der Brocke[n]''), ''die Dunst, das Dotter'' und Thüringer ''die Dotter'' (statt ''der Dotter''), ''das Kloß, das Klotz, die Mittwoch, der'' (statt ''das'') ''Schme(e)r''. Auch das westliche Mitteldeutschland will sich ''das Mandel'' und ''die Rabe'' nicht nehmen lassen; und auch sonst tauchen bald hier, bald da aus der Mundart auf ''das'' (statt ''der'') ''Alaun, die'' (statt ''der'') ''Aufruhr, das'' (statt ''der'') ''Block'' besonders im Geschäftsleben für verschiedene allerneuste Vorrichtungen zu bequemen vorübergehenden Aufzeichnungen, ''die Rahme'' (statt ''der Rahmen''), ''der'' (statt ''die'') ''Deichsel'' und ''der'' (statt ''das'') ''Wams, das'' (statt ''der'') ''Bratrost''.
Bei einigen Wörtern ist neben dem Geschlecht auch die Form ein wenig verschieden, so bei den folgenden, deren erste Form zugleich die freilich oft kaum merklich feinere und höhere ist: ''der Mennig'' und ''die Mennige, der Quast'' und ''die Quaste, der Pfirsich'' (Mehrzahl: ''Pfirsiche'') und ''die Pfirsiche'' (Mehrzahl: ''Pfirsichen''), ''der Ritz'' und ''die Ritze'', ''der Spalt'' und $Seite39$$ ''die Spalte, die'' und in der Mathematik ausschließlich und von da aus allmählich überwiegend ''der Scheitel''.
Die Entscheidung nur für das eine Geschlecht ist wenigstens für die Schriftsprache erfolgt bei der folgenden zweiten Reihe: ''das Bündel''//1 Trotz Scheffels Form im Trompeter: ''den Reisebündel''.//, ''der Docht, der Garaus, der Lack'' (auch ''der Gummi-, Siegellack'' in Ausschreiben von Behörden), obwohl sich da von der niederländischen Heimat her das Neutrum noch zäher behauptet, ''der Käfig, die Klafter, die Pflugschar, der Schreck(en), das Rückgrat, der Sparren'', auch gewöhnlich ''kein Hehl'', selten ''keinen Hehl'' aus etwas machen.
Der gemischten Biegung, also Gruppe VI, gehört heute durchaus an ''das Bett'', so daß einen bei dem Mähren Proskowetz (Vom Newastrand bis Samarkand) ''die trokkenen Flußbette'' nicht minder wundernehmen als die einfache Form ''die Bette'' heute bei Grimm. Ebenso herrscht neben der Mehrzahl ''die Nerven'' heute durchaus die Einzahl ''der, den Nerv, des Nerv(e)s, dem Nerv(e)''; auch ''die Forsten'' ist häufiger als ''die Forste''//1 ''Forsten'' ist mehrfach bei Sanders belegt und von den Mitarbeitern an Meyers wie Brockhaus' Konv.-Lex. gebraucht.//.
Umgekehrt ist der ursprünglich durchaus starken und männlichen Form ''der Muskel'' (''des Muskels'') nicht mehr nur im gemeinen Leben, sondern auch im Schrifttum das Femininum ''die Muskel'' und von daher die nur schwache Mehrzahl ''Muskeln'' beigesellt worden. Gegenüber der süddeutschen männlichen Form: ''der Kartoffel'', Mehrzahl: ''die Kartoffel'', ist durchaus die weibliche Form: ''die Kartoffel'', Mehrzahl: ''die Kartoffeln'' herrschend geworden. Überhaupt bedroht dieser schwache Plural besonders die Wörter auf ''-er'' und ''-el'', sodaß z. B. neben den Formen ohne ''n'' auch ''die Stiefeln, Pantoffeln, Ziegeln'', diese erleichtert durch das Femininum ''die Ziegel'' neben ''der Ziegel, die Trümmern''//2 Wenn auch die Form auf einem Femininum ''die Trümmer'' beruht, das irrtümlich aus dem zum Maskulinum ''der Trumm'' gehörigen Plur. ''die Trümmer'' angesetzt wurde.// und auch ''Flittern'' als untadelig gelten müssen. Bei ''Möbel'' dagegen ist die Mehrzahl ''Möbeln'' bereits stark im Rückgange, und ''die Fenstern, Leuchtern, Messern, Schiefern'' gehören noch bloß der Mundart, besonders der Sachsen an der oberen Elbe und ''die Kipferln'' nur dem Bairisch-Österreichischen an. — Über die Biegung der Gewichte und Maßzahlbestimmungen vgl. § 160, 3. +
Unsere der Sprachgeschichte Rechnung tragenden Aufstellungen mag noch die Betrachtung einiger Stellen bei Schriftstellern als stichhaltig und ausreichend erweisen. Unter den Klassikern ist es Goethe, aus dessen besten Prosawerken sie schon fast alle hätten gewonnen werden können; und auch bei Schiller sind die Schwankungen im Gebrauch nur noch gering. Noch vollständiger zeigt G. Keller, von der oben erwähnten berechtigten Freiheit abgesehn, in der Anwendung der beiden Konjunktivreihen ganz die Festigkeit und Natürlichkeit, die wir durch unsre Regeln zu sichern suchen, weil sie in einer frei beweglichen und doch sauberen Sprache gesichert sein müssen. Auf feiner Abtönung des Gedankens beruht denn der Wechsel: ''Marianne wollte nicht Wort haben, daß sie ihn so lange nicht bemerkt hätte'' — hierin zittert eine Erregung nach, die sich wörtlich etwa so Luft gemacht haben würde: ''Ich hätte dich solange nicht bemerkt?'' — ''sie behauptete, daß er ihr damals vor allen andern gefallen und daß sie seine Bekanntschaft gewünscht habe'' (einfache Mitteilung einer subjektiven Behauptung). Oder wenn bei Eltze steht: ''Wir dachten, es müsse sich eine Stimme erheben, sei es von den Männern im Amte oder von der Opposition, die uns zuriefe'', so klingt in der letzten Form ein Wunsch an, für den keine Erfüllung abzusehn gewesen ist. In dem Satze der Köln. Ztg.: ''man bemüht sich die Ansicht zu verbreiten, daß der Ausbruch eines Krieges zwischen Griechenland und der Türkei der deutschen Politik im Grunde gar nicht unangenehm wäre und daß deswegen der mächtige Einfluß des Grafen Hatzfeld nicht voll eingelegt worden sei'', genügt der Konjunktiv der Gegenwart für den letzten Satz vollauf, um einen Gedanken dritter schlechthin und unbedingt, natürlich mit dem Zeichen der Abhängigkeit auszusprechen, während den Worten $Seite 369$ angenehm wäre in Abhängigkeit derselbe bedingte//1 Daß für die bedingten und die unbedingten Aussagen auch in den abhängigen Sätzen eine verschiedene Form gewonnen ist, bedeutet jedenfalls ein Hauptziel und das fühlbarste Ergebnis der allmählichen Grenzregulierung auf dem Gebiete des Konjunktivs. über unberechtigtes würde in der abhängigen Rede vgl. S. 372, Anm. 1.// Sinn innewohnt, den sie auch unabhängig hätten: ''„nämlich wenn er wirklich erfolgen sollte“''. Lehrreich ist auch der Satz G. Kellers: ''Er bedachte, wie nahe die Gefahr bestanden habe'' (subjektive Vorstellung einer ehemals möglichen Gefahr), ''daß ein andrer als sein Vater die Mama bekommen hätte'' (schon direkt: ''Wenn nun aber ein anderer die Mama bekommen hätte''!) ''und was aus ihm, dem Sohne, geworden wäre'' (Nachsatz einer Bedingungsperiode der Nichtwirklichkeit).
Zum Schluß ein längerer Abschnitt aus demselben neueren Meister als Muster einer streng durchgeführten abhängigen Rede: ''Jetzt öffnete Regine auf einmal ihr Herz: sie habe sich auf diesen Tag gefreut, um sich von Erwin satt sprechen zu können. Die andern Frauen sprächen'' (Ersatz für das undeutliche: ''sprechen'') ''nie von ihren Männern, und auch von dem ihrigen, nämlich Erwin, täten'' (wieder Ersatz) ''sie es nur, um alles Mögliche auszufragen oder die Neugierde nach Dingen zu befriedigen, die sie nichts angingen'' (Ersatz). ''Da schweige sie lieber auch; mit mir aber, der ich ein guter Freund sei, wolle sie nur reden, was sie freue. Sie fing also an zu plaudern, wie sie auf seine baldige Ankunft hoffe, wie gut und lieb er sei, auch in den Briefen, die er schreibe, was er für Eigentümlichkeiten habe, von denen sie nicht wisse, ob sie andre gebildete oder reiche Männer auch besitzen'' (vgl. § 371), ''die sie aber nicht um die Welt hingeben möchte'' (Ausdruck der Erregung, der schon unabhängig stünde: ''ich möchte sie nicht hingeben''!); ''ob ich viel von ihm wisse aus der Zeit, ehe sie ihn gekannt? ob ich nicht glaube'' (vgl. S. 367), ''daß er glücklicher gewesen sei als jetzt''. Außer Keller folgen demselben Gesetz durchaus z. B. Storm, C. F. Meyer, Riehl, W. Raabe.
