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W
Gemäß seiner Kraft, teils nach der Einheit, teils nach der Bestimmtheit hin zu individualisieren, sind der Artikel und nach seinem Beispiele auch andere ihn vertretende Formwörter, auch die Präpositionen, strenggenommen zu wiederholen, wenn mehrere gleich geordnete Wörter auch sachlich Verschiedenes bezeichnen, und noch entschiedener wegzulassen, wenn sie nur verschiedene Bezeichnungen für ein und dasselbe Wesen sind. Also ist zu sagen: ''Die Schuld trifft allein den Pfarrer und Ortsschulinpektor N''., wenn beide Ämter in einer Person vereinigt sind; aber es ist falsch, wenn es in einer Zeitung geheißen hat: ''von der Königin von Großbritannien und der Kaiserin von Indien'', da beide Titel einer Person anhaften. Ebensowenig darf der Artikel und die Präposition vor einem zweiten Eigenschaftsworte wiederholt werden, wenn zwei (oder mehr) Eigenschaften als dem nämlichen Wesen anhaftend gedach sind: ''das war ein bedeutsamer und ausschlaggebender Erfolg; schöne Frauen, welche die Welt nur in Himmelblau und Rosa zu sehen gewohnt sind''. Nur wenn es gilt, die Verschiedenheit der Individuen oder Gegensätze auszudrücken, ist die Wiederholung am Platze: ''Leider muß der Deutsche Berlin und München einander noch als die politische und die künstlerische Hauptstadt des Reiches gegenüberstellen'', aber falsch ist es, zumal nach solch artikellosen Eigenschaftswörtern das abschließende Hauptwort in der Mehrzahl folgen zu lassen: ''die Erlernung der französischen, englischen und italienischen Sprachen''. So könnte auf dem Schuster-Régnierschen Wörterbuche stehen: ''Wörterbuch der deutschen und der französischen'' statt bloß ''der deutschen und französischen Sprache'', und ein Berichterstatter über die Eröffnung der Rovignoer Station des Berliner Aquariums hätte auch sagen können: ''In den Becken und'' (''in'') ''den Gläsern sah man'', aber gewiß nicht gefälliger, als er wirklich gesagt hat: ''in den Becken und Gläsern''. Solche Kürze ist aber nur zulässig, solange die Weglassung der Formwörter keine Zweideutigkeit verschuldet, weil sich hier mit dem Hange zur Bequemlichkeit die berechtigte Abneigung aller nicht pedantischen Bildner und Handhaber der Sprache gegen die Schwerfälligkeit und den unschönen Klang gehäufter Artikelformen verbindet; ja wenn ein Adjektiv und Artikel vor dem Hauptwort steht, verbietet die Rücksicht auf die Schönheit die Wiederholung förmlich: ''manche Gewerbtreibende, ein kleiner Schlosser'' oder ''Tischler'' z. B. Nur in Gegensätzen, bei strenger $Seite 135$ Zweiteilung, wie sie z. B. ''nicht-nur, sondern-auch, sowohl-als auch'' ausdrücken, auch nach ''zwischen'', überhaupt wenn es wichtig ist, die Verschiedenheit zu betonen, empfiehlt sich die Wiederholung. So hätte ein Germanist lieber schreiben sollen: ''man unterscheide zwischen der harten und der weichen'' (statt ''und weichen'') ''Spirans''; ebenso hätte in dem folgenden Satze der Täglichen Rundschau das eingeklammerte (''die'') nicht fehlen sollen: ''über die verschiedene Art und Weise, wie die Garnison und'' [''die''] ''bürgerliche Bevölkerung von Belfort von der hoffnungslosen Lage Kenntnis erhielten''. Gewissenhaft schreibt Koser: ''Er hat geduldig gewartet, ehe er zwischen den dickköpfigsten'' (''den Engländern'') ''und den ehrgeizigsten Leuten von Europa'' (''den Franzosen'') ''seine Wahl traf''; ebenso Langbehn in „Rembrandt als Erzieher": ''Wie es dieselbe Geisteskraft ist, wenn auch in verschiedener Anwendung, welche aus Goethe und aus Bismarck spricht, so ist es auch ein und dieselbe, wenn auch verschieden angewandte Geisteskraft, welche aus Schiller und welche aus Rembrandt spricht''. Dagegen wird durch die Worte Jensens: ''durch den Luneviller Frieden und Reichsdeputationshauptschluß'' (statt: ''und den Reichsdeputationshauptschluß'') der Geschichtsunkundige wieder verleitet, beide für eins zu halten.  
In Fragen, unabhängigen und auch abhängigen, wie in Ausrufesätzen steht oft ein ''nicht'', ohne eben nötig zu sein; ''gleichwohl verdient es den häufig darüber ausgesprochenen Tadel nicht''//1 Heyse-Lyons38 Beschränkung (S. 385), wonach die Negation in Ausrufen nur dann soll stehn dürfen „wenn sie das Ergebnis einer vorausgehenden Beweisführung ist. Wobei man mit Gewißheit die Zustimmung des andern erwartet", dürfte kaum aufrecht erhalten werden können. Eingehend plaudert über „Gebrauch und Mißbrauch der Verneinung", der einfachen, überflüssigen und doppelten, und die auf verneinter Beendung des Satzes überhaupt beruhende Erschwerung oder Irreführung des Verständnisses O. Dingeldein in der Ztschr. des Deutschen Sprachv.s 1928, S. 163—169.//; denn es steht auch da nicht ganz überflüssig, sondern bezeichnet entweder, daß eine bejahende Antwort erwartet wird oder daß ein Begriff der Vielheit, Menge und Größe möglichst, womöglich bis zum Begriffe der Ganzheit und höchsten Summe gesteigert gedacht ist. Jenes gilt nicht nur von den unzähligen mit ''nicht'' ausgestatteten (rhetorischen) Fragen, durch die man eine Behauptung lebhafter als durch einen bejahenden Satz ausdrücken will, wie: ''Kann ich mich nicht auch irren?'' Es gilt auch von indirekten, so von der Lessings: ''Ob es nicht zum Wesen eines großen Reiches gehört, entgegengesetzte Bekenntnisse gewähren zu lassen, wäre erst die Frage''. Die andere Wirkung hat das Wörtchen ''nicht'' in Sätzen wie den tagtäglichen: ''Was gäbe ich nicht darum?'' (= ''so gut wie alles''). ''Was du dir nicht einbildest!'' (''schließlich gar alles!'') oder auch in derartigen aus dem Schrifttum: ''Wieviel nützt mir nicht mein bißchen Studium der Natur'' (Goethe). ''Welch andre Luft wehte uns nicht gleich an, als der prächtige Stille auf der Bühne wieder erschien!''  +
Die Sprache bietet genug Mittel, solche Fügungen wie die in § 202 gerügten zu ersetzen. Das erste ist die Auslösung der Verbindung in ihre Bestandteile, und wie die zahlreichen ebenda gegebenen Umwandlungen zeigen, kommt dabei gar keine so wesentliche Verbreiterung heraus. Es ist sogar höchste Zeit, sich zu solchen Auflösungen zu bequemen, soll anders unserer Sprache die ihr vor anderen eigene Gabe reicher Wortzusammensetzung nicht zum Unsegen werden. Zeitigt sie doch nicht nur unschöne und schwerfällige Wortungetüme, die unrhythmisch einherstolpern, sondern verführt nun auch mit den eben gerügten Fügungsfehlern zu verstößen gegen Sinn und Gedanken und läßt obendrein der Sprache Zusammenrückungen zumuten, die gegen ihren Geist sind. Das letzte muß besonders denen gegenüber hervorgehoben werden, die hier uns Deutsche mit dem Englischen wetteifern lassen möchten. Freilich rückt in dieser Sprache auch das Bestimmungswort vor das Grundwort, aber ohne zu eng mit ihm zu verwachsen, und das Adjektiv wird nicht gebeugt, so daß seiner beliebigen Beziehung nichts im Wege steht. Im Deutschen wird dagegen das durch die Endung nach Fall, Zahl und Geschlecht bestimmte Eigenschaftswort eben dadurch dem allein durch das gleiche Mittel in der gleichen Weise bestimmten Grundworte zugewiesen und die Beziehung auf einen überdies aller Selbständigkeit beraubten Wortteil unmöglich gemacht. Außer dem negativen Mittel, sich der Zusammensetzung zu enthalten, bietet die Sprachgeschichte auch ein positives: die Zusammenrückung des dem Bestimmungsworte beizulegenden Adjektivs mit diesem zu einer engeren Verbindung, die erst in ihrer Abgeschlossenheit wieder als Bestimmungswort vor das Grundwort tritt. So hieß es noch vor fünfzig Jahren bei Boyen: ''ein sehr heftiges kleines Gewehrfeuer'', heute aber: ''Kleingewehr-Feuer''; und das Volk hat neben dem den botanischen Namen nachgebildeten (§ 201) ''Sauren Kirschbaume'' u. ä. auch den besseren ''Sauerkirsch-, Süßapfelbaum'' u. ä. Oft bietet, was das Volk nicht allgemein hat, doch eine seiner Mundarten. Der Drömlingsbauer und Lausitzer meinen gewiß ebenso ihr ''Abendrot Gutwetter-Bot'', wie der Schweizer Heer von ''Gutwetterzeichen'', die Ztschr. d. D. u. Ö. AV. von der ''Schönwetterperiode'' und der ''Fläche des Ewigschneefeldes'', G. Keller von einem ''Kleinbacchanten-Chor'' redet, B. v. Münchhausen von ''seiner vertrauten Großjungenzeit'' und R. Schickele vom ''Kleinmädchengesicht''. In Deutschböhmen liest man auf Schildern öfter das richtigere ''Gemischtwaren-Handlung'' als das falsche ''Gemischte Warenhandlung''. Warum sollte auch nicht ein Mittel, durch das unsre Sprache mit zahlreichen Zusammensetzungen der Art wie ''Junggesell, Großvater'' und alterjüngst ''Althistoriker, englische Kurzgeschichte'' bereichert worden ist, auch hier verwendet und frisch belebt werden, soweit es irgend noch hie und da im Sprachbewußtsein des Gesamtvolkes oder der Mundart wurzelt? Neben ''Altwarenhändler'' kann also getrost ''Altväterstandpunkt'' (natürlich auch ''altväterischer Standpunkt'') gestellt werden, und neben ''Großindustrieller'' ebenso ''Kleingewerbler'' oder ''Kleingewerbtreibender'' statt ''kleine Gewerbtreibende''. Nicht minder würde das ''Bittermandel-Wasser'' die Verdrängung der ''bitteren Mandelseife'' durch ''Bittermandel-Seife'' rechtfertigen. Wie man längst ''Rotweintrinker'' und ''Rotgarnfärber'' sagt, so muß auch ''Seidenstrumpfwirker'' $Seite 189$ herrschend werden statt ''seidner Strumpfwirker, Wollwaren-Fabrik'' statt ''wollene Warenfabrik'', ebenso ''Kunsteis- und Kunstwasser-Fabrik''. Der bürgerliche Besitzer einer Adelsherrschaft, der nicht ''ein adliger Gutsbesitzer'' genannt werden darf, kann sehr wohl ''Edelhofbesitzer'' heißen, und der kann dann ''Wildschwein-Köpfe'' auf seiner Tafel haben, nicht aber ''wilde Schweinsköpfe'' (§ 292). Neuerdings hat namentlich die Technik zahlreiche solche Verschweißungen gewagt wie: ''Scharffeuerfarbe, Kaltlufteinbruch'' und ''Kaltluftzufuhr, Warmluftmesser, Rundösenschraube, Hochfrequenzspannung'' und der Verkehr ''Leerwagenstellung, Langfahrtboot'' und ''Falschgeldwerkstatt''//1 Wenn bei solchen Zusammensetzungen nicht am Anfang zwei tonschwere Silben zusammenstoßen, empfiehlt sich auch Kieseritzky S. 99 f.//. Eigenschaftswörter gleicher Art sind ''früh-, spätsteinzeitlich''.  
Ist es richtiger, zu sagen: ''wir Deutsche'' oder ''wir Deutschen''? Diese Frage, die eine Zeit lang unnötig viel Staub aufgewirbelt hat, würde wohl gar nicht entstanden sein, wenn nicht Bismarck in der bekannten Reichstagssitzung vom 6. Februar 1888 den Ausspruch getan hätte, der dann auf zahllosen Erzeugnissen des Gewerbes (Bildern, Gedenkblättern, Denkmünzen, Armbändern usw.) angebracht worden ist: ''Wir Deutsche fürchten Gott, sonst nichts auf der Welt''. Denn so hat er nach den stenographischen Berichten gesagt, und so war er also vielleicht gewohnt zu sagen. Aber schon der Umstand, daß die Zeitungen am 7. Februar (vor dem Erscheinen der stenographischen Berichte!) druckten: ''Wir Deutschen'', und daß sich die Gewerbtreibenden vielfach zu vergewissern suchten, wie er denn eigentlich gesagt habe, zeigt, $Seite 36$ daß seine Ausdrucksweise auffällig war; dem Volksmunde war geläufiger: ''wir Deutschen'', und so ist in der Tat schon im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert viel öfter gesagt worden als ''wir Deutsche'', obwohl es in der Einzahl heißt: ''ich Deutscher'', und heute vollends sagt niemand mehr: wir ''Arme'', ihr ''Reiche'', wir ''Alte'', ihr ''Junge'', sondern ''wir Armen'' (Gretchen im Faust: ''am Golde hängt, nach Golde drängt doch alles, ach wir Armen''!), ''ihr Reichen, wir Alten, ihr Jungen, wir Konservativen, wir Liberalen, wir Wilden'' (Seume: ''wir Wilden sind doch beßre Menschen''), ''wir Geistlichen, wir Gesandten, wir Vorgenannten, wir Unterzeichneten, wir armen Deutschen, wir guten dummen Deutschen, wir Deutschen sind halt Deutsche''! Es ist gar nicht einzusehen, weshalb gerade ''die Deutschen'' von all diesen substantivierten Adjektiven und Partizipien eine Ausnahme machen sollen. Wenn sich augenblicklich gewisse Leute, denen es gar nicht einfallen würde, zu sagen: ''wir Arme'', mit dem vereinzelt aufgeschnappten und ihrem eignen Munde ganz ungewohnten ''wir Deutsche'' spreizen, so ist das einfach lächerlich. Die Ursache, weshalb hinter ''wir'' und ''ihr'' schon früh die schwache Form bevorzugt worden ist, ist offenbar dieselbe, die hinter den hinweisenden Fürwörtern, den besitzanzeigenden Adjektiven und hinter ''alle'' und ''keine'' wirksam gewesen ist (vgl. S. 31): daß es sich um eine bestimmte Menge handelt. Wenn man sagt: ''Wir Deutschen'', so meint man damit entweder alle Deutschen überhaupt, oder alle Deutschen in einem bestimmten Falle, z. B. alle, die in einer aus Angehörigen verschiedner Nationen gemischten Versammlung anwesend sind. Daß im Akkusativ der Mehrzahl die starke Form vorgezogen worden ist: ''uns Deutsche'', hat seinen Grund einfach darin, daß man ihn sonst nicht hätte vom Dativ unterscheiden können (bei Burkhard Waldis aber: ''und das Reich an uns Deutschen kumen''). Ein Unterschied läßt sich zwischen ''wir beiden'' und ''wir beide'' machen. Wenn der Lehrer am Schluß der Stunde fragt: ''Wer ist noch nicht drangewesen''? ein $Seite 37$ Schüler dann antwortet: ''Wir beiden sind noch nicht drangewesen'', der Lehrer das bezweifelt und sagt: ''Ich dächte, du wärst schon drangewesen'', so kann der Schüler das zweitemal antworten: ''Nein, wir beide sind noch nicht drangewesen''. Im zweiten Falle wird ''beide'' zum Prädikat gezogen, ''wir beiden'' dagegen ist dasselbe wie ''wir zwei''. Freilich heißt es in Holteis Mantellied auch: ''wir beide haben niemals gebebt''.  
Ein ganz anderer Fall, der bis zum völligen Widersinn führt, ist der, daß mit einem ersten Relativsatze zusammen unter dessen einleitendes Fürwort durch ''und'' ein zweiter Nebensatz gespannt wird, der gar nicht demselben Beziehungsworte gilt wie der erste. Solche Sätze wirken um so schlimmer, je mehr die aus der gemeinsamen Relativform am Anfange entspringende Mutmaßung, daß diese auch für den zweiten gelte, durch diesen selbst entkräftet wird infolge des Unsinns, zu dem jene durch die Form nahe gelegte Vermutung führt und der natürlich der schärfste Ankläger eines solchen Satzbaues ist. Zum Abschrecken nur drei Sätze dieser Art, welche ihresgleichen leider unzählige haben: ''Die letzte Post bringt uns wieder nach Markranstädt, wo wir den nach Leipzig abgehenden Zug benutzen und 81/4'' — man erwartet ''abfahren'', aber es geht weiter: ''wieder in Leipzig anlangen''. Zu dem Zeitungsschreiber gesellt sich ein gräflicher Verfasser von Denkwürdigkeiten: ''Abends kamen wir nach St. Flour, wo es mir gelang in einen Postwagen zu steigen und am dritten Tage Clermont Ferrand zu erreichen'', und ein Arzt: ''Herr Dr. ... hielt die Rede, zu der er sich das Thema Geschichte der Medizin gewählt hatte und einen kulturgeschichtlichen Überblick gab''; also einen Überblick zu der Rede? Trotz solcher Einhelligkeit aller Arten von Schriftstellern wird der Widersinn nicht geringer, weil er dann und wann auch Berufneren untergelaufen ist, so Schillern mit dem Satze: ''Beide Köpfe'' (''der Grafen v. Egmont und v. Hoorn'') ''wurden auf Stangen gesteckt, wo sie bis nach 3 Uhr nachmittags blieben und alsdann herabgenommen und mit den beiden Körpern in bleiernen Särgen beigesetzt wurden''.  +
Von einem wirklich ganz absoluten Partizipium kann erst dann die Rede sein, wenn die in dem zweiten Partizip der letzten Art angedeutete Handlung nicht von einem ihm übergeordneten Satze enthaltenen Subjekt ausgeführt wird, sondern von einem beliebigen eigenen Subjekt, das sich in einer unpersönlichen Wendung verbirgt oder aus dem Zusammenhange oder der Anrede sich von selbst versteht, aber nie genannt ist. Damit ist nicht ausgeschlossen, daß alle die nämlichen Partizipien auch in Beziehung auf ein Subjekt im übergeordneten Satze stehen können, nur dann nicht absolut im strengen Sinne, während umgekehrt durchaus nicht alle die Verbindungen eines zweiten Mittelwortes mit dem Akkusativ, die in der oben erläuterten Weise einen sinnlich wahrnehmbaren Zustand des übergeordneten Subjekts oder einen für sein Handeln wichtigen Zeitumstand angeben, auch unverbunden gebraucht werden können. Zugleich gänzlich unverbunden und auch ver- $Seite 350$ bunden stehn nämlich fast nur zweite Mittelwörter von Verben, die ein Mitteilen//1 ''Gesagt, ausgesprochen, vorausgeschickt, -gesandt, -bemerkt''.//, Annehmen und Zugeben//2 ''Gesetzt, vorausgesetzt, fortgesetzt, angenommen, eingestanden, zugegeben, bewiesen, nicht bewiesen, ungerechnet, unbeschadet''.// wie deren Gegenteile, ein Wahrnehmen//3 ''Streng'' oder ''genau genommen'', (''genau'') ''betrachtet, aufgefaßt, überlegt''.//, Beurteilen//4 ''Angewendet'', (''genau'') ''besehen, - betrachtet, soundso angesehen, ...beurteilt''.//, Aus- und Einschließen//5 ''Ausgenommen, aus-, eingeschlossen, eingerechnet, inbegriffen, vorbehalten, abgesehen von''.//, und seltner, die ein Ausführen//6 ''Angefangen mit, getan, ausgeführt, erledigt''.// bezeichnen, bis auf die zwei mit präpositionalem Objekte: ''abgesehn von'' und ''angefangen mit'', lauter transitive//7 Eine Ausnahme bildet nur die Formel: ''Dies geschehn'', die z. B. in dem Satze H. Hopfens steht: ''Dies geschehen, nahm der Student Conrad an der Hand'', und in ihrer Art also den (S. 345 g. E.) angeführten Fügungen entspricht.//, wie die Zusammenstellung unten beweist, die freilich weniger vollständig als wegweisend sein will//8 Unverständlich bleibt der von Andresen gemachte Unterschied zwischen Verben, welche die Sinnenwelt betreffende Handlungen ausdrücken, deren Partizipien nicht absolut — im alten Sinne — sollen gebraucht werden können, und solchen, welche sinnlich wahrnehmbare Zustände bezeichnen, deren Partizipien absolut stehn dürften. Als ob nicht diese Zustände aus jenen Handlungen folgten! Ich vermag wenigstens zwischen dem Satze: ''Schild und Lanze weggeworfen, fliehn sie über Berg und Tal'', in dem das Partizip eine die Sinnenwelt betreffende Handlung ausdrücken und undeutsch sein soll, und dem Goethischen: ''Im Felde schleich ich still und wild, gespannt mein Feuerrohr'', dessen Partizip einen sinnlich-wahrnehmbaren Zustand bezeichnen und gut sein soll, auch gar keinen Unterschied zu finden: denn auch die Worte: ''Schild und Lanze weggeworfen'' bezeichnen doch den sinnlich wahrnehmbaren Zustand, in dem sie fliehn.//. Als Beispiel für solche Fügungen intransitiver Zeitwörter sei dem § 347, Anm. 2 angeführten Beispiel aus Grillparzer noch beigesellt aus „Wien und die Wiener" 1844: ''Diese Gesellschaften versammelten allemal ein besseres Publikum und fanden reichen Gewinn''. Soweit gediehen, war nur noch ein Schritt zur Verbesserung des Harfenistenwesens. Nur selten fehlt neben diesen absoluten Partizipien aktivischer Verben eine Ergänzung; nur dann nämlich, wenn sie sich aus dem Zusammenhange ergibt oder wenn der im Partizip liegende Verbalbegriff, unter Umständen mitsamt seinem Prädikatsnomen, das Betontere ist, wie in den zwei folgenden Sätzen: ''Es ist ein erfreuliches Zeichen, daß die Leiter deutscher Blätter endlich selber in den Kampf gegen die Fremdwörter eingreifen ... einmal angefangen, wird sich der Geist der deutschen Sprache schon zwingen, das bequeme Anlehnen auch an den Satzbau der Römer sein zu lassen. — Die adligen Herrschaften laden uns zu ihren großen Festen ein und kommen in unser Haus; als ein Schauspiel betrachtet, in dem schöne Damen und Herren die Rolle spielen, habe ich nichts dagegen'' (Eltze). Gewöhnlich steht eine Ergänzung dabei. Bisweilen ein Haupt- oder Fürwort, nach S. 347, Anm. 2 natürlich im vierten Falle wie in den zwei Sätzen Lessings: ''Die Sache so angesehn, scheint nur dieser Weg zum Ziele zu führen'', und: ''Ihn als menschlichen Helden genommen, ist jenes Wort mehr als bedenklich'', und bei J. Grimm: ''eine neue Lage, die, jene Befähigung ganz unangeschlagen, wenig gemacht schien'' ... Am häufigsten steht das Wort ''dies'' (''das'') oder ein Satz mit ''daß'' dabei: ''Angesehn aber, daß'' $Seite 351$ ''sein Scharfsinn ihr überlegen war, so wußte sie sich gar nicht zu raten''. Daß aber auch andre Objektssätze möglich sind, mag der Satz eines Germanisten veranschaulichen: ''Mittelhochdeutsch ist mit Jungfrau nichts weiter gemeint als das Standesverhältnis oder die geschlechtliche Beziehung, ob verheiratet oder nicht, ganz unberührt''. Ja namentlich mit derartigen Sätzen hat sich die unverbundene Fügung auch auf Eigenschaftswörter ausgedehnt, die dann samt dem von ihnen abhängigen Satze gewöhnlich eingeschoben werden. Der Satz der Tgl. R. z. B.: ''So stürzte sie, gleichgültig, wohin der Zufall sie führen würde, auf die Straße hinaus'', hat sein Gegenstück bei G. Keller: ''Sie sah Herrn Reinhard mit großen Augen an, während es, zweifelhaft, ob bös oder gut gelaunt, um ihre Lippen zuckte''. Ganz absolut, im Werte eines eingeschobenen Relativsatzes, fügte H. Mann z. B. ein solches Mittelwort ein: ''Viel Zeit verloren vom Lernen, aber, nie gekannt, sein Geist war absichtslos vorgedrungen''. Aus einem unbedeutenden eigenen Ansatze, allerdings unter fremdem Einflusse, zu mächtigen Trieben entwickelt, sehn diese Fügungen heute gewiß nicht mehr wie Bilanzen fremder Herkunft aus und nehmen sich unter den andern, auf dem Boden der deutschen Sprache gediehenen Gewächsen schmuck und heimisch aus.  
Einer vielseitigeren Anwendung, als manche meinen, ist auch das einfache Wörtchen ''wo'' fähig; es kann nämlich auf die Zeit wie auf den Ort gehen und beides so, daß es nicht bloß Adverbien entspricht, sondern auch ganz verschiedene Verhältniswörter mit dem 3. Falle des bezüglichen Fürwortes vertritt. Es heißt z. B. auch ''auf dem Berge, wo, eine Zeit, wo, Tage, wo, in dem glücklichen Zeitpunkte, wo'', und weniger formelhaft in solchem Satze: ''Ein vierter Schritt ist diese neue Gesandtschaft, wo man endlich ungescheut die Larve abwirft'' //1. Über ''wo'' als Bindewort ''s''. mehr in § 297.// Dagegen gehört es lediglich grober nord- und mitteldeutscher bis nach Böhmen hin reichender Mundart an, daß ''wo'' auch statt aller Zahlen, Fälle und Geschlechter des Relativums gebraucht wird. Als Gestalten aus dem Volke wollte also O. Ludwig die Personen auch in der Sprache kennzeichnen, denen er die Worte in den Mund legte: ''Ein rechter Bürger muß alles Unrecht anzeigen, wo er sieht'', oder: ''da habe er die Gerbersleute herausgeholt, wo sonst wären ertrunken''. Sehr wohl kann dagegen ''so'' in dieser Weise für den 1. und 4. Fall gebraucht werden. Die Süddeutschen sagen in dieser schönen knappen Weise noch öfter wie G. Keller: ''Wir setzten uns zu einem fröhlichen Abendessen, welches aus den Fischen bestand, so die Vettern mit wenig Bescheidenheit ausgewählt hatten''. Die Mitteldeutschen meiden solche Sätze, wie: ''Die sonnige Jugend, so du genossen hast, hat dich verwöhnt'', ohne Grund als etwas Altertümliches und Feierliches.  +
Ebenso schlimm wie die beiden eben bezeichneten ist aber noch eine dritte Verwirrung, die neuerdings aufgekommen ist und in kurzer Zeit reißende Fortschritte gemacht hat: die Verwirrung, die sich in dem Weglassen des Partizips worden im passiven Perfektum zeigt. Es handelt sich auch hier um eine Vermengung zweier grundverschiedner Zeitformen, der beiden, die man in der Grammatik als Perfektum und als Perfectum praesens bezeichnet. In gutem Schriftdeutsch nicht nur, sondern auch in der gebildeten Umgangssprache ist noch bis vor kurzem aufs strengste unterschieden worden zwischen zwei Sätzen, wie folgenden: ''auf dem Königsplatze sind junge Linden angepflanzt worden'', und: ''auf dem Königsplatze sind junge Linden angepflanzt''. Der erste Satz meldet den Vorgang oder die Handlung des Anpflanzens — das ist das eigentliche und wirkliche Perfektum; der zweite beschreibt den durch die Handlung des Anpflanzens geschaffnen gegenwärtigen Zustand — das ist das, was die Grammatik Perfectum praesens nennt. ''Der Altarraum ist mit fünf Gemälden geschmückt worden'' — das ist eine Mitteilung; ''der Altarraum ist mit fünf Gemälden geschmückt'' — das ist eine Beschreibung. Wenn mir ein Freund Lust machen will, mit ihm vierhändig zu spielen, so sagt er: ''Komm, das Klavier ist gestimmt''! Dann kann ich ihn wohl fragen: ''So? wann ist es denn gestimmt worden''? aber nicht: ''wann ist es denn gestimmt''? denn ich frage nach dem Vorgange. Wenn ein Maler sagt: ''Mir sind für das Bild 6000 Mark geboten'', so heißt das: ich kann das Geld jeden Augenblick bekommen, der Bieter ist an sein Gebot gebunden. $Seite105$ Sagt er aber: ''Mir sind 6000 Mark geboten worden'', so kann der Bieter sein Gebot längst wieder zurückgezogen haben. Handelte sichs um einen besonders feinen Unterschied, der schwer nachzufühlen und deshalb leicht zu verwischen wäre, so wäre es ja nicht zu verwundern, wenn er mit der Zeit verschwände. Aber der Unterschied ist so grob und so sinnfällig, daß ihn der Einfältigste begreifen muß. Und doch dringt der Unsinn, eine Handlung, einen Vorgang, ein Ereignis als Zustand, als Sachlage hinzustellen, in immer weitere Kreise und gilt jetzt offenbar für fein. Selbst ältere Leute, denen es früher nicht eingefallen wäre, so zu reden, glauben die Mode mitmachen zu müssen und lassen das ''worden'' jetzt weg. Täglich kann man Mitteilungen lesen, wie: ''Dr. Sch. ist zum außerordentlichen Professor an der Universität Leipzig ernannt — dem Freiherrn von S. ist auf sein Gesuch der Abschied bewilligt — in H. ist eine Eisenbahnstation feierlich eröffnet'' — oder Sätze, wie: ''über den Begriff der Philologie ist viel herumgestritten — die märkischen Stände sind um ihre Zustimmung offenbar nicht befragt — so ist die Reformation in Preußen als Volkssache vollzogen — er behauptete, daß er in dieser Anstalt wohl gedrillt, aber nicht erzogen sei — die Methode, in der Niebuhr so erfolgreich die römische Geschichte behandelte, ist von Ranke auf andre Gebiete ausgedehnt — man rühmt sich bei den Nationalliberalen, daß über 12000 Stimmen von ihnen abgegeben seien — es kann nicht geleugnet werden, daß an Verhetzung geleistet ist, was möglich war — wie hätte die schöne Sammlung zustande kommen können, wenn nicht mit reichen Mitteln dafür eingetreten wäre?'' Doppelt unbegreiflich wird der Unsinn, wenn durch Hinzufügung einer Zeitangabe noch besonders fühlbar gemacht wird, daß eben der Vorgang (manchmal sogar ein wiederholter Vorgang) ausgedrückt werden soll, nicht die durch den Vorgang entstandne Sachlage. Aber gerade auch diesem Unsinn begegnet man täglich in Zeitungen und neuen Büchern. Da heißt es: ''das Verbot der und der Zeitung ist heute wieder aufgehoben'' (''worden''! $Seite106$ möchte man immer dem Zeitungschreiber zurufen) — ''der Anfang zu dieser Umgestaltung ist schon vor längerer Zeit gemacht'' (''worden''!) — ''diese Frage ist schon einmal aufgeworfen und damals in verneinendem Sinne beantwortet'' (''worden''!) — ''vorige Woche ist ein Flügel angekommen und unter großen Feierlichkeiten im Kursaal aufgestellt'' (''worden''!) — ''die Fürstin Bismarck ist heute morgen in Friedrichsruh von einem Sohn entbunden'' (''worden''!) — ''in späterer Zeit sind an dieser Tracht die mannigfachsten Veränderungen vorgenommen'' (''worden''!) — ''in gotischer Zeit ist das Schiff der Kirche äußerlich verlängert und dreiseitig geschlossen'' (''worden''!) — ''an der Stelle, wo Tells Haus gestanden haben soll, ist 1522 eine mit seinen Taten bemalte Kapelle errichtet'' (''worden''!) — ''am Tage darauf, am 25. Januar, sind noch drei Statuen ausgegraben'' (''worden''!) — ''jedenfalls ist der Scherz in Karlsbald bei irgend einer Gelegenheit aufs Tapet gebracht'' (''worden''!) — ''in B. ist dieser Tage ein Kunsthändler wegen Betrugs zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt'' (''worden''!) — ''diese Dinge sind offenkundig, denn sie sind hundertmal besprochen'' (''worden''!) — ''die Wandlungen der Mode sind zu allen Zeiten von Sittenpredigern bekämpft'' (''worden''!) — ''bis 1880 ist von dieser Befugnis nicht ein einzigesmal Gebrauch gemacht'' (''worden''!). Wo der Unsinn hergekommen ist? Er stammt aus dem Niederdeutschen und hat seine schnelle Verbreitung unzweifelhaft von Berlin aus gefunden. Die Unterscheidung der beiden Perfekta in unsrer Sprache ist nämlich verhältnismäßig jung, sie ist erst im fünfzehnten Jahrhundert zustande gekommen, und zwar ganz allmählich. Erst um die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts fing man an, zu sagen: ''daß ein Knecht geschlagen ist worden'' (anfangs immer in dieser Wortstellung). Aber schon im sechzehnten Jahrhundert war die willkommne Unterscheidung durchgedrungen und unentbehrlich geworden. Nur die niederdeutsche Vulgärsprache lehnte sie ab und beharrt — noch heute, nach vierhundert Jahren, dabei. Welche Lächerlichkeit nun, diesen $Seite107$ unvollkommnen Sprachrest, der heute doch lediglich auf der Stufe eines Provinzialismus steht, aller Vernunft und aller Logik zum Trotz der gebildeten Schriftsprache wieder aufnötigen zu wollen! Der Unterricht sollte sich mit aller Macht gegen diesen Rückschritt sträuben.  
Im übrigen zeigen diese Bildungen sämtlich die Eigentümlichkeit unsrer heutigen Sprache überhaupt nur noch möglichen Ableitungen. Ableitungen entstehen, indem ein Stamm verschieden abgelautet wird, oder indem an gegebene Stämme, Wörter und Wendungen einzelne Bildungslaute oder für sich allein nicht mehr verständliche Vor- und Endsilben angefügt werden. E. Flaischlen freilich hat gar gewagt: Wir sind im letzten Grunde alle Rafaele ohne Arme. — ''Woller'' und ''Möchter'' statt ''Könner'', also ein Wort auf ''-er'' von der Konjunktivform ''möchte'' gebildet, trog erreichter Gedrungenheit des Ausdrucks nicht nachahmenswert. Dem Zuge der Sprache nach Knappheit sind von je Hauptwörter entsprungen, die nur den Stamm von Zeitwörtern, einfachen wie zusammengesetzten, so gut auf der Stufe der Nennform wie auf abgelauteter darstellen, und anderseits äußert sich der Drang nach Schlagkraft der Wörter, nach lebhafterer Beschäftigung der Einbildungskraft in vielen neuen Zeitwörtern, die knapp und kühn aus Haupt- und Beiwörtern, ja ganzen Wendungen gebildet sind.  +
Die meisten reden von ''Fremdwörtern'', manche aber auch von ''Fremdworten''. Was ist richtig? Die Pluralendung ''er'', die namentlich bei Wörtern sächlichen Geschlechts vorkommt (''Gräber, Kälber, Kräuter, Lämmer, Kinder, Täler''), aber auch bei Maskulinen (''Männer, Leiber, Geifter, Wälder, Würmer, Reichtümer''), im Althochdeutschen ''ir'' (daher der Umlaut), ist im Laufe der Zeit auf eine große Masse von Wörtern namentlich sächlichen Geschlechts ausgedehnt worden, die sie früher nicht hatten. Um 1500 hieß es noch: ''die Amt, die Kleid, die Pfand, die Land, die Dach, die Fach, die Gemach, die Rad, die Schloß, die Schwert, die Faß, die Bret'', daneben: ''die Amte, die Rade, die Schwerte, die Fasse'', und endlich kam auf: ''die Ämter, die Räder'' usw. Bei manchen Wörtern hat sich nun neben der jüngern Pluralform auf ''er'' auch noch die ältere erhalten. Dann erscheint aber die ältere Form jetzt als die edlere, vornehmere und ist auf die Ausdrucksweise des Dichters oder des Redners beschränkt.//* Vereinzelt ist auch in Fachkreisen die alte Form lebendig geblieben. Der Leipziger Zimmermann sagt noch heute: ''die Bret, die Fach'', nicht ''die Breter, die Fächer''.// Man denke an ''Denkmale'' und ''Denk-'' $Seite 20$ ''mäler'', ''Gewande'' und ''Gewänder'', ''Lande'' und ''Länder'', ''Tale'' und ''Täler'' (''Es geht durch alle Lande ein Engel still umher'' — ''Die Tale dampfen, die Höhen glühn'' u. ähnl.). Bei andern Wörtern hat sich zwischen der ältern und der jüngern Form ein Bedeutungsunterschied gebildet. So unterscheidet man ''Bande'' (''des Bluts, der Verwandtschaft, der Freundschaft'') und ''Bänder''; ''Bande'' sind gleichsam ein ganzes Netz von Fesseln, ''Bänder'' sind einzelne Stücke. Auch ''Gesichte'' und ''Gesichter'', ''Lichte'' und ''Lichter'' sind dem Sinne nach zu unterscheiden. ''Gesichte'' sind Erscheinungen (im Faust: ''die Fülle der Gesichte''). ''Lichte'' sind Kerzen (''Wachslichte, Stearinlichte''), ''Lichter'' sind Flammen (''durch das Fenster strahlten zahllose Lichter, Sonne, Mond und Sterne sind die Himmelslichter''). Bisweilen kommt auch noch ein Geschlechtsunterschied dazu: ''Schilde'' (''der Schild'') gehören zur Rüstung; ''Schilder'' (''das Schild'') sind an den Kaufmannsläden. Neben ''den Banden'' und ''den Bändern'' stehen noch ''die Bände'' (''der Roman hat drei Bände''). So kam auch neben der Mehrzahl ''die Wort'' oder ''die Worte'' im sechzehnten Jahrhundert die Form auf ''er'' auf: ''die Wörter''. In der Bedeutung wurde anfangs kein Unterschied gemacht. Im achtzehnten Jahrhundert aber begann man unter Wörtern bloße Teile der Sprache (''vocabula''), unter Worten Teile der zusammenhängenden Rede zu verstehen. Man sprach also nun von ''Hauptwörtern, Zeitwörtern, Fürwörtern, Wörterbüchern'', dagegen von ''Dichterworten, Textworten, Vorworten'' (''Vorreden'') ''schöne Worte machen'' usw. Und an diesem Unterschied wird auch seitdem fast allgemein festgehalten. ''Worte'' haben Sinn und Zusammenhang, ''Wörter'' sind zusammenhanglos aufgereiht. Wenn es also auch nicht gerade falsch ist, von ''Fremdworten'' oder ''Schlagworten'' zu reden, so ist doch die Mehrzahl ''Fremdwörter, Schlagwörter'' vorzuziehen. Dagegen wird niemand sagen: ''Der Wörter sind genug gewechselt''. In der Sprache des niedrigen Volkes ist nun eine starke Neigung vorhanden, die Pluralendung auf ''er'' $Seite 21$ immer weiter auszudehnen. Es ist das ein durchaus plebejischer Sprachzug. //* Als ''die Schlösser'' aufkamen, müssen Menschen von feinerem Sprachgefühl etwa dasselbe gefühlt haben, was wir heute fühlen würden, wenn jemand von ''Rössern'' reden wollte.// Nur das niedrige Volk redet in Leipzig von ''Gewölbern'' und ''Geschäftern'', der Gebildete von ''Gewölben'' und ''Geschäften''. Nur das niedrige Volk bildet Plurale wie ''Zelter, Gewinner, Mäßer, Sträußer, Butterbröter, Kartoffelklößer''. Nur die „Ausschnitter" preisen ihre ''Rester'' an (Goethe redet im Wandrer von ''Resten der Vergangenheit''), nur die Telephonarbeiter kommen, um „die ''Elementer'' nachzusehen." Und wie gemein erscheinen die ''Dinger'', mit denen sich das Volk überall da hilft, wo es zu unwissend oder zu faul ist, einen Gegenstand mit seinem Namen zu nennen!//** ''Faß e mal das Ding an den Dingern hier an, daß die Dinger drinne nich gedrückt werden''! D. h. ''Fasse den Korb an den Henkeln hier an, daß die Hüte drin nicht gedrückt werden''.// So kommt es, daß die Endung ''er'' in der guten Schriftsprache bisweilen selbst da wieder aufgegeben worden ist, wo sie früher eine Zeit lang ausschließlich im Gebrauch war, wie bei ''Scheit''; die Mehrzahl heißt jetzt ''Scheite'', früher hieß sie ''Scheiter'' (vgl. ''Scheiterhaufe'' und ''scheitern''). Auch bei ''Ort'' ist eine rückläufige Bewegung zu beobachten: während früher die Mehrzahl ''Örter'' ganz gebräuchlich war, ist sie in neuerer Zeit fast ganz verschwunden, man spricht fast nur noch von ''Orten''. Dagegen hat leider der plebejische Plural ''Gehälter'' (''Lehrergehälter, Beamtengehälter'') gleichzeitig mit dem häßlichen Neutrum das ''Gehalt'' von Norddeutschland aus selbst in den Kreisen der Gebildeten große Fortschritte gemacht. Auch in Leipzig hatten es schon viele für fein, ''das Gehalt'' und ''die Gehälter'' zu sagen. Nun verteilen sich ja die Hauptwörter, die aus Zeitwortstämmen mit dem Präfix ''Ge'' gebildet sind, auf alle drei Geschlechter. Männlich sind: ''Geruch, Geschmack, Gedanke''; weiblich: ''Geburt, Geduld''; sächlich: ''Gehör, Gesicht, Gewehr, Gewicht''. Man mag auch die Unterscheidung zwischen: ''der Gehalt'' (''Gedankengehalt, Silber-'' $Seite 22$ ''gehalt des Erzes'') und ''das Gehalt'' (''Besoldung'') in Norddeutschland als willkommne Bereicherung der Sprache empfinden (vgl. ''der Verdienst'' und ''das Verdienst'', wo freilich der Bedeutungsunterschied gerade umgekehrt ist).//* Auch bei ''Lohn'' sind seit alter Zeit beide Geschlechter üblich; aber auch hier hat das Neutrum jetzt einen niedrigen Beigeschmack. Dienstmädchen verlangen ''hohes Lohn'', Gesellen ''höheres Macherlohn'' oder ''Arbeitslohn''; ''aber jede gute Tat hat ihren schönsten Lohn in sich selbst''.// In Mitteldeutschland klingt aber nun einmal vielen Gebildeten ''das Gehalt'' noch gemein, und ''die Gehälter'' stehen für unser Ohr und unser Gefühl durchaus auf einer Stufe mit ''den Gewölbern, den Geschäftern'' und ''den Geschmäckern''.//** Wenn ein Hauptwort in seinem Geschlecht schwankt, so hat das Neutrum nicht selten etwas gemeines. Es hängt das damit zusammen, daß nicht bloß der ungebildete Fremde, der des Deutschen nicht mächtig ist, alle deutschen Hauptwörter im Zweifelfalle sächlich behandelt (''das Bruder, das Offizier, das Kutscher''), sondern auch der ungebildete Deutsche ebenso mit Fremdwörtern verfährt. Man denke nur an die unausstehlichen Neutra unsrer Handlungsreisenden, Ladendiener und Ladenmädchen: ''das Firma, das Facon, das Etikett, das Offert, das Makulatur''! Das neueste ist ''das Meter'', das die Ladenmädchen doch gewiß nicht dem griechischen ''Metron'' zuliebe plötzlich als Neutrum behandeln.// Weshalb sollen wir uns also so etwas aufnötigen lassen?  
Gutes Deutsch mit undeutschem Wortschatz ist ein innerer Widerspruch, ein Unding, eine Unmöglichkeit. Wo ein Schreiber die einfachsten Begriffe nicht mit den Mitteln seiner Muttersprache bezeichnen kann oder will, sondern entstellte, verderbte, fremdsprachige Brocken einmischt, und zwar nicht vereinzelt, sondern gehäuft, regelmäßig, bis zu einem Welschwort oder mehr auf die Druckzeile, da haben wir's vielleicht mit schönem Welsch, aber nicht mit gutem Deutsch zu tun. Wer da schreibt: ''Ich bemerkte, daß ich zu sehr auf die momentan metrischen Dissonanzen der sentimentellen Affekte geachtet und so die lyrischperpetuelle Rhythmik der sentimentellen Motive überhört hatte'', der schreibt schlechtes Deutsch, und die Zeit ist nahe, wo es heißen wird: der schreibt überhaupt nicht Deutsch, schreibt in keiner Menschensprache. Über die Sprachwidrigkeit, Geschmacklosigkeit, Albernheit, Unwürdigkeit, daß ein Deutscher durchaus nicht Deutsch schreiben will, habe ich alles Nötige in meinen Büchern Deutsche Stilkunst, Sprich Deutsch!, Entwelschung gesagt; ich beziehe mich darauf, wiederhole es nicht. Nur füge ich noch ein tiefes Wort Schopenhauers hinzu: ,Nachahmung fremder Eigenschaften und Eigentümlichkeiten ist viel schimpflicher als das Tragen fremder Kleider; denn es ist das Urteil der eignen Wertlosigkeit von sich selbst ausgesprochen'. Allerdings versteckt der Welscher dieses Werturteil immer hinter dem Gedanken oder gar dem Satz: ,Die deutsche Sprache hat kein Wort dafür'; aber der einsichtige Lefer ist nicht mehr so leicht wie ehedem darüber zu täuschen: Dieser Schreiber ist so unwissend und unfähig, daß er kein deutsches Wort dafür kennt. Für sich allein, etwa in einem Tagebuch, mag jeder Deutsche, der sich dessen nicht schämt, schreiben wie er will, und wer's vor seinem Ehrgefühl verantworten kann, mag da welschen. Wer aber zu Deutschen spricht, hat Deutsch zu schreiben, ohne $Seite 52$ Widerrede Deutsch, und wär's nur darum, weil er mit keiner andern Sprache ganz sicher ist von jedem Deutschen genau verstanden zu werden. Dessen aber sollte jeder sich bewußt werden: alles Streben nach gutem Deutsch ist für den Fremdwörtler ein Wasserschöpfen ins hohle Sieb, ein Spannen der Pferde vor und zugleich hinter den Wagen. Sprachgefühl läßt sich nur pflegen und schärfen durch strenges Abweisen jeder störenden Trübung; feine Wortwahl nur üben durch Suchen und Sichten und Wägen aus einem Wortschatz des Echten und Saubern, nicht durch tapsiges Zugreifen unterm Gerümpel und Müll fremder Sprachen. Dem nach gutem Deutsch strebenden Schreiber mit dem festen Willen zum Deutschen brauche ich hier kaum zu sagen, was ich schon sonst ausgesprochen habe: Die Volks- und Sprachgeschichte Deutschlands entschuldigt eine gewisse Anzahl fremder Wörter, die durch vieljährige Duldung oder gar durch die adelnde Dichtung Gastbürgerrecht inmitten der deutschen Rede gewonnen haben. In meinem ,Sprich Deutsch!' (auf Seite 237—246) steht, was über diesen geringen zulässigen Fremdeinschlag unsrer Sprache zu sagen ist; in meiner ,Entwelschung' stehen die mit ''L'' und ''Hl'' gekennzeichneten ''Lehn-'' und ''Halblehnwörter'' neuerer Zeit, deren gelegentlicher, spärlicher Gebrauch selbst in gutem Deutsch gestattet ist. Doch sei dem Leser der wohlüberlegte, aus eigner Erfahrung geschöpfte Rat gegeben: Lieber zu streng als zu läßlich gegenüber jedem nicht deutschgewordenen Wort! Nicht aus schrullenhafter Peinlichkeit, sondern weil es keine fruchtbarere Selbstzucht gibt, als sich zur Beschränkung auf den schrankenlos reichen deutschen Wortschatz zu zwingen: was man an oberflächlicher Bequemlichkeit dadurch geopfert, wird doppelt und vielfach belohnt durch immer sichrere Herrschaft über Fülle und Feinheiten des körnigen deutschen Ausdrucks. Der bloße Wille, reines Deutsch zu schreiben, kommt einem meisterlichen Unterricht im Ausdruck und Stile gleich. Man scheue sich nicht vor dem lächerlichen Vorwurf, ein ,Purist' zu sein, denn der bedeutet in Wahrheit nur: Dieser Deutsche schreibt Deutsch. Wohl aber erwäge man den Vorteil reiner Sprache vom Standpunkt greifbarer Nützlichkeit: es gibt heute, dank den Bestrebungen zu reinem Deutsch, schon sehr viele gebildete Behörden, Kaufleute, Zeitungsleser, Arbeitgeber aller Art, die einen unbekannten Brief- und Zeitungschreiber oder Bittsteller, der sich $Seite 53$ in überflüssigen Fremdwörtern ergeht, für einen ungebildeten Gecken halten. Niemals aber wird ein vernünftiges Schreiben in reinem Deutsch auf den Leser anders wirken denn als der ehrliche Ausdruck eines ehrlichen Gedankens, und jeder Nutzen, den man sich von gutem Deutsch verspricht, wird gesteigert zuteil dem reinen guten Deutsch.  
Der Welscherei nahe verwandt ist das Reden in Zungen, die Pücklerei (nach dem Muster des Fürsten Pückler), das Prunken mit Sprüchlein und Bröcklein aus mindestens sechs Sprachen, auch aus solchen, von denen man eben nur dergleichen Flitterkram aufgeschnappt hat. Nur auf Leser mit gleichem Ungeschmack wie dem des Schreibers wirken die Sätzlein aus dem Büchmann oder einem andern ,Zitatenschatz'; die wahre Bildung verschmäht den billigen Schein, der durch ''Sapienti sat, Rebus sic stantibus, Do ut des, Autos efa, Nous verrons, Se non è vero, Quien sabe, Last not least'' erzeugt werden soll. Wohl wirkt zur rechten Zeit das rechte Wort eines großen Denkers oder Dichters mit besondrer Schlagkraft; doch je seltner dieses erlaubte Stilmittel angewandt wird, desto wirksamer. Der ,Zitateles' ist eine lächerliche Gestalt, um so lächerlicher, für je sprachfremder in seiner Zitätchenwelt man ihn erkennt. Man vermeide sodann Wendungen, die nur deutsch klingen, in Wahrheit schlechte Übersetzungen aus einer Fremdsprache sind. '',Es macht warm' '' ist Französisch, nicht Deutsch; ''die Emden, die Deutschland'', gar ''die Vaterland'' sind Englisch, nicht Deutsch; ''in der Falte'' (''sous ce pli'') ist Französisch, nicht Deutsch, auch nicht zulässiges Kaufmannsdeutsch. Deutsche Pennälerei, Übertragung von lateinischen Schülerbröcklein aufs reife deutsche Leben sind Benennungen wie ''Bremenser, Hallenser, Jenenser, Badenser, Weimaraner'' (bei Goethe nur scherzhaft), ''Anhaltiner''. Ich rate keinem, mich einen ''Pommeraner'' zu nennen. Heute sagt man ja selbst in den Schulen nicht mehr ''Athenienser, Karthaginienser'', sondern ''Athener, Karthager''. Wem ''Jenaer'' schlecht klingt, der wird wohl auch ''Gothenser, Gerenser, Grimmenser, Altonenser'' schreiben. ''Goetheaner, Hegelianer'' sind unfein, und ''Wagnerianer'' ist niedrig. In der Schlafrocksprache einer engen Berufszunft mag dergleichen hingehen, in die saubre Schrift- $Seite 54$ sprache gehört es nicht. Am tiefsten eingedrungen sind ''Hannoveraner, hannoveranisch''; ich schreibe sie nie, und keiner ist verpflichtet, lateindeutsche Endungen an ein deutsches Wort zu kleben. Die ''Lutheraner'' sind schwerer loszuwerden; daß die ''Lutherischen'' edler, weil deutsch, klingt, wird jeder Nichtwelscher empfinden. Gegen ''Brasilianer, Florentiner, Sizilianer, Peruvianer, Piemontesen'' wäre bei strengster Sprachzucht manches einzuwenden: es lohnt aber nicht, gegen diese versteinerten Ausländereien anzukämpfen. Bemerkt sei nur, daß die Franzosen, Engländer, Italiener sich fast für alle diese Benennungen nur der Wortbildungsmittel ihrer eignen Sprache bedienen. Gleichviel, welchen Wert man im allgemeinen auf peinlich richtige Schreibung des Wortbildes legt, für das Fremdwort gilt diese Sorgfalt nicht, auch nicht für das geduldete. Vollends für fremde Wörter, die keine Fremdwörter sind: ''Kaffe, Tee, Schokolade'' ist die einfachste, der Aussprache am nächsten kommende Schreibung, die empfehlenswerteste. Freilich mit dem, der hartnäckig ''Café'' statt ''Kaffehaus'' schreiben will und mit polizeilicher Erlaubnis sogar auf Ladenschildern an öffentlicher Straße so schreibt, ist überhaupt nicht zu streiten, denn völkisches und sprachliches Ehrgefühl hat man oder hat man nicht. Schroff abzulehnen ist die Forderung mancher Sprachbedienten des Auslands, die einheimische Aussprache jeder nun einmal aufgenommenen fremden Bezeichnung so genau wie möglich wiederzugeben, also abweichend von längst üblichen Schreibungen uns abzuquälen mit ''echtjuchtenrussischem Kasak (Kosak), Patjomkin (Potemkin), Moskwa (Moskau), Ariol (Orel)''. Auf diesem Wege kommen wir zu ''Milano, Napoli, Ticino (Tessin), Venezia, Adige (Etsch), Jurjew (Dorpat).'' Für die Wortform fremder Menschennamen ist die ihnen in ihrer Heimat eigne Schreibung maßgebend. Wir werden ''Viktor'' oder ''Victor Hugo'', nicht ''Ügo'', schreiben; ''Shakespeare'', nicht ''Schexpier''. Aufhören aber sollte die bedientenhafte, zu groben Irrtümern führende Wiedergabe eines nichtfranzösischen, nichtenglischen Fremdnamens mit den Schriftmitteln der Franzosen oder Engländer. Der unheilvolle griechische Staatsmann neuester Zeit heißt auf Griechisch ''Weniselos''; die Franzosen geben dies richtig mit ''Venizelos'' wieder. In Deutschland wird er fast durchweg französisch geschrieben und von $Seite 55$ den Meisten dank dieser Ausländerei ''Fenitzelos'' gesprochen. Die Engländer müssen den indischen ''j''-Laut durch ''y'' wiedergeben und schreiben das ''Himalaja'' gesprochene Gebirge richtig ''Himalaya''; es besteht nicht der kleinste Grund für uns Deutsche, es ihnen nachzuschreiben, denn deutsches ''y'' ist nicht ''j''. Das in deutsche Siegerhände gefallene englische Schiff ''Ayesha'' hätte sogleich ''Ajischa'' heißen müssen, blieb aber nach deutscher Art, oder Unart, ruhig weiter ''Ayesha''. — Kleinigkeiten? In Fragen der völkischen Sprachehre gibt es wie in allen Ehrenfragen keine Kleinigkeiten. Die Franzosen schreiben richtig ''Hindenbourg, Loudendorf, Guillaume''.  
Bei keinem andern Zweifelfall kann man den Kampf zwischen den Sprachmeistern und dem Sprachgebrauch, d. h. der Sprache selbst, so deutlich beobachten wie bei dem sogenannten Binde-''s'' (''hoffnungsvoll, Liebeslust, Regierungsrat, Weihnachtsfest''). Die Meisterer hassen es, gestatten es allenfalls nach männlichen und sächlichen Erstgliedern, verwerfen es zornig, verächtlich, hohnvoll nach weiblichen, weil sie es fälschlich für das ''s'' des Zweitfalls halten, das bei weiblichen Hauptwörtern ein Unfug sei. Das Binde-''s'', zumal das nach weiblichen Hauptwörtern, ist in den meisten Zusammensetzungen nicht Zweitfall-''s'', sondern ein der bequemeren Aussprache dienender Überleitungslaut, den die Sprache nach schwer ergründlichen Gesetzen — wenn überhaupt nach Gesetzen und nicht vielmehr Launen — einschiebt. In ''ordentlich, namentlich, wissentlich, wesentlich, allenthalben'' ist das ''t'' aus ähnlichem Grunde eingeschoben. Feste Regeln ohne jedwede Ausnahme fürs Binde-''s'' gibt es nicht; einzig der überkommene und zurzeit herrschende Sprachgebrauch ist maßgebend für den, der gutes Deutsch nicht erklügeln, sondern belauschen und nachsprechen will. Die geschichtliche Sprachforschung hat einige Tatsachen festgestellt, die an sich wissenswert, aber nicht für den heutigen Sprachgebrauch entscheidend sind. Sie hat ermittelt, daß das Binde-''s'' im ältesten und alten Deutsch sehr selten vorkommt; daß $Seite 75$ es nach weiblichen Wörtern bei Luther noch gar nicht, auch sonst bei ihm viel seltner steht als heute; daß es erst nach dem 17. Jahrhundert häufig wird. Für die Gegenwart können wir selber eine stete Zunahme beobachten. In den ältesten, festesten Zusammensetzungen fehlt es meist, wo es bei Neubildungen gewiß stehen würde: ''Augapfel, Mondschein, Regenbogen, Rathaus, Himmelreich, Schiffbruch''; die mehr neuzeitlichen ''Schiffswerft'' und ''Himmelsgegend'' haben es. In Zusammensetzungen mit Wörtern auf ''.. er'' fehlt es fast immer: ''Kaiserkrone'' gegenüber ''Königskrone; Wunderglaube, Köhlerglaube'' gegenüber ''Volksglaube; Lasterhöhle, Räuberhöhle'' gegenüber ''Diebshöhle''. Einige Regelmäßigkeit herrscht bei den Wörtern auf ''heit, keit, schaft, ung, tum, ling'': sie bekommen weit überwiegend das ''s''. Dagegen fehlt es zumeist bei Zusammensetzungen mit Stoffwörtern: ''Goldgrube, Goldstück, Erdhöhle, Giftbecher, Kornkeller, Kornblume, Weinberg, Weinlager, Bierglas, Haferfeld, Dunghaufen''. Der Grund des Wohllauts trifft für das Binde-''s'' nicht durchgehend zu: man sollte ''Mordstat, Kindstaufe, Lichtsträger, Nachtstisch, Nachtsträume, Marktstag'' erwarten, spricht aber mühelos die zusammenstoßenden Gleichlaute. Selbst gehäufte Zischlaute stören nicht einmal beim Sprechen: ''Geschichtsschreiber, Zufluchtsstätte, an Zahlungsstatt, Geburtsstadt, Mitternachtsstunde'' werden vielfach wirklich so gesprochen, erst recht so geschrieben. In vielen solcher Fälle lasse ich das Binde-''s'' schon seit Jahren mit gutem Gewissen beim Schreiben weg. Die regellose Launenhaftigkeit des Binde-''s'' zeigt sich an Wörtern wie ''Bluthund, Blutsfreund, Blutbund, blutarm, Blutsverwandtschaft, Hundswut, Hundepeitsche, Hundehütte, hundsgemein, Wortbruch, Vertragsbruch, Feuerwehr, Feuersbrunst, schrittweise, beispielsweise, kraftlos, hoffnungslos, Landrat, Landesrat'' (neu), ''Landgericht, Oberlandesgericht, Amtsgericht, Reichsgericht, Gewerbegericht, Handelsgericht, Werkzeug, Handwerkszeug, Ehrengericht, rechtmäßig, rechtswidrig'' (Kleist schreibt: ''Rechtgefühl''), in Norddeutschland ''Mietsvertrag'', in Süddeutschland ''Mietvertrag, rechtlos, lichtlos, rücksichtslos''. In der Schweiz gibt es ''Erbsmasse'', was aber nicht ''Erbsenbrei'', sondern ''Erbesmasse'' bedeutet. ''Kalbleder, Schweinsleder, Rindleder, Schafleder, Kalbsbraten, Hammelbraten, Schweinebraten, Rinderbraten'' (neben ''Rindsbraten''), ''Kalbsleber'', $Seite 76$ ''Schweineleber, Kalbszunge, Rinderzunge, unheilvoll, Unheilstag''. Wie soll man sich solchen Schwankungen gegenüber verhalten? Achtungsvoll, wie allen Launen der Sprache gegenüber: nicht besser wissen wollen als sie, nicht meistern, sondern einfach hinnehmen und gelten lassen. Nicht schimpfend losfahren: ,Das Widerwärtigste sind wohl die Zusammensetzungen mit ''Miets'' ...: ''das Mietshaus, die Mietskaserne, der Mietsvertrag..'' Das Binde-''s'' hinter einem Verbalstamm eingeschmuggelt!' Wer gibt dir Schimpfer das Recht, deine Muttersprache widerwärtig zu nennen? Und was geht die freischaltende Sprache dein Regelkram vom Verbalstamm oder Substantivstamm an? Die Sprache ist weiser als die Wohlweisesten, erfinderischer als die Findigsten: sie schafft sich selbst aus ihren Irrungen und Wucherungen neue Reichtumsquellen, unterscheidet fein zwischen ''Landsmann'' und ''Landmann, Wassernot'' (Not an Wasser), ''Wassersnot'' (Not durch Wasser); weiß sehr wohl, warum sie nebeneinander ''Hungersnot, Hungertod, Hungerjahr, Hungerleider'' sagt. Das Binde-''s'' nach weiblichen Hauptwörtern hat man geschichtlich durch den Einfluß des Niederdeutschen erklärt. Hier geht uns nicht der Ursprung, sondern der gegenwärtige Zustand an, und der zeigt sich uns in Hunderten von Verbindungen wie: ''Hochzeitstag, Heiratsgut, Zukunftsmusik, ahnungsvoll, Liebesleib, Liebeslied, Liebeserklärung, Liebesdienst'' (neben ''Liebediener''), ''liebeskrank'' (neben ''liebebebürftig, liebeleer, liebevoll''), ''sehnsuchtsvoll, hilfsbereit'' (neben ''Hilfeleistung''), ''Glücksfall'' (neben ''Glückwunsch''). Jean Paul hat über die ,''s''-Krätze' gescholten und sie in einer der Ausgaben seiner Werke bis zur Unausstehlichkeit getilgt. In neuster Zeit hat M. Harden es ihm nachgetan, uns die ''Regierungform'' und den ''Regierungrat'' zugemutet, aber den ''Geburttag'' so wenig wie den ''Geburtstag'' gewagt. Der gesunde Sinn des deutschen Volkes hat alle solche querköpfige Gewaltsamkeiten lachend abgelehnt. In Österreich herrscht eine krankhafte Neigung, möglichst überall ein ''s'' einzuschmuggeln. Da gibt es die ''Fabrikantenstochter'' (sogar die ''Ochsenmaulsalatfabrikantenstochter'') und die ''Erzeugerswitwe'', den ''Fabriksbesitzer'' und die ''Reformsbestrebungen''. Diesen und andern zweifelhaften oder kaum noch schwankenden Formen gegenüber verhalte man sich so, daß man die ohne ''s'' vorzieht, wo es schon eine neben der mit ''s'' gibt, und $Seite 77$ daß man sich bei Neubildungen möglichst ohne ''s'' behilft. Die Einschiebung des ''s'' ohne Not und deutlichen Grund hat einen Grad erreicht, der in langweilige Eintönigkeit ausartet, und diese zu steigern sollte keiner beitragen. Man schreibe also: ''unschuldvoll, inhaltvoll, inhaltreich, wahrheitliebend, Heimatkunst, Festlandmächte, Auslandhandel'', denn diese Formen kommen schon im besten Deutsch vor, und man hüte sich, ,''O neige, du ''schmerzenreiche' '' in ... ,''schmerzensreiche' '' zu wandeln, wie oft geschieht, wo nur aus dem getrübten Gedächtnis angeführt wird.  
Was ist richtiger, ''Hülfe'' oder ''Hilfe''? Im Mittelhochdeutschen gab es nur ''Hilfe'', im Oberdeutschen stets nur ''Hilfe''; im Mittel- und Niederdeutschen hieß und heißt es ''Hülfe'', so auch bei Luther. Der beste Schrift- und Sprachgebrauch hat sich für ''Hilfe'' entschieden (''Vaterländischer Hilfsdienst''), und dem sollen und wollen wir uns fügen. ''Gescheit'' oder ''gescheut''? Mit Ausnahme ganz vereinzelter Fälle bei Lessing und Schiller nur ''gescheit'' (von ''scheiden'', sondern, ''urteilen''). Das Wort hat mit ''scheuen'' nichts zu tun, und der gute Sprachgebrauch hat sich gescheiterweise durchweg für ''gescheit'' entschieden. ''Liederlich'' oder ''lüderlich''? Der Ursprung steht nicht fest, die Ableitung von ''Luder'' ist falsch; der gute Sprachgebrauch bevorzugt ''liederlich''. Die fast unsprechbare ''Jetztzeit'', einst ein sehr beliebtes Schlag- und Modewort, stirbt glücklich aus und sollte von keinem guten Schreiber mehr in die Feder genommen werden. Sie wird auf Jean Paul zurückgeführt und hat schon den Zorn Schopenhauers erregt. ''Einzelheit'' oder ''Einzelnheit''? Kaum mehr streitig, denn das ''n'' gehört nicht zum Stamm, — also nur ''Einzelheit''. In manchen Nachschlagebüchern, z. B. im Duden, werden ''andere, anderen, unsere, unseres, unseren'' als die eigentlich richtigen, die gekürzten Formen: ''andre, andern, unsre, unsers, unsern'' nur als geduldet aufgeführt. Sprache kommt vom Sprechen: man spricht nicht, oder fast nie, ''andere'' usw., also schreibt auch jeder, der die gekürzten Sprechformen schreibt, richtig. Wer durchaus nicht so schreibe zu dürfen wähnt, $Seite 78$ Wie er selber spricht, dem ist nicht zu raten. Ebenso spricht niemand ''bayerisches Bier, bayerische Truppen, Bayerischer Platz''; folglich sind die kurzen Formen nicht nur richtiger, sondern die allein richtigen. Die Ableitungen von Länder- und Städtenamen richten sich nach dem heimischen Sprachgebrauch: die Einwohner von Bremen heißen weder ''Bremener'' noch ''Bremenser'', sondern ''Bremer'', die von ''Emden'' ''Emder'', von ''Eisleben Eisleber'', von ''Baden Badener'', von ''Meiningen Meininger'', nicht etwa ''Meiningener''. ''Diesseit, jenseit'' oder ''diesseits, jenseits''? Für das Umstandswort ('',Diesseits herrscht Ruhe' '') nur mit ''s''; für das Vorwort ('',diesseit des Rheins' '') genügt die Form ohne ''s''.  
Hoffentlich sind kurzlebig Wortgemächte wie ''Hapag, Kadewe, Delag, Bugra, B. Z., AEG, Delka, Wumba, Rohö''. Für den hastigen Alltags-, besonders den Börsenverkehr, tun sie ihren Dienst als rohes Verständigungsmittel, denn Sprache kann dergleichen nicht heißen; die anständige Schriftsprache lehnt solch Unzeug ab. Erklärt, fast entschuldigt wird es durch die ungeschickte, schwerfällige Namengebung; W. Fischer nennt mit Recht in seinem Buche ,Deutsche Sprache von heute' solche Bildungen ,Notwehr'. ''Hamburg-Amerikanische-Paketfahrt-Aktien-gesellschaft, Kaufhaus des Westens, Deutsche Luftschiffahrts-Aktiengesellschaft, Buch- und Graphik(!)-Ausstellung, Berliner Zeitung (am Mittag), Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft, Deutsche Luftkriegsbeute-Ausstellung, Waffen- und Munitions-beschaffungs-Amt, Reichsorganisation der Hausfrauen Österreichs'' können in Handelslisten eingetragen, nicht aber im belebten Gespräch ausgesprochen werden. Ich halte auch mit der Meinung nicht zurück, daß mir ''Tauchbootkrieg'' sachlich und sprachlich würdiger klingt als ''U-Bootkrieg.''  +
Gottsched und Adelung verfolgten mit ihrem Sprachphilisterhaß jedes zu ihrer Zeit zufällig nicht mehr gäng und gäbe Alltagswort. Unschuldige, treffliche, kernige Wörter wie '',bieder, beginnen, behagen, Fehde, Meisterschaft' '' belegten beide mit allerlei Ekelnamen. Seitdem haben uns die neubelebende Richtung und ihr folgend die Sprachwissenschaft gelehrt, daß nicht alles tot ist, was lange außer Gebrauch gekommen. Nach der Mitte des 18. Jahrhunderts, zum Teil gegen den störrischen Widerspruch Adelungs, wurde manches gute alt- $Seite 56$ deutsche Wort zu neuem Leben erweckt. Den ''Recken'' verdanken wir Wieland, den ''tapfern Degen'' Lessing, ''hasten'' wurde von Voß empfohlen, und die von Campe aufgefrischten Altwörter gehen in die Hunderte. Mit vorsichtig wählendem Geschmack läßt sich noch manchem schönem halberstorbenem Wort Leben einhauchen; allerdings gehört dazu mehr Ansehen und Mut als zur Erbastelung eines Dutzends elender neuer Welschereien. Aber selbst veraltete Wendungen (''Das Eisen schmieden, weil [dieweil, solange] es heiß ist; Freut euch des Lebens, weil noch das Lämpchen glüht'') sind in dichterischer Rede nicht nur erlaubt, sondern können von besondrer Wirkung sein. Auch der Prosaschreiber und -redner darf zur rechten Zeit, am rechten Ort, und wenn er der rechte Mann, zu bestimmtem Stilzweck gar wohl '',sintemalen, dieweilen, Da sei Gott vor, Das sei fern von mir' '' gebrauchen. Von ungeschickten und taktlosen Schreibern eingeflickt, wirken solche alte Lappen auf neuem dürftigem Gewande abgeschmackt. Es war eine Verirrung, daß im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts einige altertümelnde mittelmäßige Dichter die mittelhochdeutsche Rittersprache aufputzten, ohne zu bedenken, daß sie schon zu ihrer Zeit nur nachäffende Französelei gewesen war. Paul Heyse hat jener Sprachmode der ,Butzenscheibenlyrik' das verdiente Spottdenkmal gesetzt: ''Der Maskentrödel, guter alter Zeit'' ''Entlehnt, birgt nun moderne Nichtigkeit''. ''Da schleift und stelzt ein blöder Mummenschanz'', ''Ein Landsknechtminnespiel und ,Gowenantz' '' ''Mit Hei! und Ha! und Phrasenspuk verbrämt'', ''Der totem Kunstgebrauch sich anbequemt''. ''O wie den Herrn, die nichts zu sagen hatten'', ''Die fremde Schnörkelrede kam zustatten!''  
Das Leben der lebenden Sprachen steht niemals still; das des Deutschen ist das am reichsten und schnellsten quellende von allen. Das Sprachleben ist schöpferisch, darum ist es dem Sprachzuchtmeister verhaßt, und er verbietet der Sprache, Neues zu schaffen. Überall, wo wir die Büttel über deutsches Sprachneuland hören, sind es nörgelnde oder schimpfende Verwerfungen, und immer, gleichviel ob Gottsched oder Adelung $Seite 57$ oder Wustmann, mit denselben hinfälligen Gründen. Es ist unerfreulich, sich in einem Buche wie diesem nicht unmittelbar mit den Spracherscheinungen selbst abzugeben, sondern mehr als einmal mit früheren Darstellern zu streiten; es handelt sich aber hier um die Kernfrage des Sprachlebens: um das Recht zu steter Neubildung, und da muß selbst mit den einst schädlich gewesenen und bis heute schädlich fortwirkenden Toten gestritten werden. Um so mehr, als der in neuster Zeit am stärksten von Wustmann vertretene Geist des Niederhaltens der Sprachneuschöpfung die Schreiberwelt ein Menschenalter hindurch verderblich beeinflußt hat, noch heute nicht überwunden ist, und als zu befürchten steht: Der Boden zeugt sie wieder, wie er sie von je gezeugt, nämlich arme, einzelne Menschen, die sich erdreisten, die Sprache eines ganzen Volkes nach ihrer Geschmacks- und Ungeschmackslaune in die spanischen Stiefeln einer engen Regelmäßigkeit einzuschnüren. Der geistige Vorgang ist bei all solchen Sprachzuchtmeistern derselbe. Gottsched verwirft '',das Große, das Schöne' '', ,denn wir haben schon ''die Größe, die Schönheit'''; Wustmann bemäkelt '',das Wissen, das Können' '' als ,richtige Modenarrheit... es kann einem ganz schlimm und übel dabei werden', denn ,Wörter wie Kenntnis, Fähigkeit scheinen ganz vergessen zu sein'. Adelung schilt über ,''liebevoll'', ''entgegnen'', da wir bereits ''liebreich'', ''erwidern'' haben', und ,''beginnen' '' ist töricht, da wir längst '',anfangen' '' haben. Wustmann nennt '',darstellen'' schauderhaft gespreizt', denn wir haben ja '',bilden' ''. '',Einsetzen' '' ist ihm ,eins der schlagendsten Beispiele der Gedankenlosigkeit', denn wir haben ja ,''anfangen'' und ''beginnen' ''. Aber wozu dann noch '',beginnen' '', da wir ja '',anfangen' '' haben? So rasaunt Wustmann auf mehr als einem halben Hundert Seiten gegen ,neue Wörter', die er allesamt für abscheuliche Modwörter erklärt, z. B. gegen: ''Gepflogenheit'' (,ist nicht ''Brauch'' so ziemlich dasselbe?'). Die Sprache, d. h. die Masse der Sprechenden, auch der Gebildetsten, hält beides nicht für dasslbe. Er eifert gegen ''Übersee'' (ein bequemes Kurzwort), ''Vorredner'' (ein unentbehrliches, bequemes Wort, von den besten, den gewichtigsten Rednern, von Moltke, Bismarck bedenkenlos angewandt), ''Ausreise'' (eines Weltmeerschiffes), ''Griffelkunst'' (treffenden Ersatz der lächerlichen Graphik), ''Begleiterscheinung, Werdegang, Straftat, Lebewesen'' (,verunglückte Bildungen'), ''innerpolitisch, parteilos'' (wir haben ja $Seite 58$ ,''unparteiisch' ''), ''lateinlos, fraglos, rückständig'' (Wustmann fordert einzig '',zurückgeblieben, veraltet' ''), ''anpassungsfähig'' (nach Wustmann nur fähig zum Anpassen von Kleidern oder Schuhen, also ,für einen gewandten Ladenjüngling'), ''tagein tagaus'' (,ganz töricht'), ''lochen, belichten, Heizkörper, Beleuchtungskörper'' (Wustmann kennt nur ''Ofen'' und ''Leuchter''), ''Darbietung, Ehrung'' (für Wustmann gibt es nur ''Ehrenbezeugung'' oder ''Auszeichnung''), ''bedeutsam, belangreich, belanglos'' (,obgleich niemand weiß, was ''Belang'' ist'), ''eigenartig, einwandfrei, erheblich, sangesfroh'' und ''farbenfroh, glatt'' (man dürfte also nicht sagen: ''Der Verkehr wickelte sich glatt ab''), ''minderwertig, offensichtlich, selbstlos, tunlich, verläßlich, abstürzen, sich anfreunden, ausgestalten, entgegennehmen, erhellen'' (wir haben ja ,''hervorgehen, sich ergeben' ''), ''sich erübrigen, erzielen'' (Wustmann höhnt: ,feiner Ersatz für ''erreichen' ''), ''gestatten, Rechnung tragen, einer Frage nähertreten, zu einer Beratung zusammentreten, vorbestraft, voraufgehen'' (,Zier- und Spreizwort für ''vorhergehen'' und ''vorausgehen' ''), ''in die Wege leiten'' (,Modephrase eigentlich für gar nichts'), ''werten und bewerten, zerfallen in ... '' (man dürfe nicht sagen: ''Das deutsche Heer zerfällt in 20 Korps''; alle Welt sagt so, aber alle Welt soll nicht so sagen — verlangt der eine Großklassiker des Deutschen, Gustav Wustmann); ''in erster Linie, nahezu, naturgemäß, rund'' (bei abgerundeten Zahlen), ''vielmehr'' (wir haben ja ,''sondern' ''), ''weitaus, Gesichtspunkt, klarlegen.'' Alle diese und viele andre Ausdrücke müssen auf Wustmanns Geheiß aus der deutschen Sprache verschwinden.  
Man kann sich des immer wiederholten Aufsteigens des Vergleiches mit Beckmesser nicht erwehren: ''Auf ,blinde Meinung' klag' ich allein'', ''Sagt, konnt' ein Sinn unsinniger sein?'' ... ''Singet dem Volk auf Markt und Gassen''; ''Hier wird nach den Regeln nur eingelassen.'' Es gibt keine Regel, wie die Beckmesser Gottsched, Adelung, Wustmann sie aufpflanzen wollten: Wo für einen Begriff schon ein gutes Wort vorhanden ist, da bedarf es keiner Abwechslung. Das ewig bewegliche Sprachbedürfnis und Sprachgefühl fordert und schafft sich ewig neue Befriedigung, $Seite 59$ und dessen wollen wir froh sein. Und wäre es selbst so, daß ein Neuwort für die bloße Verständigung überflüssig wäre, — der Sprachsinn eines lebenden Volkes steht unter dem beherrschenden Geistesgesetz der Ermüdung und des Wechsels, strebt unablässig nach Bereicherung des reichsten Wortschatzes und sieht in jedem neuen Wort eine neue Bedeutungs- und Gefühlsfarbe. Ja schon in dem verschiedenen Klange an sich schwebt neben dem sinnlichen Neureiz jedesmal ein neuer Empfindungswert mit. Die von den Beckmessern benörgelte ''Eingebildetheit'' ist nicht dasselbe wie die von ihnen einzig zugelassene ''Einbildung''; das ''Wissen'' ist nicht gleich der ''Kenntnis'', das ''Können'' hat seine berechtigte Geltung neben der'' Kunst'', das ''Wollen'' neben dem ''Willen''. Man hat z. B. bekrittelt: ,''ein am Markte belegenes Haus' '', hat verlangt ,''gelegenes' ''; aber der geschärfte Sprachsinn empfindet nicht als überflüssige Wiederholung, sondern als fein unterscheidend: ,''ein am Markt belegenes, schön gelegenes Haus' ''. Wer dem Deutschen jedes Neuwort mit billigem Spott verleidet, der versündigt sich am guten Geist grade unsrer Sprache, die in und von der vernünftigen Freiheit lebt. Klopstocks Wort: ''Weil ich die bildsamste bin von allen Sprachen, so träumet Jeder pfuschende Wager, er dürfe getrost mich gestalten, Wie es ihn lüste?'' bleibe in Ehren, denn freilich ist die Sprache nicht jedem einzelnen Stümper preisgegeben. Bei den oben aufgeführten Wörtern jedoch handelt es sich längst nicht mehr um dreiste Wagnisse eines Einzelnen, sondern um Bestandteile der Umgangs- und Schriftsprache der Gebildetsten und der Besten ihres Faches, und da bestreiten wir dem bloßen Merker jedes Recht, einem ganzen Volk tiefwurzelnde Gebilde seines Sprachschatzes zu begeifern und zu verekeln. Selbst große Kühnheiten der Neuschöpfung müssen ohne Voreingenommenheit geprüft werden. Alle Spracherfahrung beweist, daß jede gute Neubildung sich allem Tadel zum Trotz durchgesetzt und bald wertvoller Besitz geworden ist; daß aber auch die schlechtesten Neubildungen kein Unglück für die Sprache sind, denn sie lehnt sie ab, und an der Ablehnung, nur an ihr, erkennt eben die Sprachwissenschaft, daß die neuen Wortformen unbrauchbar waren. Gottsched tadelte ''kaumig'' (von ''kaum''), $Seite 60$ und die Zeit hat ihm Recht gegeben; aber er tadelte auch ''sonstig'', und von der Zeit hat er Unrecht bekommen. Ein lehrreiches Beispiel für die geheimnisvollen Gesetze, die über neuen Wortschöpfungen walten, ist ''Gemeinplatz'' (statt der einstmaligen Lateinerei ''Locus communis''). Goethe und Schiller hatten es mit ''Gemeinort'' versucht, waren aber trotz ihren einflußreichen Namen damit nicht durchgedrungen. Campe übersetzte die englische Übersetzung ''Common place'' wörtlich mit ''Gemeinplatz'', und diese auf den ersten Blick und Klang rohe Übersetzung hat den Sieg davongetragen über Goethes und Schillers Verdeutschungsversuche. Heute erscheinen ''Gemeinplatz'' und ''gemeinplätzlich'' vortrefflich, Goethes und Schillers ''Gemeinort'' klingt uns flach und flau. Einen andern Maßstab als den Erfolg gibt es nicht, und noch so scheinkluges Vernünfteln beweist in Fragen dieser Art gar nichts. Wie verständig klingt z. B. Wustmanns Auseinandersetzung: ,Die ... Forderung, die man an ein neu aufkommendes Wort stellen darf, ist die, daß es regelrecht, gesetzmäßig gebildet sei und daß es mit einleuchtender Deutlichkeit wirklich das ausdrücke, was es auszudrücken vorgibt.' Alles nichts als hohles Gerede, dem das deutsche Wörterbuch in unzähligen Fällen widerspricht. Die Sprache fragt nicht nach dem Regelrecht, nach der Gesetzmäßigkeit irgendeines Zuchtmeisters, sondern sie lebt und schafft aus eignem Recht und Gesetz. Besonders lehrreich ist die geschwätzige Verwerfung des '',Schriftleiters' '' statt des '',Redakteurs' '' durch Wustmann, der überhaupt jeder Anklang findenden Verdeutschung das nichtssagendste, ja das sprachlich falscheste Welschwort vorzieht. ,Unter ''Schrift'' kann dreierlei verstanden werden: ''die Handschrift, ein Schriftstück'' und ''die Lettern'' der Druckerei...' Folgt eine wohlweise Betrachtung, daß an die erste und dritte Bedeutung nicht zu denken, daß nur die Behandlung der ''Schriftstücke'' gemeint sei, und die ,stellen wir uns wohl bei dem Worte ''Redakteur'' vor (?), aber nicht bei dem mühselig ausgeklügelten Worte ''Schriftleiter''.' An die vierte Bedeutung ,''Schriftwesen' '' hatte Wustmann nicht gedacht. Daß der großartige ,''Redakteur' '' nur etwa ''Ordner, Herrichter'' bedeutet, nichts vom Leiter enthält, durfte ihm nicht einfallen, weil das fremde Wort durchaus verteidigt, das deutsche unbedingt bemakelt werden sollte. Und daß wir uns bei ,''Redakteur' '' nur '' 'etwas vorstellen' '', was nicht notwendig in dem $Seite 61$ Worte selbst steckt, daß wir uns also bei ,''Schriftleiter' '' nur ebenso etwas vorzustellen brauchen, wovon doch alles Wichtigste in dem Wort enthalten ist, wird verschwiegen. Aber die Hauptsache ist: ''Schriftleitung'' und ''Schriftleiter'' sind jetzt feste Rahmensprache der meisten deutschen Zeitungen geworden, gleichwie die ebenfalls von Wustmann verworfene ,''Geschäftsstelle' '', der er die schwammwörtliche ,''Expedition' '' vorzog. Und zuletzt das Allerbeste: wie steht es mit dem ,''Schriftsteller' ''? Stellt der etwa Schrift? Folgt der irgendeiner Regel und einem Gesetz? Drückt der mit einleuchtender Deutlichkeit wirklich das aus, was er auszudrücken vorgibt? Man denke sich aus, welche Flut von höhnischen Schimpfereien Wustmann über den ,''Schriststeller' '' ergossen haben würde, wenn der nicht seinen Kampf gegen die Verteidiger des ,''Autors' '' schon im 18. Jahrhundert siegreich bestanden hätte. Und wie mit dem ''Schriftleiter'' und dem ''Schriftsteller'', wie mit den Dutzenden von bemakelten Neuwörtern, die jetzt zum festen Wortbesitz unsrer Sprache gehören, steht es mit Hunderten von Ausdrücken, die noch viel weniger mit einleuchtender Deutlichkeit das ausdrücken, was sie auszudrücken vorgeben. Ich berufe mich auf das in meinem ,Sprich Deutsch' auf S. 230—235 über ,Gut und Ungut des Deutschen' Gesagte und frage nur kurz, wie es mit der Regel und dem Gesetz von Wörtern steht wie: ''Mundart'' (Art des Mundes?), ''Eisbein'' (Bein von Eis? Bein auf Eis? Bein mit Eis?), ''Besteck, Augapfel, Perlmutter, Schraubenmutter, Backfisch, Schildwache, Leitfaden, Schneider'' (schneidet er nur?), ''Tischler'' (macht er nur Tische? und wie denkt man über Sargtischler?), ''Grasmücke, Wasserhahn, Konzertflügel, Baumwolle, Leichdorn, Leinwand, Beispiel, Backpfeife, Katzenkopf, Ohrfeige, Weichbild, Hagestolz''? Der ''Seufzer'' ist kein ''Seufzer'', sondern ein ''Geseufzter''; der ''Läufer'' auf der Treppe kein ''Läufer'', sondern ein ''Belaufener''. Was für ein Span ist ''Grünspan''? Gar kein Span, sondern spanisches Grün. Man stelle sich vor, alle diese Wörter, und es gibt ihrer Hunderte, hätten sich ihr Daseinsrecht von den Sprachmeistern erbitten müssen! Die durch und durch beschränkte, philisterhafte Bekämpfung des rastlos neuschöpferischen Triebes unsrer Sprache birgt noch eine andre ernste Gefahr: sie dient zur Verewigung der Welscherei. Nie hat Wustmann ein Körnchen seines erquälten Witzes, einen Tropfen seiner Kübel voll Schimpfereien über $Seite62$ die besten Neubildungen benutzt, um ein noch so blödes Welschwort zu verdrängen, wie denn in Deutschland fast nur über deutsches Sprachgut gewitzelt und geschimpft, jedes noch so gemeine Fremdwort mit Aufgebot höchsten Scharfsinns gerechtfertigt wird. An ,''allfallsig' '' haben die Sprachmeisterer ihren Spott gekühlt; keiner hat etwas gegen ,''eventuell' '' vorgebracht. Gegen die gutgebildete ''Auskunftei'' — die sich trotz allem längst durchgesetzt hat —, erhebt Wustmann Klage mit ,Schande' und andern Schimpfwörtern; gegen das ''Informationsbüreau'' hat er nichts einzuwenden. Entsetzt ruft er aus: ,Man könnte ebensogut die ''Kopierstube'' im Amtsgericht die ''Abschriftei'' nennen.' Und wenn man's täte?! Kein Leser ist verpflichtet, jede frische Neubildung sogleich selbst zu verwenden; im Gegenteil sei ihm geraten, abzuwarten, wie sie sich im Kampfe mit Philistertum und Welscherei durchsetzt; man lasse sich aber brauchbare Neuwörter, die einem Bedürfnis abhelfen, gut deutsch klingen und bequem sind, nicht durch ödes Gespött verleiden. Mehr als die Hälfte des ganzen neuhochdeutschen Wortschatzes war einmal nagelneu, und wehe jeder Sprache, über welche die dem sprießenden Sprachleben feindlichen Regelschmiede und Zuchtmeister Gewalt bekämen. Mit der oberflächlichen Krittelei ,Modewort' ist nicht alles abzutun, was nicht schon seit hundert Jahren in unsrer Sprache lebt. Zum Modewort gehört der Begriff des ''Überwucherns'' und der ''Abgedroschenheit''. ,''Neuorientierung' '' ist ein elendes Modewort aus mehr als einem Grunde; ,''Darbietung' '', das Wustmann dafür erklärt, ist keins. Daß es schon im 17. Jahrhundert vorkommt, braucht ein berufsmäßiger Nörgler des 19. nicht zu wissen. Andre als Wustmann haben Neubildungen wie ,''Wissenschafter, Genossenschafter, Draufgänger, Wichtigtuer, Volksparteiler' '' verdammt, und Wustmann, der nie fehlt, wo deutsche Versuche zur Neuschöpfung benörgelt werden, fragt: ,wie manche Leute so geschmacklos sein können, von ''Neusprachlern'' und ''Naturwissenschaftlern'' zu reden', also einen andern Geschmack zu haben als er? Niemand wird im hohen Stil ''Wissenschafter'' und ''Naturwissenschaftler'' schreiben; auch für ''Neusprachler'' wird man da eine andre Wendung suchen und finden. Solche Formen aber der bequemen, selbst der wissenschaftlichen Darstellung ganz zu verbieten, hieße ihr unnütze $Seite 63$ Schwierigkeiten machen. In jenen Bildungen liegt ebensowenig etwas ,Geringschätziges', wie nach Wustmann in ,''Radler' '' und '',Sommerfrischler' '' stecken soll. Ähnlich steht es um das seit mehr als vierzig Jahren bräuchliche, sich immer fester einbürgernde untadlig gebildete ,''völkisch' '', das mit vollem Recht das ein jedes vaterländische Feingefühl verletzende ''national'' zu verdrängen bestimmt und geeignet ist, es auch mit der Zeit gewiß ganz verdrängen wird. Man denke: zur Bezeichnung der deutschen Zugehörigkeit und Gesinnung ein Welschwort aus verstümmeltem Küchenlatein! Es ist ein ebenso schreiender innerer Widerspruch wie ''Patriotismus'' für ''Vaterlandsliebe, Germanisierung'' für ''Eindeutschung''. Daß Wustmann sich nicht an ,''völkisch' '' gerieben hat, wie sich bei ihm von selbst verstände, rührt nur daher, daß er die Einbürgerung des deutschen Wortes nicht mehr erlebt hat. Statt seiner hat der Germanist Gustav Roethe, der eifrige Bekämpfer des Germanentums in der deutschen Sprache, der Verteidiger und Handhaber des wildesten Welsch, z. B. des ,''ethischen Pathos' '' der Helden deutscher Sage, der ,''Atomisierung der Nation durch die Interessenpolitik des Territoriums' '', sich einen Platz in der deutschen Sprachgeschichte gesichert durch seinen Angriff auf das Wort ,''völkisch' '' — in einer Rede auf Bismarck! — und durch dessen Begründung, ganz nach Wustmanns Art, mit dem Herabziehen, dem Entstellen, das zumeist in der Endung ''isch'' liege. Jeder deutsche Schüler kann den welschfrohen Germanisten belehren, daß es eine genügend große Zahl deutscher Wörter auf ''isch'' mit edler oder harmloser Bedeutung gibt, um ''völkisch'' vollauf zu rechtfertigen: ''seelisch, himmlisch, heldisch, irdisch'' (''unterirdisch, überirdisch''), ''landsmännisch, waidmännisch, kaufmännisch, seemännisch, festländisch, vaterländisch, inländisch, ausländisch, binnenländisch, überseeisch, städtisch, ständisch, höfisch'' (davon ''hübsch''), ''künstlerisch, dichterisch, malerisch, bildnerisch, erzieherisch''; dazu Dutzende von Länder- und Völkernamen, darunter — ''deutsch'', das aus ''deutisch'' (althochdeutsch: ''diutisk, diotisk'' = ''völkisch'') entstanden ist. Nun gar die Dutzende von vornehmen Welschwörtern auf ''isch'': ''philologisch, germanistisch, poetisch, lyrisch, dramatisch, tragisch, komisch, kritisch, psychisch, physisch, chemisch, ästhetisch'' usw. Eine Zeit wird kommen, wo kein Mensch begreifen wird, daß gegen ,''völkisch' '' jemals ein Wort gewagt werden konnte; für die Menschen jener Zeit sei der $Seite 64$ Name Gustav Roethe als der des Bekämpfers eines gradezu selbstverständlichen edlen deutschen Wortes hier aufbewahrt. Mehr wird ja keiner alsdann von ihm wissen. Aus allem Vorangehenden soll nicht folgen, daß jeder beliebige Einfall eines untergeordneten Einzelschreibers Anspruch auf liebevolle Beachtung hat. Wer z. B. ''schulisch'' wagt, tut dies auf eigne Verantwortung. Entscheidend aber ist selbst in solchem Falle nicht, ob es von dem oder jenem häßlich gefunden wird — manchen scheint es ja zu gefallen —, sondern ob es sich durchsetzt, d. h. sich in den Sprachgebrauch der Gebildeten einfügt. Ganz unmöglich ist das nicht; und soll durchaus immer von Geschmack geredet werden, so scheue ich mich nicht auszusprechen, daß mir ein reindeutsches Wort ''schulisch'' besser gefällt, als das aus Griechisch und Deutsch zusammengeklebte ''pädagogisch''. Es besteht aber keinerlei Nötigung zu ''schulisch'': ''schulische Fragen'' sind ''Schulfragen, schulische Gesichtspunkte'' sind ''Gesichtspunkte der Schule''. Hingegen widerstrebt mir das rechtsanwaltliche ''beklagtisch'' durchaus; aber es besteht auch keine Gefahr seines Eindringens in die gebildete Sprache. ''Am guten Alten'' ''In Treuen halten''; ''Am kräftigen Neuen'' ''Sich stärken und freuen'', ''Wird niemand gereuen.'' (Goethe.)  
,Für Provinzialismen ist in der guten Schriftsprache kein Raum, sie stammen, woher sie wollen', so gebietet herrisch einer der Sprachschulmeister Deutschlands. Solange es deutsche Schriftsprache und gesamtdeutsches Schriftentum gibt, sind Provinzialismen, wie der Welscher sagt, also landschaftliche und mundartliche Wörter und Wendungen vom guten Deutsch aufgenommen und zu bestem Gemeindeutsch verarbeitet worden. Kaum zu zählen sind die niederdeutschen Ausdrücke, von denen heute nur noch die Sprachgelehrten wissen, daß sie nicht hochdeutsch und erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit schriftdeutsch sind. Niederdeutsch sind die Wörter oder Wortformen ,''echt, Lippe, Diele, Lehm, Damm, Born, Bö, Beute, Odem, Hafer, Hälfte, Sucht, sacht, schwül, Nichte, Nelke, Treppe, ducken,'' $Seite 65$ ''dreist, Wucht, plump, Ebbe, Flagge, Hafen, Bucht, Fracht, lichten'' (Anker), ''beschwichtigen, Laken, Geschwader, Qualm, schlummern, Boot, Klippe, Strand, Tau'' (Morgentau), ''Fracht, Schnippchen (schlagen), Sternschnuppe'' (in Süddeutschland ,''schneuzen' '' sich die Sterne; vgl. Egmont 4, 1), ''Stoppel, dröhnen, hapern, prickeln, schlendern, schnüffeln, stottern, düster, flink' ''. Den Sprachmittlern zufolge wären alle diese Bereicherungen zurzeit ihres Eindringens gemeine ,Provinzialismen' und widerwärtige ,Modewörter' gewesen. Aus dem Bayrischen und Österreichischen, dem Schweizerischen, Schlesischen, Alemannischen, Schwäbischen, Ostpreußischen — von überallher ist der Schriftsprache die Fülle der jetzt unentbehrlichen Bereicherungen zugeflossen, allerdings fast jedes Wort erst nach Kämpfen mit Denen, die sich das Recht zuschrieben, Bestand und Form der Sprache nach ihrem anmaßlichen Geschmack zu verfügen. Wörter wie ,''entsprechen, Klüngel, heikel, Fex, Schneid, staunen, anstellig, geistvoll' '' — gar nicht zu reden von den vielen berlinischen Ausdrücken — sind aus Seitenbächen dem großen deutschen Sprachstrom hinzugerieselt. Alle unsre größten Schriftdeutschen Dichter stimmen darin überein, daß ohne Bereicherung aus der Landschaftensprache das Deutsche mit der Zeit verkümmern müsse. Keller schrieb nachdrücklich: ,Durch energische Geltendmachung der Dialekte wird das Hochdeutsche vor zu rascher Verflachung bewahrt.' Aber schon Goethe hatte erkannt, die Mundart sei ,doch eigentlich das Element, in welchem die Seele ihren Atem schöpft'. Und Lessing hatte den jungen Wieland, den er wegen seiner Welscherei gerüffelt, auf die Sprache der deutschen Schweiz als auf eine reiche Quelle guter Neuwörter hingewiesen, auch manches, z. B. ,''entsprechen' '', sogleich selbst in seinen Sprachschatz aufgenommen. Unentbehrliche Wörter wie ''fühlen, taüschen, Träne'' sind erst durch Luthers Bibel schriftdeutsch geworden. Aus Oberdeutschland stammen: ''staunen, tagen, Ahne''. Vischer pries den Segen des mundartlichen Heimatbodens grade für den deutschen Schriftsteller: ''Wohl mir, daß ich im Land aufwuchs, wo die Sprache der Deutschen'' ''Noch mit lebendigem Leib im Dialekte sich regt, Borne, Milch der Mutter noch trinkt, noch quellendes Wasser am Vom Schulmeister noch nicht rektifiziertes Getränk''! $Seite 66$ Hätten die Sprachmeisterer in Deutschland soviel Macht wie Dreistigkeit gehabt, so fehlten uns heute die schweizerischen Ausdrücke ''Alp, Matte, Grat, Heimweh, anheimeln, Putsch, die süddeutschen Unbill, anheimeln, aufwiegeln, Machenschaft'' (noch neusterdings bekrittelt). Es ist kein Unglück, sondern ein willkommner Reichtum, daß wir in Deutschland für denselben Gewerbsmann mindestens fünf Bezeichnungen haben: ''Fleischer, Schlächter, Schlachter, Metzger, Selcher'', und jeder Schreiber darf nach seinem Geschmack wählen. Mag immerhin das Wort ''Sahne'' fürs Schriftdeutsche Vorherrschen, so darf man doch keinem österreichischen Schreiber sein ''Obers'', keinem ostdeutschen seinen ''Schmant'' als Fehler anstreichen, wenn es inmitten der rechten Umgebung steht, und die berlinisch-norddeutsche ''Strippe'' verdient in gewissen Fällen den Vorzug vor dem tadellosen ''Bindfaden''. Ein schriftdeutscher Vorrang zwischen ''Tischler'' und ''Schreiner'' besteht nicht; so wenig wie zwischen ''Klempner'' und ''Spengler'', und für den Oberdeutschen, auch für den Schriftsteller dieser Reichsgaue, dessen natürlicher Ausdruck ''Samstag'' lautet, wäre ''Sonnabend'' gradezu falsch, so wie ''Samstag'' im Munde eines echten Berliners abgeschmackt klänge. ''Wer aus der Landsprach Gutes nimmt'', ''Das sich für seine Dichtung ziemt'', ''Mich dünkt, der hat nicht missetan'', ''Tut er's mit Kunst und nicht mit Wahn''. (Hugo von Trimberg im ,Renner', 13. Jahrhundert.) An seinem Platz ist jedes Wort jeder Mundart vollberechtigt; ,überall in der Mundart ist heiliger Grund' (R. Hildebrandt). Selbst an sich niedrige Wörter wie ''befummeln, deichseln, fingern, drehen'' (ein Ding) sind bessere Sprache, jedenfalls mehr Sprache als die Klabastereien einer Unsprache wie des Welsch: ''managen, effektuieren, funktionieren, manipulieren, hantieren''. Noch das roheste Mundartwort ist gewachsenes, eignes, echtes Sprachgut; sein welscher Ersatz ist erbastelt und dazu gestohlen. Berechtigt ist jede Mundart, doch darf sie nicht zur Mundunart führen. Manches landschaftliche Wort ist im vertraulichen Alltagsgespräch selbst des Gebildeten kein Fehler, aber im Schriftdeutschen unzulässig. Kein Berliner braucht sich eines gelegentlichen bewußt hemdärmligen ''man'' statt nur, $Seite 67$ ''mang'' statt dabei, ''alle'' statt aus, ''vorbei'' zu schämen; nur soll und wird er's da nicht schreiben, wo sich bestes Deutsch von selbst versteht. Der Schlesier, der zu Schlesiern ''bereits'' statt ''beinah'' sagt, begeht keinen Fehler; er begeht einen, wenn er im Schriftdeutschen schreibt: ,''Die Wunde ist bereits geheilt' '', denn dies wird außerhalb Schlesiens nur so verstanden, daß sie schon ganz geheilt ist, während der Schlesier damit sagen will, sie sei nur beinah geheilt. Schwäbisches ''wirklich'' für ''jetzt, gegenwärtig'' ist für die Schwaben verständlich, im übrigen Deutschland mißverständlich, wie wir auch Schillers Schwäbelei im Munde Fieskos: ,''Und was ist wirklich Ihres Pinsels Beschäftigung?' '' (Fiesko 2, 17) nur mit Hilfe einer belehrenden Anmerkung richtig verstehen. Schillers ,''und schaute mit vergnügten Sinnen' '' wird seit hundert Jahren von der Mehrzahl seiner Leser falsch verstanden: im Schwäbischen heißt es ''vergnügt'', wo wir Andern ''befriedigt, zufrieden'' sagen. Hier läuft die Grenze zwischen Gut und Ungut der Mundart. Nicht weil einer ihrer Ausdrücke an sich falsch wäre, muß er in der Schriftsprache vermieden werden; sondern weil er bei den nicht mundartlichen Lesern zu Mißverständnissen führen kann, ist das Gemeinverständliche vorzuziehen. Aber auch darum, weil er, selbst richtig verstanden, bei den Lesern Anstoß erregt, denn man soll und will durch Geschriebenes nicht Anstoß, sondern Wohlgefallen erregen. Sprechen mögen die Schweizer untereinander ruhig: ''die Töchtern, die Koffern, die Resten''; für gesamtdeutsche Leser sollen sie die schriftdeutsche Form schreiben. ''Vergönnen'' bedeutet für Schweizer ''mißgönnen'', also das Gegenteil des Schriftdeutschen; ''schmecken'' ist dort soviel wie ''riechen'', ''Blasen'' sind ''Blattern'': dergleichen ist aus der Schriftsprache für Nichtschweizer zu verbannen. Gar eine Schreibweise ,''Wenn ich ihn (er) wäre' '', offenbar dem Französischen nachgebildet, ist unzulässig. Hingegen durfte ein Dichter wie Gottfried Keller auch von Reichsdeutschen mit Fug verlangen, daß sie sein ihnen meist unbekanntes Blust hinnähmen und verstehen lernten. Wer nicht für die üppig sprießende Mannigfaltigkeit des Deutschen eine Rasenmähmaschine nach dem Muster der Französischen Akademie als Abwehrmittel wünscht und nicht seine zufällige Sprachheimat für den Mittelpunkt der deutschen $Seite 68$ Welt ansieht, der schreitet mit liebevollem Geltenlassen und einigem Sprachgefühl sicher durch das wilde Unterholzgestrüpp der Mundarten. Die Landratten kennen nur die ''gehißte Flagge''; haben sie ein Recht, die mit Flaggenwesen besser vertrauten seebefahrenen Menschen der Waterkant wegen der ''geheißten Flagge'' zu schelten? Aber darf ich nur, selbst nach Wustmanns Tode, ungerüffelt ''Waterkant'' schreiben? In Süddeutschland sagt man ''Türe'' statt ''Tür''; man sage es dort im Gespräch, schreibe es aber lieber nicht. In Nordwestdeutschland wird ''überall'' gesagt und ''überhaupt'' gemeint; man spreche so untereinander, jedoch nicht zu solchen, die ''überall'' als ''allenthalben'' auffassen, wie die Schriftsprache es überall tut. In Mitteldeutschland, besonders in Thüringen, sagt man gemütlich ''arg hübsch''; man schreibe es nicht in der gehobenen Darstellung. Ebenda heißt es gesprächsweise ''all'' statt ''schon'', ,''das Buch gehört mein' ''; in Westfalen spricht man in etwa; in Schwaben und im größten Teil der Schweiz heißt es ,''der Butter, der Bank, das Ort, das Gesang, das Teller, die Floh' ''. Alles gute Landschaftsprache, aber nicht gutes Deutsch für die Leser außerhalb der Landschaft. In Südwestdeutschland hört man oft: ,''ich habe' '' oder ,''es macht kalt, warm' ''; dies ist Französisch, nicht Deutsch und sollte auch aus der Umgangsprache verschwinden. Goethe hat das eingesehen und ,''.. macht doch eben so warm nicht draus' '', im Urfaust, späterhin verbessert in:,''.. ist doch eben ..' '' Unterschiede wie zwischen norddeutschem Wartesaal und Süddeutschem Wartsaal können unbeschadet einer einheitlichen Schriftsprache getrost auf sich beruhen. Darüber, daß der rheinische ''Nachtswächter'' und das ''Schlüsselsloch'', das hessische ''Vogelshaus'' und die ''Stachelsbeere'' kein gutes Deutsch, sondern höchstens mittelmäßiges Rheinisch und Hessisch sind, wird Einverständnis zwischen hüben und drüben herrschen.  
Eine besondre Betrachtung verdient das Deutsch der meisten österreichischen Schreiber. Seine allbekannten Unarten sind schon so, oft behandelt und gesammelt worden, daß die besinnlichen Österreicher sie überall da ablegen sollten, wo sie zur deutschen Gesamtleserwelt sprechen, zumal in solchen Fällen, wo die ruhige Prüfung ihnen selbst sagen müßte, $Seite 69$ daß es sich um schlechtes, nämlich zweckwidriges Deutsch handelt und um solches, das sich bei keinem unsrer Größten alter oder neuer Zeit findet. ''Vergessen auf.. ''ist nur öfterreichisch, nicht gutes Schriftdeutsch; ''beiläufig'' bedeutet bei keinem guten deutschen Schreiber ''ungefähr'', sondern nur ''nebenbei''; in gutem Deutsch heißt es: '',Ich habe nur noch 10 Kronen' '', nicht '',nur mehr' ''. Auch das falsche schlesische ''bereits'' für ''beinah'' ist schlechte österreichische Art. Das gute Schriftdeutsch kennt nicht die Fügung ,''über Beschluß der Regierung' '', sondern nur ,''auf Beschluß' ''. Das gute Deutsch kennt kein begründendes ''nachdem'' ('',Nachdem mein Sohn krank ist, kann er nicht . .' ''), sondern ''da'' oder ''weil'' muß es heißen; und es weiß nichts von ''jener'' für ''der'' oder ''derjenige'' ('',Der Kaiser ernannte jene Offiziere, die . .' ''). In allen diesen Fällen steht nicht der eine Geschmack, etwa der meinige, gegen einen andern, sondern der herrschende Gebrauch der besten deutschen Schreiber fordert Gehorsam von den guten Schreibern Österreichs. Im übrigen aber keine unnütze Mäkelei: Wustmanns Tadel gegen angeblich öfterreichisches und schlechtes ,''jemand verständigen von . .' '' ist ungerecht: es ist erlaubtes Gemeindeutsch. Und warum soll der Österreicher im Sommer nicht ''am Lande'', der Reichsdeutsche ''auf dem Lande'' wohnen?  +