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G
Hiermit dürften die Fälle aufgezählt sein, in denen vor attributlosen Hauptwörtern das Geschlechtswort wegbleiben kann oder muß; und nur einige Beispiele aus dem Ekkehard Scheffels, der auch durch Weglassung des Artikels seiner Sprache in etwas die Färbung des zehnten Jahrhunderts verleihen wollte, und ein Satz Jensens mögen noch folgen, um zu zeigen, was heute eben nicht mehr möglich und üblich ist: ''an Kopf werfen, sieben Klafter tief in Erdboden, er ging an ihre Zelle und klopfte an Laden, wieder in Verschlag tun, in'' (!)''Schloß fallen, in Wald gehn, in Kampf ziehen, Einschnitte in Kopf''. — Jensen: ''Barfüßig huscht am schmalen Wegrande langbezopfte Dirne''. Jetzt dient eben das Geschlechtswort zugleich dem Zwecke, die Abhängigkeits- und Richtungsverhältnisse anzudeuten, während dazu früher die volleren und mannigfaltigeren Endungen ausreichten, und das sächliche Beispiel ''in Schloß fallen'' verrät deutlich, daß es sich bei Scheffel und falscher Altertümelei wirklich um bloßes Weglassen des Geschlechtswortes handelt, nicht etwa um sogenannte „Anlehnung" der ''n''-Form des Geschlechtswortes an ein auf -''n'' endigendes Verhältniswort//1 Vgl. C. Maydorn, Über die Anlehnung des Geschlechtswortes an, ''in'' = ''an den'', in den: Zeitschr. für d. deutschen Unterricht, XXXII, 236 ff.// Mit solcher Anlehnung, bei der ''von'' = ''von’n, in'' = ''in'n, an'' = ''an'n'' und somit eigentlich ein gedehntes ''n'' zu lesen ist, hat denn auch Goethe noch geschrieben: ''er hält in Armen das ächzende Kind''; H. v. Kleist: ''In Staub mit allen Feinden Brandenburgs''! und Grillparzer in der „Hero“: ''Wie kommt mirs nur in Sinn?'' und: ''Ich gehe wohin? In Turm''. Ehedem überhaupt häufiger, ist solche Fallzusammenziehung, während sie für ''m''-, ''r''- und ''s''-Formen in der Schriftsprache nicht bloß möglich, sondern öfter nötig ist (vgl. § 145), jetzt nur noch dem Volksmunde eigen und wirkt in der Schriftsprache, wenn eben nicht geziert, so niedrig. +
Jede Zusammenziehung wirkt gewaltsam durch die ein von einem einzelnen der verbundenen Sätze gefordertes Satzglied verschwindet, wie in dem Satze von Archenholtz: ''Der Erbprinz wurde abermals verwundet und ein Pferd unterm Leibe erschossen'' (statt: ''und ihm ein Pferd'' ... oder ''und es wurde ihm ein Pferd'' ...). Ebensowenig darf sich zwischen Sätze mit einem gemeinsamen Satzteile ein anderer drängen, der auch einen gleichartigen Satzteil hat, welchen zu ergänzen dann näher läge: ''Der Mörder wird ins Prison'' (!) ''geschleppt, Verhör angestellt und verurteilt'' statt: ''und er'' (''er wird'') ''verurteilt''. +
Mit dem Fachausdrucke nennt man das Tautologien, d. h. Ausdrucksweisen, in denen dasselbe zweimal gesagt ist. Man muß davon wohl die Fülle des Ausdrucks unterscheiden, die von der Stilart, dem Rhythmus des Satzes und von dem Streben, recht gewichtig zu sprechen, sogar gefordert werden kann und somit nicht so selten angebracht sein mag. Deshalb ist es unter Umständen wohl möglich zu sagen: ''Du bringst mir wirklich die Erlaubnis, daß ich reisen darf? Die Regierung erkennt die Notwendigkeit an, daß sie helfen muß.'' Gleichwohl hat schon § 365, 1 von einem andern Gesichtspunkte aus davor gewarnt werden müssen, diese Ausdrucksweise zur Regel werden zu lassen; und im allgemeinen bleiben Sätze wie die folgenden tadelhaft: ''Die Möglichkeit ist nicht ausgeschlossen, daß unter den verschollenen Schiffen sich eins oder das andere befunden haben mag'' (statt ''hat'' oder ''habe''). ''Also war es unausbleiblich, daß Meinungsverschiedenheiten eintreten mußten'' (statt ''eintraten''). Auch sollte man wohl scheiden zwischen einem Substantiv oder Verb mit folgendem ''daß-''Satze, der als nachdrücklicher und selbständiger die Wiederholung des Ausdrucks der Notwendigkeit, Möglichkeit, Erlaubnis usw. eher gestattet, und einer Nennform mit ''zu'', die sich ihrem Substantiv oder Verb enger anschließt und somit die Belastung mit dem Hilfsverb weniger verträgt. Also während man allenfalls einmal sagen mag: ''Ich erlaube, daß du gehn darfst'' statt des auch genügenden: ''daß du gehest'', sollte man nicht sagen: ''Ich erlaube dir'' oder ''die Erlaubnis, gehn zu dürfen'' (statt ''zu gehen''). Lediglich aus vergröbernder Breite des Ausdrucks beruhen zumeist auch die Wendungen: ''notwendig''(''erweise'') ''müssen, gewöhnlich pflegen, unwahrscheinlich scheinen'' oder ''dünken'' (statt ''sein''). Als merkwürdiges Gegenstück zu solcher Überfülle entsteht eine immer öfter zu beobachtende Auszehrung des Ausdrucks, wenn neben Begriffen des Sagens und Meinens in folgender Art die Nennform können, ''dürfen'' u. ä. weggelassen wird: ''weil Herr Philipp das Ehrenrecht, die Kraft zu verkörpern, in Anspruch zu nehmen glaubt'' (statt: ''nehmen zu können glaubt''; Jug. 26); ''Der moderne Bergsteiger glaubt, in seinen Erfolgen die Höchstleistung des Bergsteigens überhaupt zu sehen'' (Z. D. Ö. A. V.) (statt: ''sehen zu dürfen'').
Außer in den § 383 f. besprochenen Fällen entspricht es dem Verhältnisse, worin $Seite 395$ das grammatische Subjekt und das Prädikat zueinanderstehn, daß jenes im Hauptsatze an der ersten, im Nebensatze an der zweiten Stelle erscheint als dasjenige, wovon eine Handlung oder ein Zustand ausgesagt wird. Man lese einige Seiten Goethischer Musterprosa, und dann nehme man eine heutige Schrift, vor allem eine belletristische zur Hand. Man wird sich doppelt entsetzen über die krankhafte Sucht, mit der jetzt oft das Subjekt um seinen natürlichen Platz gebracht wird. ''Auf flüsternde Liebespaare, die aus anderm Grunde als er die Einsamkeit suchten, traf Georg. Das Dach riß der Orkan über dem Haupte weg. Ungehinderten Eingang fand der sausende Wind in die Silberburg. Die Decke zog Laurentia über den Kopf, zusammen fuhr die Enkelin und Tochter. Niedersaß Laurentia''. Selbst aus Übersetzungsbüchern können die Schüler schon solches Musterdeutsch lernen: ''Schenken will ich dir die Werke Schillers. Gelesen werden muß Homer von den Schülern. Nicht sehe ich auf den Kopf des Tieres''. +
Eine rechte Dummheit ist in der Bildung der Adjektiva auf ''isch'' eingerissen bei Orts- und Personennamen, die auf ''e'' endigen; man liest nur noch von der ''Halle’schen Universität'', von ''Goethe’schen'' und ''Heine’schen Gedichten'' und von der ''Ranke’schen Weltgeschichte''. Man übersehe ja den Apostroph nicht; ohne den Apostroph würde die Sache den Leuten gar keinen Spaß machen. In dieses Häkchen sind Schulmeister und Professoren ebenso verliebt wie Setzer und Korrektoren (vgl. S. 7).
Die Adjektivendung ''isch'' muß stets unmittelbar an den Wortstamm treten. Von ''Laune'' heißt das Adjektiv ''launisch'', von ''Hölle höllisch'', von ''Satire satirisch'', von ''Schwede schwedisch''; niemand spricht von ''laune’ schen Menschen, hölle’schen Qualen, satire’schen Bemerkungen'' oder ''schwede’schen Streichhölzchen''. Und sagt oder schreibt wohl ein vernünftiger Mensch: ''dieses Gedicht klingt echt Goethe’sch''? oder: ''er versucht zwar Ranke nachzuahmen, aber seine Darstellung klingt gar nicht Ranke’sch''? Jeder sagt doch: ''es klingt Goethisch, es klingt Rankisch''. Wenn man aber in der undeklinierten, prädikativen Form das Adjektiv richtig bildet, warum denn nicht in der attributiven, deklinierten? Es könnte wohl am Ende einer denken, der Dichter hieße ''Goeth'' oder ''Goethi'', wenn man von ''Goethischen Gedichten'' spricht? Ist es nicht wirklich eine Schande, daß ein solcher Unsinn hat um sich greifen können? August Hermann Franke, der Stifter des ''Hallischen Waisenhauses'' (noch bis ins achtzehnte Jahrhundert hinein sagte man sogar mit $Seite 82$ richtigem Umlaut ''hällisch''),//* Wie man auch das Haus eines Mannes, der ''Plank'' hieß, das ''Plänkische Haus'' nannte, die Mühle in dem Dorfe ''Wahren'' die ''Währische Mühle''.// würde sich im Grabe umdrehen, wenn er wüßte, daß seine Stiftung jetzt das ''Halle’sche Waisenhaus'' genannt wird. Genau so lächerlich aber sind die ''Laube’schen Dramen, die Raabe’schen Erzählungen, das Fichte’sche Svstem, die Heyse’schen Novellen, die Stolze’sche Stenographie, die Moltke’sche Strategie, der Grote’sche Verlag und der Lippe’sche Erbfolgestreit''. Unbegreiflicherweise stammelt man sogar in Germanistenkreisen jetzt von der ''Manesse’schen Handschrift'', die doch seit Menschengedenken die ''Manessische'' geheißen hat.//** Daneben freilich auch schon vom ''Manesse-Kodex''! Es wird immer besser. Vielleicht wird nächstens auch noch der ''farnesische Herkules'' in einen ''Farnese'schen'' verwandelt, und der ''borghesische Fechter'' in einen ''Borghese'schen''.//
Man spricht aber neuerdings auch von dem ''meiningen’schen Theater'' (statt vom ''meiningischen''), von ''rügen’schen Bauernsöhnen'' (statt von ''rügischen''), vom ''schonen’schen Hering'' (statt vom ''schonischen'') und von ''hohenzollern’schem Hausbesitz'' (statt von ''hohen-zollerischem''). Dann wollen wir nur auch in Zukunft von ''thüringen’schen Landgrafen'' reden, von der ''franken’schen Schweiz'', vom ''sachsen’schen'' und vom ''preußen’schen König''! Nein, auch hier ist die Bildung unmittelbar aus dem Wortstamm das einzig richtige. Die Ortsnamen auf ''en'' sind meist alte Dative im Plural. Wenn ein Adjektiv auf ''isch'' davon gebildet werden soll, so muß die Endung ''en'' erst weichen. Es kann also nur heißen: ''bremisch, hohenzollerisch, meiningisch''.
Derselbe Unsinn wie in ''meiningen’sch'' liegt übrigens auch in Bildungen wie ''Emdener, Zweibrückener, Eislebener, St. Gallener'' vor; da ist die Endung ''er'' an die Endung ''en'' gefügt, statt an den Stamm. In den genannten Orten selbst, wo man wohl am besten Bescheid wissen wird, wie es heißen muß, kennt man nur ''Emder, Zweibrücker, Eisleber'', (das ''Eisleber Seminar''), ''St. Galler'', wie anderwärts $Seite 83$ ''Bremer, Kempter, Gießer'' (''meine Gießer Studentenjahre''), ''Barmer''. In Emden wird einer sofort als Fremder erkannt, wenn er von der ''Emdener Zeitung'' redet. Ein wahres Glück, daß der ''Nordhäuser'' und der ''Steinhäger'' schon ihre Namen haben! Heute würden sie sicherlich ''Nordhausener'' und ''Steinhagener'' genannt werden: ''Geben Sie mir einen Nordhausener''!//* Auch die guten Pfefferkuchen, die ''Aachener Printen'', sollen früher in Aachen selbst ''Aacher Printen'' geheißen haben. In einzelnen slawischen Ortsnamen, wie ''Meißen, Posen, Dresden'', gehört das ''n'' zum Stamme; die bilden dann richtig: ''meißnisch, posnisch, Dresdner''.//
All dieser Unsinn hat freilich eine tiefer sitzende Ursache, er hängt zusammen mit der traurigen Namenerstarrung, zu der wir erst im neunzehnten Jahrhundert gekommen sind, und die, wie so manche andre Erscheinung in unserm heutigen Sprachleben, eine Folge des alles beherrschenden juristischen Geistes unsrer Zeit ist. Im fünfzehnten, ja noch im sechzehnten Jahrhundert bedeutete ein Name etwas. Um 1480 heißt derselbe Mann in Leipziger Urkunden bald ''Graue Hänsel'', bald ''Graue Henschel'', bald ''Hänsichen Grau'', um 1500 derselbe Mann bald ''Schönwetter'', bald ''Hellwetter'', derselbe Mann bald ''Sporzel'', bald ''Sperle'' (''Sperling''), derselbe Mann bald ''Sachtleben'', bald ''Sanftleben'', derselbe Mann bald ''Meusel'', bald ''Meusichen'', Albrecht Dürer nennt 1521 in dem Tagebuch seiner niederländischen Reise seinen Schüler ''Hans Baldung'', der den Spitznamen der ''grüne'' (mundartlich ''der griene'') ''Hans'' führte, nur den ''Grünhans'',//** Woraus unsre Kunsthistoriker ''„Hans Baldung, genannt Grien"'' gemacht haben!// und selbst als sich längst bestimmte Familiennamen festgesetzt hatten, behandelte man sie doch immer noch wie alle andern Nomina, man scherte sich den Kuckuck um ihre Orthographie, man deklinierte sie, man bildete frischweg Feminina und Adjektiva davon wie von jedem Appellativum. Noch Ende des achtzehnten Jahrhunderts berichtete der Leipziger Rat an die Landesregierung, daß er ''Gottfried Langen, Hartmann Wincklern, Friedrich'' $Seite 84$ ''Treitschken, Tobias Richtern'' und ''Jakob Bertramen zu Ratsherren gewählt habe''. ''Frau Karsch'' hieß bei den besten Schriftstellern ''die Karschin'' (das heute von „gebildeten" Leuten wie ''Berlin'' betont wird!), und so war es noch zu Anfange des neunzehnten Jahrhunderts. Heute ist ein Familienname vor allen Dingen eine unantastbare Reihe von Buchstaben. Wehe dem, der sich daran vergreift! Wehe dem, der es wagen wollte, den großen ''Winckelmann'' jetzt etwa ''Winkelmann'' zu schreiben, weil man auch den ''Winkel'' nicht mehr mit ''ck'' schreibt, oder ''Goethe'' mit ''ö''! Er wäre sofort von der Wissenschaft in Acht und Bann getan. Das alles haben wir dem grenzenlosen juristischen Genauigkeitsbedürfnis unsrer Zeit zu danken, das keinen gesunden Menschenverstand kennt und anerkennt, das alles äußerlich in Buchstaben „festlegen" muß, und das seine höchsten Triumphe feiert, wenn es eine Straße mit einem Vornamen, eine Stiftung mit einem Doktortitel und ein Denkmal mit einem Doktortitel und einem Vornamen geschmückt hat: ''Gustav Freytag-Straße, Dr. Wünsche-Stiftung, Dr. Karl Heine-Denkmal''.
Grammatisch, d. h. nach den Grundsätzen, die mit der Entwicklung unsrer Sprache immer allgemeiner und fester durchgeführt worden sind, ist nächst der Stellung des Zeitwortes am sichersten die Stellung des Objektes geregelt, das die erste und nächste Ergänzung des Verbs bildet. Bei Zeitwörtern, die nur ein Akkusativobjekt oder zugleich ein Dativ- oder Personen- und ein Akkusativ- oder Sachobjekt nach sich haben, ist dies das Akkusativobjekt; bei Zeitwörtern dagegen, die eine Ergänzung im vierten Falle (Person) und ein genetivisches oder präpositionales Objekt (Sache) oder auch andre mehr oder minder formelhaft mit ihnen verbundene präpositionale Bestimmungen bei sich haben, gelten dafür die genetivischen oder präpositionalen Ergänzungen, auch ein Fach worin sich die schon § 209 gemachte Bemerkung über die Wechselbeziehung der Objekte bestätigt. Diese nächsten Objekte müssen also im Hauptsatze mit einfachem Zeitwort ans Ende oder doch nach dem Ende zu, im Hauptsatze mit zweiteiligem wie im Nebensatze unmittelbar vor den zweiten Teil des Zeitwortes treten. ''Du hast wie immer so auch hierin Recht: da du wie immer so auch hierin Recht hast: Mit welchem Stolze erteilte der Professor dem eigenen Sohne den Preis. Mit welchem Stolze mußte der Professor dem eignen Sohne den Preis erteilen; Man kann sich denken, mit welchem Stolze der Professor dem Sohne den Preis erteilte. Der König zieh den Herzog des Verrates; der König konnte den Herzog des Verrates zeihen; man weiß, daß der König den Herzog des Verrates zeihen konnte. Der Herr beschirme das Dorf gnädiglich vor Hunger- und Feuersnot; der Herr hat das Dorf gnädiglich vor ... Feuersnot beschirmt; er flehte, daß der Herr das Dorf gnädiglich vor ... Feuersnot beschirmen möge''.
Man muß in dieser ausnahmslosen Stellung des dem Zeitwort am nächsten stehenden Sachobjektes die folgerichtige Durchführung jenes unsrer
Sprache vor allen anderen eigenen Strebens erkennen, Haupt- wie Nebensatz deutlich als abgerundete Ganze darzustellen; denn da das einfache Zeitwort des Hauptsatzes dazu nicht genügte, nahm sie mit dem nur der allgemeinen Sprachentwicklung eigenen sicheren Takte seine nächste Ergänzung zu Hilfe. Nur die natürliche Folge dieser Entwicklung ist aber der $Seite 396$ andere Grundsatz, daß das Personenobjekt vor die Sachergänzung treten muß //1 Dieser Grundsatz leitet auch sicher durch die Schwierigkeit, welcher von den bei manchen Zeitwörtern stehenden zwei Akkusativen dem Zeitworte am nächsten stehe; nur muß man dabei noch bedenken, daß auch eine Sache persönlich gedacht werden kann. Von zwei Sachen ist es dann natürlich die persönlich gedachte, die vorangehen muß, oder wie man es für die Wendungen ''fühlen -, sehen lassen, hören machen'' u. ä. auch bezeichnen kann, die, die das Subjekt zu den abhängigen Infinitiven ''sehen, fühlen, hören'' u. ä. bildet. In der Nat.-Z. durfte also nicht stehn: ''Der Kardinal spricht die Hoffnung aus, daß die katholischen Kreise diesen Verrat jenes klerikale Blatt'', sondern: ''jenes klerikale Blatt diesen Verrat fühlen lassen werden''.//. Natürlich darf, was unsrer Sprache so eigenartig und so natürlich geworden ist, nicht ohne Grund außer acht gelassen werden.
Noch weniger als das erste Mittelwort auf die Gegenwart, ist das zweite, das sogenannte Participium praeteriti (oder perfecti, d. h. der Vergangenheit) auf die Vergangenheit beschränkt. Im Gegenteil überwiegt in der ursprünglich schlechthin adjektivischen Form der Begriff der Vollendung, der Fort- und Andauer den der Vergangenheit; denn wenn dieser z. B. auch in Fügungen wie: ''Dies vorausgeschickt, kann ich zu meiner eigentlichen Aufgabe übergehen''; ''die erlittenen Verluste''; ''der am 15. d. eröffnete Ausverkauf wird noch bis Ende des Monats fortgesetzt'', das Übergewicht gewonnen hat, so wird in anderen und an Zahl überwiegenden die Vollendung in der Gegenwart empfunden: ''dies zugegeben, - angenommen, - vorausgesetzt''//2 Die Sache liegt so: Drückt das Partizip Perf. einen aus einer passiven Handlung hervorgegangenen Zustand aus, so bezeichnet es immer Gegenwart oder Gleichzeitigkeit. Außerdem aber bezeichnet es unter der Nachwirkung des Dienstes, den es mit ''haben'' oder ''sein'' zur Bezeichnung der Vergangenheit leistet, auch eine ausgeführte Tätigkeit in ihrem vollen Begriffe, und zwar ebensowohl eine, die in der Vergangenheit nur einmal, als auch eine, die schon in der Vergangenheit wiederholt ausgeführt worden ist und es auch jetzt noch wird, wie endlich eine, die eben ausgeführt in ihrer Wirkung noch fortdauert. Es besteht also kein Recht, solche Ausdrücke bedenklich zu nennen: ''ein gern, viel gelesener Schriftsteller, die in der Schule gelehrten Sprachen'', das in der Bedeutung des Gerundiums gebrauchte Partizip: ''auf bloßem Leibe getragene Kleider''; Sätze wie: ''Wir besuchten die von Quäkern angelegte wie auch betriebene Messerfabrik und wohnten ihrem nahe bei Pyrmont gehaltenen Gottesdienste bei'' (Goethe), und: ''Vorbereitet wurde diese Unterbrechung durch einige aus leicht begreiflichen Gründen nicht genannte Universitätslehrer''. Dieses Hinüberragen in die Gegenwart ist geradezu als uranfänglich vorhanden vorauszusetzen bei einer Form, welche in zahllosen Fällen zum Adjektiv, also zur festen Zustandsbezeichnung geworden ist: ''berüchtigt, ergeben, bekannt, vertraut, beliebt; die überlegte Ernestine'' (Polenz) usw.//''kann man weiter folgern''; ''der gelähmte Fuß''; ''die versicherte Besitzung''; ''der gerettete Knabe'' u. v. a. Der einheitliche Begriff für beide Fälle ist also der des Zustandes: in dem Zustande, daß das und das geschehen ist oder daß es nun so ist.
Sonach ist es ganz sach- und naturgemäß, daß das zweite Mittelwort eines transitiven Zeitwortes passivische Bedeutung hat, das eines intransitiven intransitivische oder aktivische, das eines reflexiven aber überhaupt nicht möglich ist. Denn es ist die Aufgabe des transitiven Verbs, zu bezeichnen, daß durch die Tätigkeit des Subjekts ein Objekt durch die von jenem ausgeübte Handlung in den durch diese bezweckten Zustand versetzt wird; d. h. das Objekt, mit dem neben der aktiven Form: ''ich habe ihn erkannt'', ursprünglich das Parti- $Seite111$ zip wirklich in vollständiger Fomengleichheit gebracht worden ist (''habem inan irchantan''), befindet sich in einem solchen Verhältnis stets in leidendem Zustande, und ein solcher Satz: ''der Vater liebt sein Kind'' (= Subj. + transit. Verb. + Obj.) löst sich auf in Subj. + 1. Partizip: ''der liebende Vater'' und Obj. + 2. Partizip: ''das geliebte Kind''. Das intransitive Zeitwort dagegen bezeichnet so schon einen Zustand oder doch eine Tätigkeit, in der das Subjekt allein begriffen bleibt, ohne sie auf ein Objekt zu übertragen, und so ist ein Vater, der gealtert ist (oder: hat) ''ein gealterter Vater''. Vom reflexiven aber ist das zweite Partizip nicht möglich, weil in einem in sich abgeschlossenen Begriffe, wie dieses ihn darstellt, ohne Subjekts- und Objektsbezeichnung das Verhältnis der Reflexion, die Beziehung der Tätigkeit des Subjekts von diesem auf sich selbst als das Objekt der eigenen Tätigkeit, gar nicht zum Ausdruck gebracht werden kann. Fügungen wie ''Curius Dentatus'' ist die erste wirklich erinnerte Persönlichkeit der älteren römischen Geschichte gründen sich auf Fügungen: ''wenn ich (mir) dies alles erinnere'' (Goethe); ''Mehr, sagte er, erinnerte er nicht'' (Frenssen); vgl. §223!
1. ''Der geliebte Bruder''; ''die stattgefundene Aufführung''. Also zuerst: das zweite Mittelwort transitiver Zeitwörter ist passivisch, und zwar ebenso wohl als Attribut neben dem Hauptworte als frei in Partizipialkonstruktionen: ''das zugerittene Pferd, der damals erlittene Verlust, das verschüchterte Kind''. — ''Noch rechtzeitig von den Gefangenwärtern eingeholt, konnte der Verbrecher gleich wieder in Gewahrsam gebracht werden''. Falsch ist es also, wenn wirklich noch als Verbalformen empfundene Partizipien transitiver Verben aktivisch verwendet und wohl gar wie irgendeine aktivische Form mit einem Akkusativ-Objekt verbunden werden, was nicht selten in Zeitungen geschieht, offenbar aus dem Bestreben, recht viel in einen Satz zu packen: ''die indes die Offensive ergriffene Reservearmee'' (statt ''die Reservearmee, die ... ergriffen hatte''), ''bei dem uns betroffenen Verluste'' (statt ''bei dem Verluste, der uns betroffen hat'') und aus der Kanzlei eines Bezirksschulinspektors: ''des am 1. Juli sein Amt angetretenen Herrn Kgl. Bezirksschulinspektors Dr. Wildfeuer''. In den kaum in einer Zeitung fehlenden ''stattgehabten'' und ''stattgefundenen Vergnügungen, Zusammenkünften'' usw. steckt im Grunde derselbe Fehler und kann auch durch das Zusammenschreiben nicht vertuscht noch durch G. Kellers ''„nach stattgefundener Begrüßung"'' mustergültig gemacht werden; das bleibt so regelwidrig wie sein Satz: ''Einmal kaum im Jahre genießt er flüchtig ein gefehltes Törtchen'', und es kann nicht genug empfohlen werden, sie durch reichlich vorhandene, auch versinnlichendere Wörter wie ''abgehalten, gegeben'' (z. B. ''Konzerte''),'' veranstaltet'', oder durch Relativsätze zu vermeiden. Eine ähnliche Mißbildung enthält Graf Hoensbroechs Wendung: ''auf dem vom Wittenberger Mönche grundgelegten religiösen Boden und die schon Umsturz grollende Zeitungswendung Vertreter des alten Schiffbruch erlittenen und schuldbeladenen Systems''. Warum außerdem auch manches der Form nach richtig angewandte Mittelwort aktivischer Verben nicht anmutet, hat immer seine ganz besondern Gründe, die einzeln auszuführen unmöglich ist. Vor allem gilt es, Mittelwörter, die für sich allein zur Bezeichnung des Zustandes oder eines ganz bestimmten engen Begriffes geworden sind, nicht in weiterem Sinne oder in allen verschiedenen Bedeutungen des Zeitwortes zu gebrauchen, ohne daß die allgemeinere Anwendung durch einen $Seite112$ Zusatz klar wird. So wäre z. B. unmöglich zu ertragen, wenn Jensen nur geschrieben hätte: ''das Porträt seiner besessenen Frau''; aber selbst; wie er geschrieben hat: ''das Porträt seiner kurz besessenen Frau''; und auch der Satz: ''Ich habe mein seit zehn Jahren besessenes Haus verkauft'', versetzt uns einen leichten Ruck, weil wir besitzen in diesem Sinne kaum noch im Passiv gewohnt sind.
2. ''Begegnet'' = als, wenn er begegnet ist; ''gealtert'' = der,
welcher gealtert ist und als er gealtert war. Von intransitiven Verben ist das zweite Mittelwort, wie schon gesagt, aktivisch, oder wenn man lieber will, intransitiv. Aber es fehlt viel, daß es außerhalb des Konjugationssystems von allen gebräuchlich wäre. Im allgemeinen haben es nämlich nur diejenigen intransitiven Verben, deren zusammengesetzte Zeiten mit sein gebildet werden, dies ganz im Einklange mit unsrer Auffassung des zweiten Mittelwortes als einer Form, in welcher der Begriff der Vollendung und Zuständlichkeit überwiegt, wie mit dem, was § 121 zur Erklärung des Wechsels zwischen ''sein'' und ''haben'' bei manchen dieser Verben gesagt worden ist. In absoluter, nicht attributiver Verwendung kommt die Form von allen mit sein zusammengesetzten Verben vor: ''Mit der Regierung in Wien in Unterhandlungen getreten, wollen sich die deutschen Abgeordneten gern möglichst entgegenkommend zeigen''. — ''Dem Prinzen von Preußen nur einmal flüchtig als Referendar begegnet, hatte der junge Diplomat (Bismarck) doch damals ... die Ehre, von jenem wiedererkannt zu werden''. — ''Dem grauen Haar nach zu urteilen bedeutend gealtert, ist der Mann immerhin noch jugendfrisch''. Zu attributivem Gebrauche eignen sich hingegen die Partizipien der beiden ersten Sätze, wie überhaupt die von Verben der Bewegung, leicht erklärlicherweise nicht, weil deren Partizip (trotz seiner Zusammensetzung mit ''sein'') keinen Zustand bezeichnet, den zu bezeichnen aber gerade die Hauptaufgabe des Attributes ist. Desto geeigneter müssen demnach die Mittelwörter der andern mit ''sein'' verbundenen Klasse von Verben, derer, die den Übergang aus einem Zustande in den andern bezeichnen, zu attributiver Verwendung sein: ''der verblühte Baum, das erkaltete Zimmer, der umgeschlagene Wein''; ''vergessene und abgelebte Ordnungen'' (G. Freytag) u. v. a.
3. Nicht: ''der mir begegnete Freund''; noch weniger: ''das gefehlte Geld''. Beispiele wie die folgenden sind durchaus zu beanstanden, da die in ihnen vorkommenden Mittelwörter nichts Zuständliches ausdrücken, sondern Adverbialien und Objekte den Begriff der Tätigkeit kenntlich machen: ''Der gestern abend in der Stadt eingetroffene und im Gasthofe zur Sonne abgestiegene General v. H. hat heute'' usw. — ''Wir liefen im Walde herum und kehrten nachmittags unter die angekommene Menge zurück.'' — ''Der in Utrecht mit ihm zusammengetroffene Dichter''; ''mein spazierengegangener Bruder wird sogleich erscheinen''; ''der den Tod für das Vaterland gestorbene Leutnant''. ''Die in Frankfurt zusammengetretenen Fürsten''; ''die neu ausgebrochene Fehde'';'' die aufgetauchte Nachricht''; ''die nachgefolgte Dienerschaft''; ''eine Schar herbeigestrebter Gondeln'' (Frecksa, Univ. 26). Nur wenn in solchen Fügungen die Begriffe der Fortdauer und Zuständlichkeit überwiegen, werden sie einwandfrei wie etwa: ''das abermals eingefallene'' (= herrschende) ''kalte Wetter''; ''die in Unterhandlung mit Dänemark getretene'' (= befindliche) ''Großmacht''; ''die vorange-'' $Seite113$ ''gangenen Veränderungen, der in den Ruhestand getretene Oberlehrer, die eingerissene Unordnung, die durchgedrungene Kraft''; und die der Verkehrssprache kaum mehr zu verübelnden ''gekündigten Arbeiter''. Jensen konnte sehr wohl von einem ''verlaufenen Hunde'' reden, aber nicht davon, daß sich ein bisher südwärts verlaufener Bach nach Osten wende. Noch verwerflicher sind die Fälle, daß Mittelwörter haben zu sich nehmender Verben absolut oder attributiv in einem Gebrauche stehn, zu dem sie nach dem S. 110 f. Ausgeführten ungeeignet sind, so gut bei Ed. Heyck: ''der tragisch geendete Arminius'', wie: ''das gefehlte Geld, die gegen die Dänen gekämpfte Brigade''. Ähnlich sind ''der abgenommene Mond'' oder bei G. Keller: ''die so lange vorgeschwebten Stoffe'', bei Riehl: ''die überhandgenommene Zersplitterung'', bei v. Boyen: ''die früher unter dem Herzoge von Braunschweig gestandenen Truppen''; ''die bestandenen''//1) Bei bestehen wird die Fügung leichter erklärlich aus seiner früheren Verbindung mit ''sein''. Selbst in der Bedeutung ''durchkommen'' sagt nicht bloß Luther: ''wodurch ist denn die Kirche auf den Conciliis bestanden'', sondern noch Goethe: ''dieses Mädchen ist sehr wohl bestanden''. Es ist auch noch besonders häufig, z. B. in der Z. des Alpenvereins: ''Wahrzeichen einst bestandener Gletscher''. Vgl. auch Anm. 2.//''europäischen Verhältnisse''; ''aus dem wenig gelittenen benachbarten Polen'', bei Avonianus: ''der so unglücklich geendete Direktor Alfred Meißner; unser zum Segen der Stadt gewirkter'' (!) ''Bürgermeister'' (Götting.-Ztg. 26). In den Tagesblättern kommt dieser Fehler, der leicht durch Relativsätze//2 Der papierne Stil zuerst der Kanzleien hat freilich noch ein anderes Aushilfsmittel, aber ein ganz unnatürliches und abscheuliches; er macht nämlich solche eine abgesoffene Handlung bezeichnende Mittelwörter zum Ausdrucke einer in der Vergangenheit sich vollziehenden Handlung geeignet, indem er ''habend'' hinzufügt: ''das gelitten habende Polen''. Dieser Mißbrauch hat sogar zwei Mißbräuche seinesgleichen neben sich: die Einschiebung von ''gewesen'' hinter passivischen Partizipien und die Bildung des Plusquamperfekts derart: ''ich hatte gelesen gehabt; Simon Kooper habe die Mordpläne geheim gehalten, bis alles geschehen gewesen sei'' (Hans Grimm, D. A. Z. 4. 1. 29). Über den letzten Unfug braucht man kein Wort zu verlieren, und wenn ihn auch Jensen mitmacht.: ''Wo die Axt schon gelichtet gehabt'' (statt ''gelichtet hatte''), ''schossen überall Tannen wieder auf''. ''Der Schleier, der die Vogesen überfüllt'' (!) ''gehabt'' (statt ''überfüllt hat'' oder ''überfüllte''), ''beginnt zu zerrinnen''. — Mit ''gewesen'' verbreitert man oft auch bloß die Form in häßlicher Weise: ''heute, 40 Tage nach der sowieso schon mehrfach hinausgeschoben gewesenen Eröffung''. — Manchmal vermeint man freilich dadurch einen Zustand genau als einen solchen bezeichnen zu müssen der vor einer vergangenen Handlung bestanden hatte: ''Aufschlüsse über eine alte bis dahin aller Kunde entzogen gewesene Zivilisation''. Durchaus unnötig. Denn dasselbe Verhältnis drückt nach S. 110 Anm. 1 das einfache Partizip ebensogut aus: ''Schon wurden als Ergebnis der Expedition 22 einst an einem Torbogen angebrachte Skulpturen aufgestellt''. Noch deutlicher bewies das ein Münchner Berichterstatter über das neue Stück „Unschuldig verurteilt" seinem Berliner Amtsbruder; denn während dieser in dem gleichen Berichte sagte: ''Das Stück schildert die Befreiung eines des Mordes fälschlich angeklagt und 15 Jahre eingesperrt gewesenen Mannes'', kam jener ohne gewesen aus: ''das Stück schildert die Befreiung eines unschuldig des Mordes angeklagten Mannes, der ....'' Noch gründlicher ist das Breslauer Stadtgericht mit dem gleichen pedantischen Streben, alle möglichen Zeiten durch, besondere Formen bezeichnen zu wollen, durch eine — glücklich dreimal geschiedene Frau ad absurdum geführt worden: ''Jos. Joh. Sophie, geschiedene Storch, geschieden gewesene Jong, geschieden gewesene Krüger, geborene Leibmeier''; so gut das zweite und dritte Mal nicht unterschieden werden konnte, war es auch beim ersten und zweiten nicht nötig. Freilich auch G. Keller bietet: ''Er hatte den Reisezug wieder erreicht gehabt gerade in der Nähe Zürichs''; F. v. Saar: ''nachdem die verlassen gewesenen Sitzplätze wieder eingenommen waren''; und E. Zahn: ''du hast wohl gar vergessen gehabt''; und: ''Ein wenig hatte er über Geschäften ihrer vergessen gehabt''. — So schwerfällig und steif$Fußnote auf nächster Seite fortgeführt$papiern wie diese mit ''gewesen, gehabt'' und ''habend'' zusammengesetzten Vergangenheitsformen wirken auch die Partizipien aller andern Hilfszeitwörter, wenn sie Infinitive regieren, vollends passivische: ''Schon der mich besuchen wollende Freund traf mich nicht an'', ist unschön, ganz entsetzlich aber solche: ''das morgen begangen'' (werden) ''werdende Fest''. Untadelhaft ist der Gebrauch dieser Partizipien nur in einigen Formeln: ''nicht endenwollender Beifall''; dann besonders ''wollend'' und ''sollend'' mit ''sein''; ''ein sein wollender Gelehrter, ein sein sollender Witz''//vermieden werden kann, $seite 114$ am häufigsten vor in den Mitteilungen über Verlegung von Truppen und Versetzungen ihrer Ober- und Unterführer; denn da wird von einem so und so lange dort gestandenen Offiziere gemeldet, was doch wahrlich keine Angabe eines Zustandes ist, oder von einem Jahre lang in der und der Stadt gelegenen Regimente; und doch kann es an keinem Worte so fühlbar werden als am letzten, daß allein der Begriff der Zuständlichkeit das Partizip zu attributivem Gebrauche geeignet macht, indem daselbe Wort zur Bezeichnung der Lage eines Ortes gar wohl tauglich ist: ''das zwei Meilen von Dresden stromauf gelegene Pirna''.
4. ''Der unpräparierte Tertianer''; ''ungewaschen...'', ''ungefrühstückt aufbrechen'' u. ä. Der Begriff der Zuständlichkeit rechtfertigt sogar die eben deshalb nur scheinbaren Ausnahmen von der Regel, daß das zweite Mittelwort mit haben zusammengesetzter intransitiver Verben für sich allein nicht gebräuchlich und das transitiver Verben immer passivisch sei. Nur lassen die meisten in solcher Beziehung eine Ausnahme darstellenden Wörter nur einen Gebrauch zu, entweder nur den attributiven oder nur den prädi-kativen und absoluten. Jenen z. B. die fast zu Eigenschaftswörtern ge-wordenen Partizipien: ''geschworen, (aus)gelernt, erfahren, verdient, ver-schwiegen, ausgeruht, vergessen, studiert''//1 Dem letzten Worte nachgebildet scheint die ganz junge Blüte des Kanzleistils und besonders des Gerichtssaales: ''der dort und dort domizilierte'' (statt ''domizilierende'' oder besser: ''bedienstete, dienende, aufhältliche'') ''Knecht''.//; denn man sagt wohl: ''die Armee sieht ihren Feldherrrn bei einer vergessenen Vorsicht ertappt'' (v. Boyen) oder: ''Ich bin sein geschworener Feind'', aber nicht z. B.: ''Ihm Rache geschworen gingen sie gleich daran, sie auszuführen.'' In der zweiten Weise trifft mit einem heimischen Vorläufer, dem Chronisten Stumpf von Pfäfers (1540!): ''etliche, die ungebadet wiederum hinweggefahren sind'', G. Keller zusammen: ''Sie ging ungegessen zu ihrem Lager'', und: ''Das Kloster ist schon hergerichtet wie eine Mausefalle, nur daß man ungesündigt hineinspaziere.'' Überhaupt sind diese denkenswert knappen Wendungen recht beliebt geworden, wachsend auch ohne die Vorsilbe ''un-'', die deutlichst den Übergang ins Zuständliche kennzeichnet (Vgl. § 34, 1): ''ungegessen, ungefragt'' (z. B. ''zu Bett gehn''), ''ungespeist, ungefrühstückt, gefrühstückt, ungebeichtet, ungebetet''. ''Heute früh kaum gefrühstückt, saß mir Karoly schon gegenüber'', schreibt z. B. Bismarck, und Riehl: ''er zündete sich ungefragt eine Zigarre an.'' In beiden Weisen steht z. B. ''ausgeruht'': ''unausgeruht im Joche ziehn'' (Uz) und: ''Ich bestieg mein ausgeruhtes Pferd wieder'' (Boyen), wozu sich noch G. Freytags Anwendung des einfachen Wortes gesellt: ''Morgen wird sie Augen brauchen, die fest im Kopfe stehn, und geruhte Glieder.'' Ebenso ''unpräpariert'': ''unpräpariert zur Schule kommen''; ''der unpräparierte Tertianer'' (Gutzkow). Jos. Ponten schreibt: ''Die ländlichen Arbeiter brachen eilig nach dem Bahnhof auf. ,,Ungezahlt!" rief einer'', und sogar: ''die Gestalt des eben gut gespeisten Herrn'', und: ''wie'' $Seite 115$ ''Brigitta den wohlgegessenen Herrn sich erheben sieht.'' Ad. Schopenhauer berichtet: ''Ich war gleich wieder die geschmeichelte (sich geschmeichelt fühlende) Mama''; Ann. v. Droste-H. singt: ''Du liegst, ein armer kalter Rest, im Strahl verflattert und versungen bei deinem halbgebauten Nest.'' Ähnlich steht bei Trentini: ''Blutbetrüger, verfluchter, verspielter'', und DAZ. 28: ''der überspielte Junge'' und: ''wir stehn verhorcht an gleichem Wort.'' Aber bedenklich bleiben die volkstümlichen ''gedienten'' wie ''ungedienten Hausmeister''. Ganz allgemein verbindet sich das zweite Mittelwort eines beliebigen Zeitwortes mit einem Verbum der Bewegung, vor allem ''kommen'', um den Zustand zu bezeichnen, in dem die Bewegung vor sich geht: ''Er kommt angefahren, ...getanzt''; aber auch: ''Ich rutschte fort, mit dem kranken Bein auf einen Stuhl gekniet'' (v. Boyen).
Das Hauptübel, an dem der deutsche Satzbau noch leidet, zumal bei Gelehrten, aber auch bei Männern der Zeitungen, ist der zumeist in der Lateinschule eingesogene Wahn, daß das in der lateinischen Sprache herrschende Stilgesetz der Unterordnung und Einschachtelung auch unserer Muttersprache wohl anstünde. Was aber die auf der Hochschule Gebildeten tun, das ahmen die meisten Berichterstatter nach, als ob sie erst dadurch auch auf die Höhe jener Bildung kämen, während solche Sätze vielmehr ein Zeichen sprachlicher Verbildung sind; denn unsere Sprache, immer wieder muß es gesagt werden, ruft uns zu: Ordne bei und reihe an!
Das Ungeheuerlichste leisten heutigen Tages immer noch Gerichte//1 Trotz der gediegenen Schrift von dem Norddeutschen J. Brons, Ein neuer Stil fürs Strafrecht (Leipzig, W. Meyer 1924) und der ebenso sachernsten wie geistvoll launigen des Mitteldeutschen Rich. Deinhardt, Ausdruck und Gedanke in deutschen Amtsstuben gegen die vertrocknete Tintenweis (Jena Neuenhahn 1926), und Sinn und Nichtsinn im Zivilurteil, (Jena 1928, Vopelius).//, zumal ihnen der oberste deutsche Gerichtshof mit keinem guten Beispiel vorangeht. Nur eine seiner Entscheidungen zum Beweise: ''Diese beschränkte Anfechtung wird übrigens auch nur zu einem Ziele führen, wenn nicht auch bei Beseitigung des Abkommens, doch immer weil das Rechtsgeschäft bestehen bleibt, das die Schuld begründet, die gesetzliche Befug-'' $Seite 414$ ''nis zur Aufrechnung, die für den Fall des Konkurses nach § 47, Absatz 1 der Konkursordnung von gewissen sonst geltenden Voraussetzungen unabhängig ist, bestehen bleibt, also nur dann, wenn, während an sich wegen der Natur der Forderung oder der Schuld die Kompensation aus Gründen, die nicht durch § 47 a. a. O. beseitigt werden, unzulässig wäre, durch jenes Abkommen dieselbe vollzogen oder ihre künftige Vollziehung vereinbart oder die Natur der Forderung oder der Schuld mit der Wirkung des Eintritts der Kompensabilität geändert worden wäre.'' An einem immerhin verständlicheren Satze auch eines Juristen mag wieder einmal gezeigt werden, wie sich dasselbe auch noch deutlicher und deutscher sagen ließe.
[Spalte 1] ''Kommt der Umstand, auf den, da das Unternehmen Privatunternehmen ist, nur hingewiesen werden soll, noch hinzu, daß ein Verzeichnis für das Reich sehr umfänglich werden und nur dann den durch dasselbige'' (!) ''beabsichtigten Zweck erfüllen dürfte, wenn dasselbe in kurzen Zwischenräumen Nachträge erhielte, so daß der Absatz desselben infolge des Kostenpreises ein sehr schwieriger sein wird, so mußte auf ein ausdrückliches Bedenken aufmerksam gemacht werden, daß jeder Manifestant, mag die Ursache zur Manifestation gewesen sein, welche sie will, für alle Zeiten als kreditunwürdig gekennzeichnet wird.''
[Spalte 2] Besser: ''Da das Unternehmen Privatunternehmen ist, so mag auch darauf hingewiesen werden, daß ein Verzeichnis für das Reich sehr kostspielig werden und darum wenig Absatz finden dürfte. Denn es ist nicht nur sowieso sehr umfänglich, sondern müßte auch, um seinen Zweck zu erfüllen, in kurzen Zwischenräumen Nachträge erhalten. Ausdrücklich aber muß auf das andere Bedenken aufmerksam geacht werden, daß jeder Manifestant, mag'' usf. wie links.
Was nützt alle Richtigkeit und Künstlichkeit solcher Sätze, wenn sie schwer verständlich werden, da ein Faden, kaum daß er angesponnen ist, immer gleich wieder durch einen andern dazwischenschießenden verdeckt wird und sein zugehöriges Ende kaum sicher und schnell genug aufzufinden ist?
Schlimmere Wirrsal als in allen andern Fällen trübt heute das Verhältnis der beiden vergleichenden Bindewörter ''als'' und ''wie'': freilich wohl erklärlicher Weise, da die Sprachgeschichte für als eine vollständige Umkehr seiner Bedeutung nachweist. Mag die Entwicklung auch noch nicht völlig abgeschlossen sein, so muß sie doch kräftigst gefordert werden, da sie auf nichts Geringeres hinausläuft, als wieder, wie ehedem, verschiedene Ausdrucksmittel für die Verschiedenheit einer- und für die Gleichheit und Ähnlichkeit anderseits zu schaffen. Oder wäre das Deutsche nicht mehr fähig, einen solchen Unterschied zu wahren, wie er von einem feinen Stilgefühl gefordert und von den Franzosen zwischen ''comme'' und ''que'', den Engländern zwischen ''as'' und ''than'' durchaus beachtet wird?
Das Mittelhochdeutsche hatte ehedem gar drei vergleichende Bindewörter: ''denn'' nach Komparativen (''werder, danne ich sî''), ''als'' zu Vergleichen auf derselben Stufe, also nach Positiven (''Sein Kleid war weiß als der Schnee noch'' Luther) und ''wan'' (''auch danne'') nach Verneinungen (''niht wan ein geschrîe''). Es schied damit so fein als streng die verschiedenen Vergleichsstufen; da trat gleich den fragenden Fürwörtern ''welcher'' und ''wer'' § 99 f. auch das fragende Umstandswort ''wie'' in die beziehende Bedeutung über und gab dadurch den Anstoß zu einer durchgehenden Verschiebung im Gebrauche der Vergleichspartikeln. Das neue ''wie'' trat an die Stelle von ''als'' nach Positiven und dieses//1 Seine Verwendung vor dem Aussageworte, in der seine Bedeutung bis zur vollständig gleichsetzenden Kraft gesteigert ist, kommt hier nicht in Betracht: ''Er erwies sich als zuverlässig; Als Mensch mild, konnte er als Feldherr sehr streng sein''.// dafür an die Stelle von ''danne'' nach Komparativen und von ''wan'' oder ''danne'' nach Verneinungen und andern Ausdrücken der Verschiedenheit, hinter denen das alte ''denn'' nur noch erhalten geblieben ist, wenn sonst zwei ''als'' zusammentreffen würden. Wenn sonach die Sprache aus einer unorganischen Störung neue Mittel zur Unterscheidung zu schaffen vermocht hat, gilt es, deren Wirkung nicht wieder abzuschwächen. Vor allem muß diesmal der Norden Deutschlands seine größere Vorliebe für ''wie'' und auch ''denn'' bekämpfen.
Letzteres darf also nach Komparativen nicht mehr anstatt ''als'' gesetzt werden, außer im gehobenen Stile und im Dienste der stilistischen Schönheit. Wenigstens geziert klingt also: ''Karl ist älter denn'' (statt ''als'') ''Emil''; feierlich gemeint ist in G. Hauptmanns Em. Quint: ''einen Menschen, der mehr ist denn ihr, aber bedenklich sein: Ich bin so'' (!) ''schlecht gekleidet denn ihr''. Dagegen mustergültig für jede Stilgattung wechselt der nämliche: ''Deshalb wollte er nicht als ein besonders ausgezeichneter Lehrer zu den Menschen herniederkommen, sondern äußerlich mehr wie'' (d. i. ''gleich'') ''jedermann, weniger öffentlich als im Verborgenen Gutes tun''; ebenso schon Wieland: ''Kerim war offenbar ein besserer Ratgeber, wie ein Sultan sie nötig hat, als der unpolitische Danischmend'', und jetzt Walzel: ''Recht hat, wer die'' $Seite 285$ ''Dichter unserer Tage minder wie ausgeprägte Persönlichkeiten von starkem Eigenwillen als vielmehr wie einen Chorus faßt'', und die DAZ. 26: ''In der Aufstellung dieser Probleme ist der Roman wertvoller denn als Gestaltung''. Ebenso ist allein richtig wegen des Vorhandenseins eines andern, prädikativen ''als'' der Satz bei R. E. Prutz; ''Lieber betteln, denn als Gaukler sein Brot verdienen''; 1913 Graf v. Reventlow: ''Der Monarch betrachte sich als ein höher geartetes Wesen denn andere Menschen''; 1916 Fr. Gundolf: ''Die Liebe, von der Goethe Kunde gibt, tritt weniger als Leidenschaft denn als Galanterie auf''. Dieses ''denn'' ist in solchem Falle die einzige Aushilfe, und nimmermehr darf das Zusammentreffen zweier ''als'' dadurch vermieden werden, daß eins unterschlagen wird wie bei A. Soergel: ''Nietzsches Basler Jahre sind nicht besser zu bezeichnen als'' (statt ''denn als'') ''die Zeit der Freundschaft mit Wagner''. Ebensowenig darf statt des nach Komparativen und Negationen sonst allein zu gebrauchenden ''als'' ein ''wie'' eingeschmuggelt werden, wie in der National-Ztg.: ''Fürst Bismarck wäre als Volksvertreter noch tödlicher wie'' (statt: ''denn'') ''als Minister''. Diese brachte freilich auch fertig: ''daß er sie wohl weniger als Stammgenossen als als Freunde des Herzogs Friedrich geschätzt haben wird''. Wenn man dagegen außer ''denn'' noch gelegentlich die Verhältniswörter ''über'' und ''vor'' hinzuzieht und gegen mehrere in verschiedener Bedeutung verwendete ''als'' nicht zu empfindlich ist, sobald sie nur durch einige Wörter getrennt sind, so wird man nie genötigt sein, wie fälschlich auch nach Komparativen zu setzen. Wieland konnte Eintönigkeit und Unklarheit zugleich vermeiden, wenn er nicht schrieb: ''Ich will keinen Augenblick länger mehr wie alle andern von dir geliebt sein als solange ich dir liebenswürdiger scheine wie die andern'', sondern: ''Vor allen andern'' (oder ''über alle andern'') ''von dir geliebt will ich nur solange sein, wie ich dir liebenswürdiger scheine als alle andern''.
Noch schlimmer freilich sind die jetzt so beliebten doppelten Superlativbildungen, wie ''die besteingerichtetsten Verkehrsanstalten, die bestbewährtesten Fabrikate, die bestrenommiertestn Firma, das bestverbreitetste Insertionsorgan, der feinstlaubigste Kohlrabi'' u. ähnl. (statt ''der besteingerichteten'' oder ''der bewährtesten''). Für ''so gut wie möglich'' kann man natürlich auch sagen: ''möglichst gut''. Es gibt ja verschiedne Grade der Möglichkeit, es kann etwas ''leichter möglich sein'' und auch ''schwerer möglich''; man sagt auch: ''tue dein Möglichstes''! Wie muß sich aber diese Steigerung mißhandeln lassen! Die einen stellen die Wörter verkehrt, bringen den Superlativ an die falsche Stelle und sagen ''bestmöglich'', in der irrigen Meinung, das Wort sei eine Zusammenziehung aus: ''der beste, der möglich ist''; andre wissen sich gar nicht genug zu tun und bilden auch hier wieder den doppelten Superlativ ''bestmöglichst, größtmöglichst'': ''mit größtmöglichster Beschleunigung''. Das beste ist es, auch solche schwülstige Übertreibungen ganz zu vermeiden. Das gilt auch von der beliebten Steigerung: ''der denkbar größte''. Wenn ein Nutzen nicht der ''denkbar größte'' wäre, so wäre er doch auch nicht ''der größte''. Welch unnötiger Wortschwall also!
Vollkommner Unsinn ist es natürlich, wenn gedankenlose Menschen jetzt ''der erste beste'' zusammenziehen in ''der erstbeste'', wenn ein Arzt bittet, ''möglichst keine Briefe an ihn zu richten, da er verreist sei'', eine Herrschaft ''einen möglichst verheirateten'' oder ''einen möglichst unverheirateten Kutscher zu möglichst sofortigem Antritt'' sucht, Zeitungen ihre Abonnenten auffordern, ''das Abonnement baldgefälligst zu erneuern'', oder ein Kaufmann seine Kunden bittet, ''ihm baldmöglichst'' oder ''baldgefälligst ihre geschätzten Aufträge oder Bestellungen zukommen zu lassen''. Was sie meinen, ist weiter nichts als: ''womöglich keine, womöglich verheiratet, womöglich sofort'', und: ''möglichst bald, gefälligst bald''.
$Seite 43$ Ebenso unsinnig ist es, wenn ein Superlativ von ''einzig'' gebildet wird: ''der Einzigste, der bisher großes in diesem Fache geleistet hat''. ''Einziger als einzig'' kann doch niemand sein.
1. Wo auch bei einem solchen Meister so sinnlose Bilder herkommen? fragt der Leser, da dieser doch nicht von heute auf morgen zu liefern genötigt sei wie vor allem die Männer der Zeitung. Daß da nicht bloß Flüchtigkeit der Grund sein kann, ahnt er ganz richtig; die ist es aber auch bei den Männern der Zeitung nicht allein. Damit er selber den richtigen, nicht minder verderblich wirkenden erkenne, lese er nur noch die folgenden zwei Sätze aus dem nämlichen Werke, dazu mehrere aus Zeitungen: ''Die Lage, Umgebung und Natur Teinachs sind gewiß anziehend, doch im engen Talgrunde immerhin Geschmacksache und bei großer Gästezahl allerorten schnell überfüllt'' (Jensen); und gar: ''Die Belästigung durch Mücken ist stellenweise erheblich; galante Herren pflegen sich ihrer'' (!) ''zu bedienen'' (!)'', um durch Anzündung wehrhafter'' (!) ''Zigarren anwesende'' — natürlich ! — ''Damen gegen sie zu schützen'' (ders.). In Zeitungen wird das Steigen der Börsenpapiere also versinnbildlicht: ''Munter wie die mit Drachen spielenden Knaben steigen'' — in Wirklichkeit steigen aber die Drachen, nicht die Knaben! — ''die Papiere in die scheinbar'' (!) ''klare Luft'', und Berichterstatter über Heimatliches schwingen sich zu den kühnen Wendungen auf: ''ein Stück Leinwand mit'' $Seite 455$ ''zwei Löchern zugunsten der Augen. Auch die Kasernenstraße und Hältergasse erhielten durch das Wasser Besuch. Die Haus''(!)''frau des Vorstandes hatte — für den einziehenden neuen Lehrer — ein reichliches Freundschaftsmahl angerichtet, um dem Fremdling die fremde Scholle Erde in genußreichstem Zustande zu unterbreiten'' — der arme Erdschlucker! Nach einem andern wurde ''das Fest einer goldnen Hochzeit durch Posaunenklänge umrahmt''; und das erinnert lebhaft an die Art, wie auch in einem größern Blatte z. B. der durch die Einweihung der Salzburger Bahn herbeigeführte erhebend schöne Anblick geschildert worden ist, ''fünf sonst tobende Dampfwagen in feierlicher Hingebung sich dem Altar nahen zu sehn, dem gegenüber sie aufgestellt bleiben'', und in einem andern eine Huldigung: ''Auf alle Fälle schrien die Leute abermals Evviva und die Gondel kenterte fast, durchlöchert von den Beifallssalven der Leute am Ufer''.
Sehr schwer wird unser Denkvermögen auch verletzt, wenn namentlich in dem Verhältnisse des Hauptwortes und seines Beisatzes oder auch sonst sich entsprechender Glieder eines oder verschiedener Sätze Dinge einander gleichgesetzt werden, die sich sachlich nicht decken, $Seite 436$ weder ganz noch teilweise, und wie sie nicht die gleiche Daseinsform haben, so auch grammatisch verschiedenen Wort- oder doch Begriffsklassen angehören. Eine Person kann nicht einem Zustande, eine bloß in Gedanken vorhandene Vorstellung, eine Handlung und Eigenschaft nicht einem Gegenstande noch eine Person einem Begriffe, ebensowenig, außer in substantivierter Form, ein Adjektiv oder Verb einem Substantiv gleichgesetzt werden, und gleich wenig alles dies wechselseitig umgekehrt. Dennoch begegnet man sehr oft der Formel ''F. Grützner, Schirmgeschäft'', während es doch heißen sollte: ''G. Weiß, Schirmfabrikant'' oder ''F. Grützners Schirmgeschäft'' oder ''Schirmgeschäft von F. Grützner''; und auf großen Inschriften, die lediglich die Art des Geschäfts und seinen jetzigen oder alten Firmeninhaber angeben, aber keine satzartige Aussage enthalten, kann man sich, zumal wenn ein Punkt dazwischen oder der Name darunter steht, ruhig gefallen lassen: ''Erste Haindorfer Spinnerei. Gebrüder Hirsch.'' Sobald jedoch irgendwelche Satzform auftritt, können auch Anzeigen der folgenden häufigen Art nicht gutgeheißen werden: ''Anton Lipp, Blitzableiterfabrikant, München, gegründet 1850, fertigt Blitzableiter nach neuster Vorschrift.'' Auch bei der richtigen Form: ''Anton Lipp's Blitzableiterfabrik, München, gegr. 1850, liefert'' usw., lassen sich in Vermerken und an den Ecken allerhand weitere Bestimmungen anknüpfen; und wenn diese nur abseits stehn und keine satzförmige Aussage bilden, brauchen sie auch nicht unbedingt der Satzfügung eingeordnet zu werden. Derselbe Fehler wird auch oft bei Aufzählungen begangen, gleichviel ob sie auf Speisekarten stehn oder auf Vortragsordnungen höherer Schulen oder in Büchern. Eine Speisekarte zählt z. B. auf:
''Kalte Speisen:''
''Kalter Aufschnitt, pro Kuvert (!) M. 1,20.''
''Kinder unter 10 Jahren ,, —,80''
''(statt eingerückt: für Kinder —,80)''
''Rühreier'' —''
Eine Geschmacklosigkeit, die sich in der Sprache unsrer Geschäftsleute mit großer Schnelligkeit verbreitet hat, besteht darin, zu einem Personennamen eine Sache als Apposition zu setzen, z. B.: ''Gustav Fischer, Buchbinderei, Th. Böhme, Schuhmacherartikel und Schäftefabrik O. Lehmann, Säcke und Planen''. Früher sagte man vernünftigerweise: ''Gustav Fischer, Buchbinder'', und wer zu verstehen geben wollte, daß er sein Geschäft nicht allein, sondern mit einer Anzahl von Gesellen betreibe (jetzt heißt es vornehmer: ''Gehilfen'', obwohl ein Geselle von damals viel mehr zu bedeuten hatte als so ein moderner Gehilfe!), sagte: ''Gustav Fischers Buchbinderei'' oder ''Buchbinderei von Gustav Fischer''. Der Unsinn, einen Menschen eine Buchbinderei zu nennen, ist unsrer Zeit vorbehalten geblieben.
$Seite 218$ Man könnte einwenden, in solchen Verbindungen solle der Personenname gar nicht den Mann bedeuten, sondern die Firma, das Geschäft; in dem Zusatz solle also gar keine Apposition liegen, sondern mehr eine „Juxtaposition." In den altmodischen Firmen sei nur der eine Satz ausgedrückt gewesen: (''hier wohnt'') ''Gustav Fischer''; in den neumodischen Firmen seien zwei Sätze ausgedrückt: (''hier wohnt'') ''Karl Bellach'', (''der hat eine'') ''photographische Anstalt'', oder: (''hier hat sein Geschäft'') ''Siegfried Cohn'', (''der verkauft'') ''Wolle''. Wie steht es denn aber dann, wenn man in einem Ausstellerverzeichnis lesen muß: ''Herr F. A. Barthel, Abteilung für Metallklammern'', oder in einer Verlobungsanzeige: ''Herr Max Schnetger, Rosenzüchterei, mit Fräulein Luise Langbein'', oder in einem Fremdenbuche: ''Rudolf Dahme, Kognakbrennerei, mit Gattin und Tochter'', oder in einer Zeitung: ''Herr Gustav Böhme jun., Bureau für Orientreisen'', telegraphiert uns usw.? Ist da auch die Firma gemeint?
Zum Teil ist dieser Unsinn eine Folge der Prahlsucht//* Der Deutsche sagt dazu ''Renommage'', ein Wort, das es im Französischen gar nicht gibt!// unsrer Geschäftsleute; es will niemand mehr ''Gärtner'' oder ''Brauer, Tischler'' oder ''Buchbinder'' sein, sondern nur noch ''Gärtnereibesitzer, Brauereibesitzer, Tischlereibesitzer, Buchbindereibesitzer'' — immer großartig! Da darf natürlich die ''Buchbinderei'' auch in der Firma nicht fehlen. Zum andern Teil ist er aber doch auch eine Folge der Verwilderung unsers Sprachgefühls. ''W. Spindlers Waschanstalt'' und ''Gotthelf Kühnes Weinkellereien'' — das wäre Sprache; ''W. Spindler Färberei'' und ''Waschanstalt'' und ''Gotthelf Kühne Weinkellereien'' — das ist Gestammel. Man will aber gar nicht mehr sprechen, man will eben stammeln.
Es gibt eine Wissenschaft vom Stil, und die ist erlernbar; der Stil selbst ist eine der schönen Künste, die man als Naturgabe besitzen muß, um sich in ihr zu vervollkommnen, die man aber nicht erlernen kann wie eine fremde Sprache. Dennoch ist es kein unberechtigter Wunsch jedes schreibenden Deutschen, außer gutem Deutsch einen guten Stil zu beherrschen. Bis zum gewissen Grade ist dieser Wunsch erfüllbar, vorausgesetzt, daß man sich fest vorsetzt und ausführt: nur seinen Stil zu schreiben, keines Andern Stil nachzuahmen oder nachzuäffen, seiner Natur auch im Schreiben getreu zu bleiben und alles zu meiden, was nicht aus ihr fließt, sondern eitel gewollt und gesucht ist. Man schreibe nicht, ,wie einem der Schnabel gewachsen ist', denn man schreibt nicht für sich, sondern für Andre; man schreibe aber nicht, wie man niemals sprechen würde, wie kein Mensch wirklich spricht. Dieses Buch, das im Gegensatze zu manchem andern die wirkliche Sprache als obersten Gerichtshof für fast jede Zweifelfrage anruft, kann am Schluß auch nur eindringlich raten, sich mit seinem Stil ans Leben der Sprache zu halten. Jeder hat ein sehr feines Ohr für die Ziererei der Andern: er versuche, durch strengste Selbstprüfung herauszuhören, ob seine Sprache irgendwo unnatürlich, nur gemacht klingt, und tilge die leiseste Spur der geschriebenen papiernen Unnatur aus. Guter, ja schöner Stil ist immer nur der dem eignen Sprachwesen entsprossene. Wessen Sprache nicht blühend ist, der versuche sich nicht in Redeblumen; wer im Leben schlicht und recht spricht, der quäle sich keine Geistreichigkeiten oder gar Witzchen ab; wer ein tüchtiger Mensch von dieser Erde ist, der versuche nicht in den Wolken zu wandeln und den Dichter in Prosa zu spielen. Alle solche Unechtheiten werden vom Leser gar bald erkannt, und die ganze erquälte Erhabenheit oder Geistreichelei oder Scheinpoeterei versinken in ihr Nichts.
$Seite 329$ Gutes Deutsch ist die selbstverständliche Voraussetzung zum guten Stil, Sprachrichtigkeit die zur Sprachschönheit. In den andern Bildungsländern verstand es sich allzeit von selbst, daß, wer gut schreiben wolle, zuvor seine Muttersprache fehlerfrei, fleckenlos schreiben müsse; in Deutschland beginnt diese Überzeugung sich eigentlich erst seit einem Menschenalter allgemein durchzusetzen. Zu jeder edlen Kunst gehört die vollkommne Herrschaft über das Handwerk dieser Kunst: das der Stilkunst heißt Sprachrichtigkeit — in dem immer wiederholten Sinne dieses Buches, daß nicht die Sprachmeister, sondern der Sprachgebrauch der Gebildetsten am letzten Ende entscheidet, was falsch, was richtig ist. Daß sich hierbei herausgestellt hat, wie sicher in den meisten Fällen der gute Sprachgebrauch seinen Weg durch Falsch und Richtig zu finden weiß, wird hoffentlich den allermeisten Lesern zur Freude gereicht haben. Mit der wohlbegründeten Überzeugung, daß in Deutschland nicht so schlecht gesprochen wird, wie die Krittler und Merker es ihrem Volke seit Geschlechtern aufgeredet haben, wird vielleicht eine neue Spanne der deutschen Sprachpflege anheben; nennen wir sie die der Sprachfreude.
Fehlerloses Deutsch, soweit Fehlerlosigkeit in einer so überaus reichen und biegsamen Sprache zu erreichen ist. Die Zahl der unzweifelhaft groben Fehler im Deutschen ist zum Glück in der Rede und Schrift viel viel kleiner, als gemeinhin angenommen wird. Nicht die Hälfte, nicht der vierte Teil der hochfahrend ,Sprachdummheiten‘ geschimpften Abweichungen vom Geschmack des einen einzig Makellosen und Unfehlbaren sind wirklich das, was man Sprachfehler nennen dürfte. Es sind vielfach Schwankungen, die sich zu befestigen beginnen; Neubildungen, die sich durchgesetzt haben; Bequemlichkeiten, die den berechtigten Bedürfnissen des Lebens, also auch der Sprache als der Ausdrucksform des Lebens, entsprungen sind. Die Fehler jedoch, die in der Tat so und nicht anders heißen müssen, ist jeder deutsche Schreiber ehrenhalber verpflichtet zu erkennen und abzulegen. In diesem Buche ist hoffentlich keiner übergangen, kein besonders schlimmer zu milde beurteilt worden.
Sprachrichtigkeit, gutes Deutsch, guter Stil — sie alle drei sind, das sei am Schlusse wie im Anfang gesagt, untrennbar vom reinen Deutsch. Man könnte vielleicht allen wissenschaftlichen Streit über Recht oder Unrecht des Welsch in $Seite 330$ mitten der deutschen Sprache auf sich beruhen lassen, weil ihn wahrscheinlich die Allgewalt des Geschmackwandels dadurch schlichten wird, daß die jetzige Fremdwörterei einem besser erzogenen Geschlecht so abgeschmackt klingen wird wie uns die Alamodesprache des 17. Jahrhunderts. Für uns Lebende und die zunächst folgende Jugend gilt jedenfalls das höchste Gesetz alles schriftlichen Verkehrs, alles Stils: man schreibt, um verstanden zu werden; und vollkommen verstanden, mit jedem Wort von jedem Leser, wird der deutsche Schreiber nur mit den Ausdrücken seiner Muttersprache. Die geringste Trübung des Verständnisses — und fast jedes Fremdwort ist trüber als das deutsche — trübt den Stil, so wie trübe Farben das bestgemalte Bild verderben. Dazu kommt die wissenschaftlich festbegründete, von keinem, auch von keinem Welscher bestrittene schnelle Vergänglichkeit der allermeisten Welschwörter. Unzählige Stellen in Goethes wissenschaftlicher Prosa sind heute ihrer welschen Bestandteile wegen nur noch mit übersetzenden Anmerkungen verständlich, ohne diese selbst vielen Hochgebildeten unverständlich. Es gibt eine Volksausgabe von Goethes Werken mit einem beigefügten Fremdwörterbuch! In meiner Volksausgabe seiner Werke war ich gezwungen, viele Hunderte von Welschwörtern durch Anmerkungen zu erhellen, weil sonst ganze wichtige Sätze Tausenden von Lesern unverständlich geblieben wären. Welch ein gefährlicher Zustand unsers wertvollsten Schrifttums! Jedes Buch in welscher Sprache, hinter dem nicht ein weltberühmter Name schützend steht, versinkt innerhalb eines Menschenalters, weil es unverständlich wird.
Dazu kommt ein Zwang zu reinem Deutsch, der erst jetzt entscheidende Kraft gewinnt. Die Bewegung von verschmutzter welscher Sprache weg zu reinem Deutsch wächst zusehends an Breite, Stärke und Tiefe. Jeder Welscher kann oder sollte heute damit rechnen, daß ein zunehmender Teil der Leser, an die er sich wendet, sein schmutziges Welschdeutsch lächerlich oder verächtlich oder ekelhaft findet. Alle Verteidigungen der Welscher: dieses und jenes und die tausend andern undeutschen Wörter enthalten ,Nüankßen', die es im Deutschen nicht gibt, mit denen sich kein deutsches Wort ,deckt', wirken auf den deutschgerichteten deutschen Leser nicht mehr, denn dieser entgegnet den Welschern ruhig, aber bestimmt: Das Deutsche enthält alle Farben und Töne, du beherrschest es nur nicht $Seite 331$ genügend, — ich mag deine Buntflickensprache nicht! Was nützen dem Welscher seine herrlichsten Fremdbrocken, wenn ein neues, sprachlich saubrer fühlendes Lesergeschlecht sie verschmäht? Die deutsche Sprachfrage wird allmählich eine Massen-, also eine Machtfrage. Die Masse des Volkes siegt über die welschende Minderzahl; das Volk macht seine Verführer unschädlich, indem es sie verwirft. Diese Entwicklung vielleicht gefördert zu haben, wäre mir eine der stolzesten Lebensfreuden. Die gehässigen Angriffe meiner erbosten welschenden Gegner in einigen heimparisischen Blättern sind mir eine hohe Ehre.
Dem Alltagschreiber ist nachdrücklich zu sagen: der Vorgesetzte, die Behörde, der gebildete Handelsherr, die Käufer, die Zeitungsleser, an die und für die du schreibst, haben aufgehört, das Welschdeutsche für ein Zeichen der Bildung zu halten; sie finden es gemein, rückständig, geschmacklos, eitel, dumm, und wenn du dich damit spreizest, so giltst du denen, auf die du Rücksicht zu nehmen hast, für das was du bist: für einen sprachlich schlechterzogenen Menschen oder für einen Gecken. Niemals aber wirst du bei irgendeinem Leser, nicht einmal bei einem Verteidiger des Welsch, Anstoß erregen, wenn du reines gutes Deutsch schreibst: dies nämlich versteht jeder Deutsche, selbst wer es selber nicht schreibt. Die Zeit zieht herauf, wo verschmutztes Deutsch im Schriftleben wirken wird wie unsaubres Äußere im persönlichen Menschenverkehr. Je früher du deinen schriftlichen Ausdruck auf diese neue, saubre, deutsche Zeit einstellst, desto besser für dich und für dein Vaterland. Daß reines Deutsch der echtere, wahrere, körnigere, wirksamere Ausdruck deiner Gedanken ist, davon wirst du dich beim Durchlesen des Geschriebenen selbst überzeugen, und das werden deine Leser in allen Lebensstellungen sogleich erkennen.
Reines Deutsch allein wirkt sprachlich ganz wahr, denn der Deutsche empfindet noch jetzt, trotz jahrhundertelanger Sprachverbildung, nur die deutschen Wörter — und allenfalls ein paar Dutzend eingebürgerte Halblehnwörter — nach ihrem vollen Inhaltswert. Du brauchst dich nicht zu scheuen, ''Natur, Religion, Minister, Musik, Konzert, Literatur, Drama, Politik, General'' zu schreiben; aber ein gebildeter Deutscher ''amüsiert'' sich nicht mehr, ''enthusiasmiert'' sich nicht, ''orientiert'' sich nicht, auch nicht ,neu'; und wie bald wird er sich schämen, ''Interesse'' für etwas zu haben, sich für etwas ''zu interessieren'', $Seite 332$ etwas ''interessant zu finden'' und unter ''den Interessenten'' zu figurieren.
Streng wahrhaftige Sprache mit welschem Wortschatz gibt es nicht, und Wahrheit ist die oberste der unerläßlichen Eigenschaften des guten Stils. Kein schöner Stil ohne Wahrheit. Schönheit des Stils ist die innere Einheit zwischen Inhalt und Form; nur wenn die Form wahr ist, d. h. nicht mehr besagen will als der Inhalt, bekommt der Leser das wohltuende Gefühl der Sicherheit, ohne die es keinen schönen Stil gibt.
''An deiner Sprache rüge''
''Du schärfer nichts als Lüge'',
''Die Wahrheit sei ihr Hort!'' (Uhland).
Also kein breiter Wortschwall um einen sehr dünnen Kern herum: der Leser sucht nach dem großartigen Gehalt, den das Gerede vortäuschen will, findet ihn nicht und ist mit dem unwahrhaftigen Schreiber fertig. ,''Die Sonne ist aufgegangen' '' ist ausreichend für die Meldung der Tatsache; ,''Auroras Rosengewand ist von Helios' Brandpfeilen versengt, und der siegreiche Sonnenwagen fährt donnernd über die Bogenbrücke des neuen Tages' '' heißt Schwall, Schwulst, Geschwätz, nicht schöner Stil. Alles Notwendige sagen, es in der angemessensten, deutlichsten Form sagen, aber darüber hinaus nicht etwa durch Flitterschmuck die Wirkung verstärken wollen; sie kann dadurch nur geschwächt, ja vernichtet werden.
Keine Mätzchen, um dich selbst ins Licht zu setzen und wichtig zu machen. Der Leser will die Sache, nicht dich. Gib ihm die Sache, so voll, so deutlich, zugleich so bequem, daß er sie wohlig eindringen fühlt, so wird er den guten Schreiber ohne dessen Aufdringlichkeit durch die Sache hindurch erkennen, schätzen, liebgewinnen. Dazu gehört natürlich, daß der Schreiber seinen Stoff bis in die schreibenden Fingerspitzen zueigen hat; denn nur aus der vollkommnen Herrschaft über die Sache erwächst die vollkommne Form, die guter Stil heißt. Darum: mache dir vor dem Schreiben klar, ob du etwas zu sagen hast, was des Aufschreibens wert ist; werde dir bewußt, was du sagen willst; durchdenke es mehrmals, um es in lichter Klarheit vor deiner Seele stehen zu sehen, und dann schreib's nieder — so schlicht wie nur möglich, so schlicht, wie alle unverbrämte Wahrheit ist.
$333$ Viele Schreiber ahnen nichts von dem hohen sachlichen und künstlerischen Wert der schlichten Einfachheit; reden sich ein, man müsse das Geschriebene irgendwie verschönen, ausputzen. Man lese alle erhabensten Stellen der paar ewigen Schriften der Menschheit und überzeuge sich, mit wie einfachen Mitteln die größten Wirkungen hervorgebracht werden. Es gibt keinen gewaltigeren Satz in allem Schrifttum der Völker als: ,''Und Gott sprach: Es werde Licht! und es ward Licht.' '' Wo ist da nur die Spur eines sprachlichen Schmuckes? wo nur ein Wort, eine Silbe zu viel? In der Ursprache stehen nur sechs Worte!
,Man brauche gewöhnliche Worte und sage ungewöhnliche Dinge', lautet der tiefste Satz von Schopenhauer über das letzte Geheimnis des guten Stils. ,''Edel sei der Mensch, hilfreich und gut!' '' schrieb Goethe: lauter ganz gewöhnliche Wörter, nicht eins, das besonders dichterisch, erhaben, ungewöhnlich klänge; und doch wie trifft dieser Anfang eines Gedichtes, für das Goethe sogar auf den Schmuck des Reims und eines stark ins Ohr fallenden Versmaßes verzichtete, unser Herz; wie unauslöschlich haftet es seit bald anderthalb Jahrhunderten in der Seele des deutschen Volkes. ,Es trägt Verstand und rechter Sinn Mit wenig Kunst sich selber vor', heißt einer der gehaltreichsten Aussprüche Goethes über Stil. Wozu liest und bewundert man solche Kleinode der Weisheit, wenn man aus ihnen nicht auch für die eigne Ausdrucksform etwas Grundlegendes gewinnen will?
Erster und letzter Zweck alles Schreibens ist: unsre Gedanken auf den Leser zu übertragen, ihn, wie Schopenhauer das ausdrückte, zu nötigen, genau ebenso zu denken wie ich. Dies ist unmöglich, wenn das Geschriebene nicht durchsichtig klar im Ganzen und im Einzelnen ist; wenn nicht jeder Satz, jedes Glied, jedes Wort verständlich ist, nur auf eine Art verstanden wird. Ein berühmter römischer Stillehrer, Quintilian, kein Meisterer, sondern ein Meister und ein Meisterlehrer, forderte mit der Übertreibung der äußersten Strenge: ,Selbst nachlässig Zuhörenden muß ein Vortrag klar sein', und ein andermal: ,Nicht bloß verstanden, sondern unter keinen Umständen mißverstanden soll man werden.' Der letzten Forderung entspricht mancher Rat in diesem Buche. Gleichviel, ob das Verstehen, und zwar das schnelle, das unzweideutige, das vollständige, durch die ungenaue Wortwahl oder die $seite 334$ undeutliche Fügung oder den undurchsichtigen Satzbau gestört wird, — einen guten Stil hat kein Schreiber, der nicht von allen Lesern verstanden wird, an die er sich wendet. Auch hierbei muß gesagt werden, daß Wörter aus fremden Sprachen für die Mehrzahl der Leser weniger verständlich sind als die der Muttersprache; daß also ein welschender Schreiber gegen eine Grundforderung des guten Stiles verstößt, nicht jedes sprachliche Mittel zur vollen Verständlichkeit angewandt zu haben.
Der Ausdruck sei der Sprache genau angemessen. Es gibt für jeden Gedanken einen allerbesten Ausdruck: nach diesem suche der sorgsame Schreiber, denn mit ihm bringt er die Sache zur stärksten Geltung und überträgt er seinen Gedanken am genauesten auf den Leser. Für den deutschen Leser ist der allerbeste Ausdruck das deutsche Wort, denn dieses fühlt der Schreiber und der Leser am innigsten, über dieses bestehen weniger Zweifel als über das einer fremden Sprache. Der Schreiber beruhige sich nicht mit dem erstbesten ihm einfallenden bequemen Wort, — denn das tut der Welscher, der ''Interesse, Element, Moment, Apparat, System, Individualität, subjektiv'' hinschmiert, lauter Schwammwörter, allgemeine Redensarten, statt für die bestimmte Sache das eine scharfbestimmte Wort zu suchen, das nur ein deutsches sein kann. Das erste Wort ist nicht immer das beste. In meinem Verdeutschungswörterbuch „Entwelschung" stehen bis über 80 deutsche Wörter für ein welsches Schwammwort: ein Beweis für den unendlichen Reichtum des Deutschen, für die verblasene Armseligkeit des Welsch.
Keine Abgedroschenheiten und Plattheiten, sondern möglichst das eine Wort, das trotz seiner Allbekanntheit an dieser Stelle als das einzig treffende und darum mit dem Reiz der Neuheit angetane wirkt. Die Wörter der täglichen Umgangs- und Bildungsprache werden trotz ihrer immerwährenden Benutzung nicht abgedroschen; das geschieht nur den Modewörtern, die bei jeder, auch nicht passender, Gelegenheit wie aus unwiderstehlichem Zwange hingeplappert werden, weil man zu bequem ist, das angemessene Wort zu suchen. ''Tadellos, schneidig, ausgeschlossen, voll und ganz, selbstredend, aus der Bildfläche erscheinen, eine Fahne hochhalten'', vor allem aber die mit besonderm Nachdruck eingeflickten Welschwörter: ''Imponderabilien, Neuorientierung, Synthese, impressionistisch, sub'' $Seite 335$ ''jektiv, individuell'' sind jedem Leser und Hörer von Geschmack ein Greuel. Beim ersten Gebrauch, wohl gar aus dem Munde eines großen Mannes, wie die ''Imponderabilien Bismarcks'', mochten sie Wirkung tun; sinnlos von jedem und immerfort nachgeredet, werden sie zu leeren Wortstrohhülsen und wirken vernichtend auf Inhalt und Form.
Der Leser soll vom Schreiber gefesselt werden, sonst ist alles Schreiben verfehlt: der Leser läßt das langweilige Blatt sinken oder vergißt dessen Inhalt bald nach dem Lesen. ,Eine langweilige Schrift ist allemal auch sonst wertlos' (Schopenhauer). Es bedarf keiner weither gesuchten Reizmittel der Sprache und des Stiles zum Festhalten des Hörers und Lesers: Stoffbeherrschung, strenge Sachlichkeit, lebendige Sprache, belebter Satzbau, Klarheit genügen.
So schnell wie tunlich mitten in den Kern der Sache hinein: der Leser wartet ungeduldig darauf. Ist die Sache verwickelt, so darf eine vorbereitende Einleitung ihn zur richtigen Aufnahme des Folgenden stimmen; aber keine Umschweife, die mit der Sache nur von fern zusammenhängen.
Lebendig ist eine Sprache, die dem Leser mehr sinnenhaftes Leben als übersinnliches Denken vermittelt. Jede Sprache hat zwei Hauptgattungen von Begriffswörtern: Ding- und Denkwörter (im Gelehrtenwelsch: ''Konkreta'' und ''Abstrakta''). Die Abstrakta sind die von den Dingen ,abgezogenen' Denkwörter für Begriffe: man ziehe so wenig wie möglich ab, gebe lieber die anziehenden Dinge selbst. Bei den Dingwörtern sieht der Leser, bei den Denkwörtern sieht er nichts; Sehen ist lebendiger als Denken, also lasse man den Leser recht viel sehen.
Die meisten bloßen Denkwörter endigen im Deutschen auf ''ung, igung, tum, heit, keit, igkeit, schaft'': man versuche, ob man sie nicht oft durch mehr dingliche Wörter ersetzen kann. Schon das ewige Wiederholen (''Wiederholung'') der ''Ungen'' und ''Heiten'' wirkt auf das Ohr ermüdend; man kann sie zuweilen, wie in diesem Satz und häufig sonst geschehen, durch eine Zeitwortforrn ersetzen, die immerhin lebendiger wirkt. In diesem Buch hatte ich fast nur mit unsichtigen Begriffen zu tun, mußte also nach einem andern Mittel des Belebens trachten: der kurze, nicht schleppende Satz und das engste Annähern an die gebildete Redesprache mußten mir dienen. Man prüfe diesen Satz eines einst sehr $Seite 336$ berühmten Schreibers über Schillers Freund Körner: ,''Er war es noch mehr durch die unbedingte Zuverlässigkeit und Bravheit, durch die Gleichmäßigkeit, Ruhe und Überlegtheit seines Wesens, durch die Nüchternheit seines Verstandes, durch die Anspruchslosigkeit und Uneigennützigkeit, mit der er bei aller Sicherheit seines Selbstgefühls . .' '' usw. mit lauter ''Heiten'' und ''Keiten'', bei denen wir nicht das Mindeste zu sehen, zu fühlen bekommen. Werden gar verblasene, schwammige, vieldeutige Welschwörter, wie ''Element, Faktor, Material, Moment, organisieren, interessieren, individualisieren, typisieren'' eingestreut, so hört man nur noch Worte, vielmehr Wörter, und aus der lebendigen menschlichen Rede wird hohles Geräusch. ''Schülermaterial, Offiziermaterial, Laienelement, politische Faktoren'' statt ''Schüler, Offiziere, Laien, Kräfte im Staatsleben'' wirken wie verschmutzte Fensterscheiben oder dicke Schleier zwischen Augen und Dingen.
Man sage, was man zu sagen hat, ganz (nicht: ''voll und ganz''!), sage es genau, deutlich, wirksam, aber man tue nicht mehr, nichts Überflüssiges. Man treibe den angemessenen Ausdruck auf die Höhe seiner Kraft, aber man übertreibe nichts. Man schreibe oder spreche, aber man schreie nicht. Schreistil in lauter Höchstgraden der Beiwörtersteigerung, mit oft eingeschobenem ''außerordentlich, furchtbar, riesig, ungeheuer, unvergleichlich'' wird von einem feinen Ohr schon im Gespräch als — außerordentlich? furchtbar? riesig? — nein, ,als unangenehm empfunden' genügt. Das abscheulichste, wirklich allerabscheulichste Schreiwort des schlechten deutschen Sprechstils ist, natürlich, ein Welschwort: das uns von unsern Feinden höhnisch aufgemutzte ''Kolllossssaaal''!!! Es sollte für jeden gebildeten Deutschen zum unverbrüchlichen Anstandsgesetz werden, dieses gemeine Wort nie wieder über die Lippen zu bringen. Die allzu häufige Höchststeigerung, gleich dem zu häufigen Unterstreichen, wirkt nicht mehr steigernd und belebend, sondern schwächend und abstumpfend, und obendrein — ,Jeder Superlativ (Höchstgrad, Übertreibung) reizt zum Widerspruch' (Bismarck). Der Sprecher wird gehört, der Schreier überschreit sich und wird überhört. Die Schreierei des Ausdrucks hat es in Deutschland soweit gebracht, daß Widersinn wie ''riesig klein'' und ''kolossal wenig'' kaum noch auffällt.
Kein notwendiges Wort zu wenig, aber ebensowenig ein $Seite 337$ überflüssiges Wort bloß um der Fülle, d. h. der Wortmacherei willen. Unsre Sprache liebt in manchen Redensarten eine gewisse behagliche Breite: ''Saft und Kraft, Mann und Maus, Kind und Kegel, gäng und gäbe, Art und Weise, Grund und Boden, frank und frei, los und ledig, klipp und klar, hoch und heilig, steif und fest, gut und gern, Schutz und Schirm, Hohn und Spott, Sack und Pack''. Meist sind es Fügungen mit Anlautreim, womit das Deutsche von jeher gern gespielt hat. Anders steht es mit der reinen Überflüssigkeit, der Doppelsagerei (''Pleonasmus, Tautologie''). ,''Zuerst anfangen, zuletzt beendigen, er soll angeblich . ., noch einmal wiederholen' '' sind in der Schriftsprache vom Übel. Nach Zeitwörtern, die schon eine Farbe der Tätigkeit enthalten, braucht nicht doppelt gefärbt zu werden: ,''gewöhnlich pflegen; befehlen, tun zu sollen; gestatten, tun zu dürfen; imstande sein, tun zu können' '' sind doppelgedrehte, überdrehte Stricke, die schlechter halten als einfache. ,''Er war außerstande, ihm dabei helfen zu können; Ich hatte die Erlaubnis, ins Theater gehen zu dürfen; Du hast keinen rechten Mut, dies anfangen zu wollen; Sie besaß eine besondere Gabe, ihn verstehen zu können; Es ist mir zu meinem Bedauern leider nicht möglich, Ihnen das Buch schon morgen bringen zu können; Er war genötigt, schon heute abreisen zu müssen' '' — so schreiben die Wortmacher.
Nichts als geschwollene Wichtigtuerei und Markschreierei sind Ankündigungen wie: ,''Aufführung des Rappelkopfs, unter persönlicher Leitung des Komponisten.' '' Gibt es auch eine unpersönliche? In keiner andern Sprache kommt dieser lächerliche Mißbrauch vor, obwohl die Marktschreierei in andern Ländern nicht geringer ist; aber die Achtung vor der Sprache ist anderswo größer.
Dagegen sind gar wohl Sprechweisen erlaubt, die nicht als Wiederholung, sondern als Verstärkung beabsichtigt sind und wirken. ,''Das kleine Gärtchen' '' steigert den Eindruck der Kleinheit, ,''das winzige Kindchen' '' erst recht, und ebenso steht es mit dem ,''kleinen (dünnen) Büchlein, dem ungeheuren Riesen' ''. Die Sprache ist kein Professor der Mathematik und der Logik. Daß im ältern Deutsch zwei Verneinungen verstärkend, nicht aufhebend wirkten (vgl. S. 168), sei hierbei in Erinnerung gebracht. Ginge es nach den Wortklaubern der Sprachlehre, so wären ,''grobe Fehler, Gedankenlosigkeit,'' $Seite 338$ ''Schwulst, Unsinn, Roheit' '' harmlose feste Wendungen wie: ,''loslösen, Ruhepause, Warnungszeichen, Abwehrmaßregel, unser deutsches Vaterland, die deutsche Muttersprache, unsre deutsche Jugend' ''. Das Benörgeln solcher Ausdrücke ist nichts als Mückenseiherei, und dieselben Mückenseiher verschlucken die garstigsten Kamele, wenn sie nur aus Welschland stammen.
Der Satz soll gefügt und gebaut, aber nicht zusammengeflickt werden: bloße Flickwörter ohne allen Wert für Sinn und Klang des Satzes dürfen nicht geschrieben oder müssen sogleich weggestrichen werden. Alles, was den Satz nicht stärkt, schwächt ihn.
Eine alte Stilregel lautet: keine Wiederholung eines Wortes in zu kleinem Abstande; dies gilt besonders für bedeutungsarme Wörter. Das Wiederholen eines gewichtigen Ausdrucks an der rechten Stelle kann sehr stark wirken: ,''Erst jetzt zum ersten Male, im Jahre 1812, waren alle Deutschen ohne Ausnahme einem fremden Herrn dienstbar, mußten alle deutschen Staaten ohne Ausnahme einem fremden Herrn Truppen stellen und einem fremdem Befehl untergeben, um für eine fremde Sache zu kämpfen' '' (Moltke). Man scheue sich nicht vor dem Wiederholen eines gewichtigen Wortes, statt daß man ein schlechtes Fürwort anwende. ,''Und setzet ihr nicht das Leben ein, Nie wird euch das Leben gewonnen sein' '', schrieb Schiller. Der sich vor jeder Wiederholung fürchtende Kanzleischreiber würde sagen: '',. . nie wird euch dasselbe — oder das letztere — gewonnen sein.' ''
Eine andre kleine Schulregel verbietet die Häufung von einsilbigen Wörtern. Im Gespräch achtet kein Mensch darauf, weil sich die einzelnen kurzen Wörter zu Gruppen zusammenfügen; in der Schrift fällt ein Haufe von Einsilbern vielleicht dem Auge auf, doch schadet er dem Satze nichts, wenn jedes Wort am rechten Orte steht. Wohl das merkwürdigste Beispiel eines nicht schlechtklingenden Satzes mit lauter Einsilbern, 20 hintereinander, sind diese Verse Goethes:
''Wohl hast du Recht, ich bin nicht mehr ich selbst'',
''Und bin’s doch noch so gut, als wie ich's war.''
Die Anordnung des Stoffes, ein wichtiges Erfordernis des guten Stils, richtet sich nach dem Zweck: dem Leser die Aufnahme zu erleichtern, das äußere Behalten und innere $Seite 339$ Verarbeiten zu sichern. Nichts hinschreiben, was nicht für sich oder durch das Vorausgegangene verständlich ist, sondern erst weiterhin ganz klar wird. Keinen Schritt vorwärts tun, ehe der Fuß nach dem letzten Schritt festen Boden gewonnen. Dies gilt nicht bloß für die Darstellung im Ganzen; es gilt schon für den einzelnen Satz, dessen erster Teil nicht unverstanden in der Luft schweben darf, bis vielleicht aus dem letzten Wort des zweiten Teiles das erhellende Licht auf jenen fällt. +
Nicht nur einen guten Stil will man schreiben, er soll auch ,schön' sein, wobei sich jeder etwas andres denken kann. Zumeist denken die mittelmäßigen Schreiber dabei an den blumigen und bilderreichen Stil, der in allen Farben prangt, in allen Lichtern glitzert. Es gibt keinen an sich ,schönen Stil', wie es keine an sich ,schöne Sprache' gibt. Schön ist die Sprache, durch die ein Gedanke vollkommen richtig, unmißverständlich und in knappester künstlerischer Form ausgedrückt wird; schön eine Darstellung, die in der angemessensten Form dem Inhalt gerecht wird. Bloße sogenannt schöne Sprache ist leerer Klingklang. Und dann: es gibt keine Schönheit des Nichtigen; wertloser Inhalt in äußerlich schöner Form ist ein Greuel vor Gott und Menschen. Lessings schon einmal angerufenes Wort: ,Die größte Deutlichkeit war mir immer die größte Schönheit' gilt heute wie vor 150 Jahren, wenn wir auch hinzudenken müssen, was sich für Lessing von selbst verstand: die größte Deutlichkeit dessen, was verdient geschrieben zu werden, also des irgendwie Wertvollen. Für den einfachen Schreiber kann dies schon der kleinste Brief sein.
Es gibt Schreiber, selbst manche gerühmte Schriftsteller, besonders älterer Zeit, die ohne eigne Dichtergabe durchaus in Prosa dichten, malen, bildhauen wollen. Der schlichte Ausdruck dünkt sie zu flach, zu blaß, zu gewöhnlich; er muß farbig übermalt werden, und handelte es sich um die bedeutungslosesten Alltagsdinge. Nach so vielen ernsten Betrachtungen soll der Leser auch einmal seinen Spaß haben, wie ihn der Verfasser beim Sammeln dieses Bilderbogens deutschen Stiles gehabt hat. Manches Bildchen ist nicht ganz echte Lebenskunst, sondern absichtsvoll neben dem Leben her gemalt; lehrreich ist aber auch diese Gattung. ,''Ich durch-'' $Seite 340$ ''lebte dornenvolle Kinderschuhe. — Endlich eine Friedenstaube aus bester Quelle. — Wann wird endlich die Friedenspalme unterzeichnet werden? — Der Dreizack des meerbeherrschen- den Albion ist von starker Faust erfaßt und droht den Händen des britischen Löwen zu entgleiten'' (der Fachmann ,Nautikus' in der Neuen Freien Presse 1916). — ''Ein roter Faden'' (sehr beliebtes, meist unverstandenes, höchst gefährliches Bild) ''von Blut und Eisen durchzog bereits seine Jugendzeit'' (aus einer Jugendschrift über Bismarck). — ''Dieser Grund ist wie eine Oase in eine Wüste hineingeschneit'' (Reichstag). — ''Er floß von überaus trockenen Auseinandersetzungen über. — Das ins Meer gestürzte Pferd machte übermenschliche Anstrengungen, sich über Wasser zu halten. — So erlebte denn Goethe noch 50 Jahre nach seinem Tode endlich die erste Aufführung seines Jugendwerkes. — Die Bären lecken ihr Junges so lange und so anhaltend, bis es ihrer Gestalt gleichkommt. So wirke auch du, christlicher Lehrer, auf deine Zöglinge, daß sie dir im Gutsein ähnlich werden! — Das Unternehmen hatte die Kinderschuhe abgestreift und faßte mit frischem Wind in den Segeln überall festen Fuß. — Kann man denn die bittre Pille des Steuerzahlens nicht mit dem billigen Mantel der Höflichkeit versüßen? — Während dieses Weltkrieges steht die deutsche Bevölkerung mit einem Fuß im Zuchthaus, mit dem andern nagt sie am Hungertuch. — Sie beichtete sich bei der Gelegenheit allen Sauerteig vom Herzen herunter. — Die englische Politik ist ein wahrer Brutofen für Kriege'' (ein Reichskanzler im Reichstag, 19. 8. 1915). — ''Zentnerschwer lastet auf unsrer Presse das Auge der Zensur. — Es ist endlich an der Zeit, diesem Zopf in unsrer Verwaltung den Star zu stechen'' (preußisches Abgeordnetenhaus). — ''Sie konnte die eisige Kälte, die noch immer in ihrem Herzen glimmte, nicht loswerden. — In die großen braunen Angen senkte sich das Bild hinein und senkte sich langsam auf einen Fahrstuhl, um dort sitzen zu bleiben und wann? wieder emporzutauchen'' (Liliencron!). — ''Mit der Art von Jauche, die der geehrte Herr Vorredner im Auge gehabt hat, läßt sich auch keine Seide spinnen'' (auf einer landwirtschaftlichen Versammlung). — ''Die Wiege dieses für unsre Landwirtschaft so wichtigen Huhnes hat in Spanien gestanden' '' (aus einer Landwirtschaftszeitung).
Knüpfen wir an dieses Huhn und seine spanische Wiege $Seite 341$ die Untersuchung der Quelle — halt, ein Bild!, also Vorsicht, — der Quelle, aus der diese falsche Bilderei fließt, nicht etwa: wächst! Das Deutsche ist die bilderreichste aller Sprachen: mehr als die Hälfte aller Zeitwörter, besonders die zusammengesetzten, sind einst bildlich gewesen und zeigen ihre Bildnatur noch heute: ''befassen, begreifen, ergründen, vorziehen, überlegen''; und die bildlichen Redewendungen wie: ,''einen Bock schießen, den Nagel auf den Kopf treffen, den Vogel abschießen, aufs Eis führen, übers Ohr hauen' '' sind nicht zu zählen. Jean Pauls Satz: ,Jede Sprache ist ein Wörterbuch erblaßter Metaphern' (Bilder) gilt von keiner so sehr wie von der deutschen. Wir alle, auch die nüchternsten Alltagsmenschen, sprechen und schreiben immerfort in Bildern, meist in fertigen und bewährten, so daß wir vor blühendem Blödsinn wie dem in unsrer Sammlung geschützt sind. Hierdurch ermutigt und verführt will der Schreiber, der kein Maler ist, durchaus auch einmal malen, wie er rings um sich her malen sieht — bald hätte ich geschrieben: hört —, und da er nicht malen kann, so bringt er Zerrbilder zustande. Niemand ist verpflichtet zu malen, niemand braucht blumig zu sprechen — ,''Blumenkohl' '' nannte diese Redeform ein verstorbener Sprachforscher. Niemand sollte zu bildern anfangen, der nicht ,im Bilde' zu bleiben versteht. Man prüfe jedes besonders bildhafte Wort, das aus der Feder fließt, ehe man es zum Satze — ,''ausspinnt' ''? nein, ganz bildlos: ''gebraucht''.
Man schreibe nicht ungeschaute, ungefühlte Bildwörter hin und überlasse sie ihrem Schicksal im Verlauf des Satzes. Die Bildkraft der meisten Wortbilder schlummert nur, wird durch das Satzgefüge aufgeweckt und kann dann an der falschen Stelle gefährlich werden. Ein so unschuldig klingendes Wort wie ,''verdanken' '' erinnert immer noch an seine Wurzel ''Dank'' und rächt sich an dem Nachlässigen, der es mißbrauchend schreibt: ,''Das schreckliche Unglück verdankte einer Unvorsichtigkeit seinen Ursprung.' '' Oder man nehme ein Wort wie ,''herunterkommen' '', bei dem niemand mehr an die bildhafte Urbedeutung denkt: ,''Die Leute sind schon so heruntergekommen, daß sie jetzt vier Treppen hoch wohnen müssen.' '' ''Gipfel'' bleibt ''Gipfel'', also ein Höhenpunkt und der aufmerksame Leser lächelt bei dem ,''Gipfel einer Demütigung' ''. ''Tiefe'' bleibt ''tief'' und ist der Gegensatz von ''hoch'', also nicht: ,''Wer dringt bis in die letzten Tiefen seines Hochmuts?' ''
$Seite 342$ Bewußt scherzhaft aufgetischt, wirkt solch Blumenkohl überaus lustig: ,''In Afrika liegt der Tabakbau noch tief in den Windeln. — Darf ich Ihnen mit etwas Kölnischem Wasser unter die Arme greifen?' '' Aber wo ist die Grenze zwischen bewußter und unbewußter Drolligkeit? Darf man von einem ''eingefleischten Vegetarier'' sprechen? Darf man ''kalte Bäder warm'' empfehlen? Und wie steht es mit der berauschenden Bilderpracht der Börsensprache: ,''Stiller Kaffe, ruhige Schweine, Lämmer stramm, Stiere nachgebend, Laura versteift, Phönix lustlos' ''? Ich denke, dagegen ist gar nichts zu sagen, denn die Börsensprache, gleich mancher andern engen Fach- und Standessprache, steht jenseit von Gut und Böse.
Endlich der fließende Stil, den manche für ein erstrebenswertes Hochziel halten. Er ist keine besondre Gattung des Stils, sondern fließend soll bis zum gewissen Grade alles Geschriebene sein: es soll fließen, nicht holpern, stolpern, poltern, rumpeln, humpeln, blubbern, stammeln, hacken, stocken, stoßen. Der gute Schreiber wählt seine Ausdrücke und baut seine Sätze so, daß der Leser nicht durch die Schuld des Schreibers größere Schwierigkeiten zu besiegen habe, als im Stoffe liegen; daß er nicht grübeln müsse über die Bedeutung der Wörter, den Zusammenhang des Gefüges, die Beziehungen im Satze. Der Leser will und soll nicht gegen Pflöcke und Blöcke, Knubben, Stubben und Steine taumeln, sondern gemächlich ausschreiten. Muß er Sätze oder Satzglieder oder Wörter zweimal, dreimal lesen, um sich über Sinn und Fügung klar zu werden, so klagt er mit Recht über Mangel an Flüssigkeit. Selbst ein schwieriger Stoff läßt sich so darstellen, daß zwar bedachtsam gelesen und von Zeit zu Zeit innegehalten wird, um das Gelesene zu durchdenken und zu verarbeiten; daß aber nicht gestockt und rückwärts gelesen werden muß, um nur den Wortlaut richtig zu begreifen. Wo der gebildete und geübte Leser hierzu gezwungen wird, da darf er mit Recht die Schuld auf den verworrenen und seine Sprache nicht beherrschenden Schreiber schieben.
Die peinlichen Sprachmeister hassen die unschuldigsten Freiheiten und Läßlichkeiten, die sich kraft des Geistes unsrer Sprache ein sonst gewissenhafter und sicherer Schreiber erlaubt. Nur einem solchen sind sie gestattet; einem ohnehin $Seite 343$ nachlässigen und stümpernden Schreiber ist überhaupt nicht zu raten.
Die ,Fügungen nach dem Sinn' fordern, grade weil sie den Regeln widersprechen, besondre Vorsicht, und bei jedem ernsten Zweifel sind sie lieber zu meiden, denn unbedingt notwendig ist keine. Wenn aber die Sprachbüttel solche Fügungen verbieten, die sich aus einem allgemeinen Verkehrsbedürfnis, nicht bloß in Deutschland, herausgebildet haben, so höre man nicht auf sie, sondern schreibe z. B. ''Müller-Meiningen'', wie man einst ''Schultze-Delitzsch'' geschrieben hat, und lasse sich durch keine Rüffeleien mit ,Abgeschmacktheit, Unsitte, dumme Mode, Hohn auf den gesunden Menschenverstand' einschüchtern. Abgekürzte Ausdrücke wie ,''die Universität Leipzig, Zirkus Renz, Bad Ems' '' sind kein ,Mißbrauch', sondern nützliche, der Sprache nicht schädliche Bequemlichkeiten. ,''Ersatz Preußen' '' für ''ein neues Schiff'' an Stelle eines früheren gleichen Namens will nicht vollendete Prosa sein, sondern nur kurze Fachsprache, der ähnliche Freiheiten zustehen wie der Drahtsprache. Gegen solche Bequemlichkeiten gleich mit ,Sprachzerrüttung, Negersprache' loszudonnern, ist abgeschmackt.
Millionen deutscher Ladenschilder sind nach folgendem Muster beschrieben:
''Friedrich Schulze.''
''Räucherwaren.''
Der Sprachbüttel beschimpft Millionen deutscher Kaufleute wegen Geschmacklosigkeit, Unsinns, Gestammels' und unterstellt dem arglosen Friedrich Schulze, sich selbst ,Räucherwaren' zu nennen. Das fällt diesem nicht ein, sondern sein Schild besagt: ''Ich heiße Friedrich Schulze, und dies ist ein Laden für Räucherwaren.'' Sollte er etwa sagen: ''Fr. Schulzes Räucherwaren''? Der Büttel würde auch daraus irgend etwas Furchtbares erschnüffeln.
In der Umgangsprache muß es erlaubt sein, zu sagen: ,''Ich wohne Kaiserstraße 12' ''; ja selbst so zu schreiben; wäre noch kein Fehler.
Statt ,''einmal' '' zu sagen ''mal'' muß zulässig sein, denn — alle Welt sagt so; und im Alltagstil darf auch so geschrieben werden, eben weil alle Welt so sagt.
Ist ,''die kleinere Hälfte' '' wirklich so ,vollkommner Unsinn', wie der Gestrenge der Sprachmeisterei behauptet? Dann haben schon unzählige ganz vernünftige Menschen den Unsinn $Seite 344$ begangen. ,''Hälfte' '' ist für den Sprachgebrauch keine mathematisch genaue, sondern nur eine ungefähre Bezeichnung. Man darf auch ruhig sagen: ,''Ich habe den Saal schon voller gesehen' '', denn ,''voll' '' bedeutet erst recht nichts genau Bestimmtes.
,''Lieber Onkel und Tante' '' ist allerdings, genau betrachtet, nicht richtig; aber ist es ein Fehler? Es entspricht dem, was von Luther bis zu Goethe und darüber hinaus alle große Schriftsteller aus dem Geist unsrer Sprache für erlaubt angesehen haben. — Hierher gehört das zum natürlichen Geschlecht gegenüber dem sprachlichen (S. 243) und zur Wiederholung der Vorwörter nach den mit dem Geschlechtswort verschmolzenen Vorwörtern (S. 299) Gesagte.
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Wohin es führt, wenn man ein kurzes Zeitwort immer gedankenlos und aus bloßer Neigung zur Breite $Seite 392$ durch ein längeres ersetzt, zeigt am besten der Mißbrauch von ''besitzen'' für ''haben''. Auch er ist jetzt, wie der Mißbrauch des Zeitworts ''bedingen'' (vgl. S. 380), zu völliger Verrücktheit ausgeartet.
Die Grundbedeutung von ''haben'' ist ''halten, in der Hand haben''. Aus ihr hat sich dann leicht die des Eigentums, des Besitzes entwickelt, wie sie deutlich in ''Habe'' vorliegt. Aber damit ist die Anwendung des Wortes nicht erschöpft: mit ''haben'' läßt sich fast jeder denkbare Zusammenhang, jedes denkbare Verhältnis zwischen zwei Dingen ausdrücken. ''Besitzen'' dagegen bedeutet ursprünglich ''auf etwas sitzen''. Das erste, was der Mensch besaß, war unzweifelhaft der Grund und Boden, auf dem er saß. Noch im siebzehnten Jahrhundert ''besaß der Richter die Bank, der Reiter das Pferd, die brütende Henne die Eier''. Vom Grund und Boden ist das Wort dann auf andre Dinge übertragen worden, die unser Eigentum sind, vor allem auf das Haus, das auf dem Grund und Boden errichtet ist — auch dieses ''besitzt'' man noch im eigentlichen Sinne des Wortes, man sitzt darin, man ist Insasse des Hauses —, dann auch auf alle fahrende Habe, auf allen Hausrat und endlich auf das liebe Geld. Damit ist aber die sinngemäße Anwendung des Wortes erschöpft.
Bedenklich ist es schon, Kinder als Besitztum der Eltern zu bezeichnen: ''er besaß vier Kinder, zwei Söhne und zwei Töchter''. Eltern ''haben'' Kinder, aber sie ''besitzen'' sie nicht. Dasselbe gilt von dem Verhältnis des Herrn zum Diener, des Herrschers zu den Untertanen, des Freundes zum Freunde. Es ist abgeschmackt, zu schreiben: ''er hatte viele sympathische Züge, und doch besaß er keinen Freund''. Wer die Abgeschmacktheit nicht fühlen sollte, der kehre sich die Verhältnisse um; wenn Eltern Kinder, ein Herrscher Untertanen „besitzt," dann „besitzen" auch Kinder Eltern und Untertanen einen Herrscher. In der Tat schrickt man auch davor schon nicht mehr zurück; man schreibt: ''er besaß Eltern, die töricht genug gewesen waren, in seinen Kinderjahren die Keime der Genußsucht in seinem Herzen zu pflegen — Tycho Brahe besaß auch entfernte Verwandte in'' $Seite 393$ ''Schweden — Preußen besitzt in den Hohenzollern ein Herrschergeschlecht, um das es jedes andre Land beneiden kann''. Ist das richtig, dann kann man schließlich auch einen Onkel, einen Großvater, einen Gönner, einen Widersacher „besitzen," eine Stadt kann einen Bürgermeister, eine Kompagnie einen Hauptmann „besitzen."//* Eine Leipziger Zeitung schrieb neulich: ''das Rathaus besitzt denselben Baumeister wie die Pleißenburg!''//
Ebenso bedenklich ist es, einen Teil unsers eignen Selbst, also entweder den Körper oder den Geist oder einen Teil des Körpers als unser Besitztum zu bezeichnen und zu schreiben: ''er besaß einen kräftigen, wohlgebauten Körper — sie besaß eine feine, schmale, wohlgepflegte Hand'' (in Romanen sehr beliebt!) — ''ich habe dir treu gedient, ohne daß du ein Auge dafür besaßest — er besaß ein Ohr für den Pulsschlag der Zeit — die Soldaten möchten bedenken, daß die Schwarzen auch ein Herz besäßen''. Derselbe Fall ist es, wenn Bestandteile einer Sache als Besitztum der Sache bezeichnet werden,
z. B.: ''die Peterskirche besitzt eine Menge kleiner Türmchen — der Turm besitzt auf jeder Seite eine Uhr — die spanisch-maurischen Fayencen besaßen eine Zinnglasur — das Buschweidenröschen besitzt einen unterirdischen wurzelartigen Stengel — diese Schaftstiefel besitzen Doppelsohlen, oben von Leder, unten von Blech — wir reden von Fensterscheiben, die doch meist vier Ecken besitzen''.
Unzählig aber sind nun die Fälle, wo gar äußere oder innere Eigenschaften einer Person oder Sache, Zustände, Empfindungen, Geistestätigkeiten und ähnliches unsinnigerweise als Besitztum der Person oder Sache hingestellt werden. Da schreibt man z. B.: ''dieser Orden wird auch an solche Leute verliehen, die keinen Hofrang'' $Seite 394$ ''Sachlichkeit, ja auch die nötige Wahrheitsliebe — unsre Juden besitzen nicht die Feinheit der Empfindung, vor dieser deutlichen Ablehnung zurückzutreten — einige Tanzweisen der nordischen Völker besitzen mit denen der alten Deutschen große Ähnlichkeit — der hochgeehrte Rat wolle die Güte besitzen, unser Gesuch wohlwollend in Erwägung zu ziehen — das moderne Theater besitzt einen bestimmten Charakter — entscheidend ist die Frage, ob die bedeutendern Künstler diese Kennzeichen des Klassizismus besitzen oder nicht — fast alle englischen Offiziere besitzen Spitznamen — beide Bauten besitzen einen langgestreckten, rechteckigen Grundriß — der Mann besitzt die stattliche Größe von 2,26 Metern — die Passage besitzt eine Länge von dreiundvierzig Metern — die Zigarre besitzt einen schönen, angenehmen Brand — diese Sprachen besaßen nur die Stellung von Mundarten — man muß sich bewußt bleiben, daß diese Unterscheidung keinen theoretischen, sondern nur einen praktischen Wert besitzt — der Name dieses Künstlers besitzt für uns alle einen vertrauten Klang — das Genie besitzt eine Verwandtschaft mit dem Wahnsinn — priesterlicher Gesang kann nicht die Töne besitzen, aus denen das leise Erzittern des frommen Herzens spricht — für die moderne Revolution besitzen Dichter und Denker kaum eine geringere Bedeutung, als die Männer der Tat — man besitzt in Preußen volles Verständnis für den sächsischen Standpunkt — die Herren Auer und Liebknecht besitzen gewiß ein großes Interesse daran, das festzustellen — die Landstreicher zerfallen'' (!) ''in solche, deren Streben darauf gerichtet ist, bald wieder Arbeit zu finden, und solche, die dieses Streben nicht besitzen — die Behörden besaßen keine Ahnung von den ihnen obliegenden Pflichten — wer mit dem Volksleben nicht die geringste persönliche Fühlung besitzt — er besaß die moralische Überzeugung von ihrer Unschuld — er hatte die Kühnheit, eine eigne Meinung zu besitzen ''(warum nicht auch: ''er besaß die Kühnheit''?) — ''zu dem praktischen Blick seiner Mutter besaß er unbedingtes Vertrauen — die Neuberin besaß jedenfalls mehr Begeisterung für die Kunst als Pollini — jeder'' $Seite 395$ ''Preuße, bet die Befähigung zu den Gemeindewahlen besitzt — Leute, die gern Konjekturen machen, besitzen hier ein ergiebiges Arbeitsfeld — nun erst besaßen die Künstler den Malgrund, auf dem sie bequem arbeiten konnten — da er keine Beweise vorgebracht hat, muß man annehmen, daß er keine Beweise besaß — gegen die Diphtheritis besitzen die Naturärzte eine Behandlung von ausgezeichnetem Heilerfolg — der Entschlafne besitzt ein volles Anrecht darauf, daß wir ihn durch Worte dankbarer Erinnerung ehren — es traten Persönlichkeiten auf, die zum Klagen nicht den geringsten Grund besaßen''. In Leipzig kann man sogar schon auf der Straße hören: ''Nee, so ’ne Frechheet zu besitzen!''
Ein Recht auf eine Sache kann gewiß unter Umständen als eine Art wertvollen Besitztums aufgefaßt werden. Dasselbe gilt von Kenntnissen und Fertigkeiten. Aber das meinen doch die gar nicht, die gedankenlos so etwas hinschreiben, wie daß ''der Entschlafne (!) ein Anrecht auf dankbare Erinnerung besitze''. ''Haben'' kann auch ein Entschlafner noch alles mögliche, ''besitzen'' kann er schlechterdings nichts mehr. Aber auch der Lebende kann alle die andern schönen Dinge, wie Begeisterung, Streben, Interesse, Verständnis, Vertrauen, Kühnheit, „Frechheet," wohl ''haben'', aber nicht ''besitzen'', ''Güte haben'' ist ja nur eine verbreiternde Umschreibung von ''gut sein, Ähnlichkeit haben'' eine Umschreibung von ''ähnlich sein''. Das sind aber Eigenschaften, keine Besitztümer.
Vollends lächerlich ist es, wenn Eigenschaften oder Zustände, die einen Schaden oder Mangel bilden, als Besitztümer bezeichnet werden. Und doch wird auch geschrieben: ''das Leiden, das er besaß, war eine Blasenfistel — beim Verhör stellte sich heraus, daß er eine tiefe Wunde am Jochbein sowie eine Schußwunde oberhalb der Herzgegend besaß''. Ja sogar Schulden werden als Besitztum hingestellt: ''das Reich und die Einzelstaaten besitzen gegenwärtig etwas über zehn Milliarden Staatsschulden''. Nettes Besitztum!
Aber auch das bloße Dasein, Vorhandensein, Bestehen einer Sache an irgend einem Orte, in einem bestimmten $Seite 396$ örtlichen Umkreis oder sonstigen Bereich läßt sich wohl mit ''haben'' ausdrücken, aber nicht mit ''besitzen''. ''In Leipzig sind sechs Bahnhöfe'', oder: ''in Leipzig gibt es sechs Bahnhöfe'' — dafür kann man auch sagen: ''Leipzig hat sechs Bahnhöfe''. Aber zu schreiben: ''Leipzig besitzt sechs Bahnhöfe'', ist Unsinn. ''Leipzig besitzt eine Anzahl Waldungen, Rittergüter, auch öffentliche Gebäude'', aber seine sechs Bahnhöfe ''hat'' es nur. Ebenso verhält sichs in folgenden Sätzen: ''Mecklenburg besitzt bekanntlich noch eine ständische Vertretung — diese Richtung besaß in Berlin eifrige Anhänger — die englischen Universitäten besitzen keine pädagogischen Seminare — die Neue Züricher Zeitung besitzt einen Berichterstatter — die Fabrik kann nicht den Anspruch erheben, ein besonders ausgewähltes Arbeitermaterial zu besitzen — die katholische Kirche besitzt Segensformeln''. Auf die Spitze getrieben erscheint der Unsinn, wenn die Angabe des Ortes wegfällt und nur gesagt werden soll, daß eine Sache überhaupt dasei. Anstatt: ''es ist das die älteste Nachricht, die es hierüber gibt'' — kann man auch sagen: ''es ist das die älteste Nachricht, die wir hierüber haben, wir, nämlich alle, die sich mit der Sache beschäftigen''. Welch törichtes Gespreiz aber, dafür zu schreiben: ''es ist das die älteste Nachricht, die wir darüber besitzen — wir besitzen zwei Bücher, die sich in größerer und geringerer Ausdehnung mit Meißner beschäftigen — Weltrichs Buch ist die beste wissenschaftliche Biographie Schillers, die wir besitzen''.
Die Neigung, ''besitzen'' zu schreiben, wo ''haben'' gemeint ist, ist freilich nicht von heute und gestern, sie findet sich schon im achtzehnten Jahrhundert. Man denke nur an die Worte des Schülers im Faust:
''Denn was man schwarz auf weiß besitzt,''
''Kann man getrost nach Hause tragen,''
oder an den Goethischen Spruch:
''Wer Wissenschaft und Kunst besitzt,''
''Hat auch Religion;''
''Wer jene beiden nicht besitzt,''
''Der habe Religion.''
$Seite 397$ Sieht man sich aber die Stellen, wo so geschrieben ist, näher an, so sieht man, daß es meist mit Absicht geschehen ist, weil eben die Sache, um die sichs handelt, als eine Art von Besitztum hingestellt werden soll, oder es ist der Abwechslung, des Reims, des Rhythmus wegen geschehen. //* Anders in „Künstlers Erdewallen," wo es von dem Kunstschatz des Reichen heißt: ''Und er besitzt dich nicht, er hat dich nur.''// Zur gedankenlosen Mode ist es erst in unsrer Zeit ausgeartet. Nun hat es aber auch so um sich gegriffen, daß man auf alles gefaßt sein muß. Es ist gar nicht undenkbar, daß wir noch dahin kommen, daß einer auch ''Recht oder Unrecht, Glück oder Unglück besitzt, Zeit zu einer Arbeit, Luft zu einer Reise besitzt, Hunger oder Durst besitzt, schlechte Laune besitzt, das Scharlachfieber besitzt, einen Floh besitzt'' usw.
Aus Achtung vor der Muttersprache und ihren reichen Mitteln gerade für die Wortbildung sollte man, wenn irgend möglich, auch vermeiden, in demselben Worte deutsches und fremdes Sprachgut zu einem unnatürlichen Bunde zu vereinen. Das soll sich selbstverständlich nicht gegen eingebürgerte, besonders technische Begriffe kehren, wie ''Literaturgeschichte, Ober-, Untergymnasium'', aber wohl gegen vermeidliche, wie ''Glanzperiode'' statt ''Glanzzeit'', ''Blüteepoche'' statt ''Blütezeit'', ''Grenzlinie'' statt ''Grenze'', ''Entwicklungsstadium'' statt ''-stufe'', ''Detailverkauf'' statt ''Kleinverkauf'', ''gelbgantiert'' u. a., und ebenso gegen deutsche Endungen an fremden und fremde an deutschen Worten. Also weg mit ''kompromißlich'', ''renaissancelich'' und dem allerneusten ''interdeutsch'' und ''Interdeutschtum'' sowie anderseits mit ''Michelangelesker'' statt ''Michelangeloscher Auffassung'', mit ''Don Quijotesker'' statt ''Don Quijotischer Gestalt'', mit ''Blumist'' statt ''Blumenliebhaber'' und ''Kursist'' statt ''Teilnehmer'' (''an einem Kursus''), allerneust sogar ''Oberkursist''! Ähnliche Zwitter sind z. B. ''alttestamentarische'' (statt ''alttestamentliche'') Erzählungen und in einer Zeitung ''dreinationalig'', ja sogar ''präsidialwegen''. Vollberechtigt sind natürlich Ableitungen von fremden Eigennamen, wie denn auch deren Endlaute dann je nach deutschem Bedürfnis stumm bleiben oder nicht: ''die Bordeauxer'' (''Bordoer''), ''die Nanteser'' (''Nangteser'') ''Verhältnisse''. Auch gegen Ableitungen wie ''kulturlich'' (statt ''kulturell'') und ''formlich'' (statt ''formell'') ist nichts ein-zuwenden. +
Noch weniger als ''von'' neben ''wegen'' ist ''um'' neben dem Dativ ''wegen'' oder neben dem ''Seite, Rücksicht'' bedeutenden ''halben'' und ''halber'' am Platze; und die z. B. ''um des Friedens halber'' u. ä. schreiben, dürfen sich nicht auf vereinzelte solche Fügungen bei Klassikern berufen, wie etwa ''um deines Lebens wegen'' bei Lessing oder ''um des Sinnes halben'' bei Goethe. Ebensowenig durfte E. T. A. Hoffmann schreiben: ''Ich kann die Musik um des allen'' [statt ''um das alles''] ''nur lieben''. Nur ungewohnt dagegen, weil nur noch selten gebraucht, ist ''durch -willen'', wie z. B. Uhland sagt: ''durch meinetwillen'', oder ''willen allein, ihrer selbst willen'' (Rosegger), oder: ''die Sache, derentwillen ich hergekommen bin'' (Meißner). Brauch und Rhythmus hat J. G. Perkonig (DAZ. 27) gegen sich mit der Stellung: ''umwillen seines Schmerzes''. +